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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die großen Uuilstausstellungeii des Jahres ^89?

als die Führer der belgischen Plastik, sondern die dritte Gruppe, die Natura¬
listen, an deren Spitze Jules Lagae und Meuuicr steheu. Lagaes Bildwerk
"Die Sühne," zwei halbnackte Greise, fleischlose, jammervoll anzuschauende
Gerippe, die. von einer unbekannten Schuld gedrückt, gefesselt nebeneinander
Herwanken, war bereits in München und Berlin zu sehen, ehe es uach Dresden
kam, und hier wird es seine dauernde Stelle behalten, weil man diesen Gipfel
des Naturalismus trotz der durchaus skizzenhaften Behandlung der Figuren
für würdig erachtet but, der königlichen Sammlung im Albertinnm einverleibt
zu werden. Dieselbe Auszeichnung ist einem kolossalen Hochrelief von Meuuier
widerfahren, das die Industrie durch die Gestalt mehrerer Hochofenarbeiter
oder Schmiede shmbolisiren will. Mennier bewegt sich nämlich mit seiner
Kunst fast ausschließlich unter den Arbeitern des großen Bcrgwertbezirks im
Becken von Charleroi, und er bemüht sich feit Jahren, in zahllosen großen
und kleinen Gips- und Brouzefigureu, in Ölbildern, Aquarellen, Pastellen und
andern Zeichnungen das Los dieser Armen und Elenden, dieser "Enterbten des
Glücks" zu schildern. In Dresden hat man ihm einen besondern Saal ein¬
geräumt, der an siebzig solcher Schöpfungen enthält: Bergleute, Puddler,
Schmiede, Minenarbeiter, Kohlenzieher. Glasbläser, seltner Feldarbeiter, zum
größten Teile als Einzelfiguren, zum kleinern zu gemeinsamem Tagewerke ver¬
bunden. Bei den meisten dieser kleinen Bronzefignren ist nur der Kopf sorg¬
samer durchgeführt, sozusagen herauspolirt. Körper, Extremitäten, Kleidungs-
stücke siud mit Absicht uur roh skizzirt, bisweilen nnr angedeutet. Was uns
aber die Köpfe zu sagen habe", ist Stumpfsinn, Gleichgiltigkeit, Unzufriedenheit,
Unmut, Erbitterung, alles fast bis zur Grimasse, bis zur Fratze gesteigert.
Die Kunst soll und darf gewiß nicht an den Nachtseiten des menschlichen
Lebens, an Schuld, Elend, Mühsal und hartem Frohndienst vorübergehen.
Wenn sie aber aus solchen Schilderungen, die noch dazu sachliche und künst¬
lerische Übertreibungen enthalten, ein Gewerbe macht, erniedrigt sie sich zur
Teudenzmacherei und hört auf. Kunst zu sein.

Die höchste Steigerung hat diese rohe Art zu skizziren, die der Tod jeder
wahren Plastik ist, dnrch den Franzosen Robim erreicht. Er arbeitet an einem
Denkmal für Viktor Hugo, einer Aufgabe, zu der übrigens seine bombastische
Art vortrefflich paßt, und als Proben davon hat er einen Kopf des Dichters
und eine Verkörperung der innern Stimme(!), vermutlich als Sockelsigur. aus¬
gestellt. Beide Werke machen den Eindruck von roh behauenen Marmor¬
blöcken, die noch nicht über die erste Anlage gediehen sind, etwa wie die Köpfe
von Michelangelos Medieeerdenkmälern oder wie seine Gruppe der Grablegung
Christi im Dome zu Florenz oder gewisse Madonnen, die er aus Verdruß
unvollendet gelassen hat, weil er sich bei der Marmorarbeit verhauen hatte.
Die Werke Nodins sind aber nicht Marmorarbeiten, sondern Gipsabgüsse, die
schon von vornherein ans das Fragmentarische berechnet waren, weil das Un-


Die großen Uuilstausstellungeii des Jahres ^89?

als die Führer der belgischen Plastik, sondern die dritte Gruppe, die Natura¬
listen, an deren Spitze Jules Lagae und Meuuicr steheu. Lagaes Bildwerk
„Die Sühne," zwei halbnackte Greise, fleischlose, jammervoll anzuschauende
Gerippe, die. von einer unbekannten Schuld gedrückt, gefesselt nebeneinander
Herwanken, war bereits in München und Berlin zu sehen, ehe es uach Dresden
kam, und hier wird es seine dauernde Stelle behalten, weil man diesen Gipfel
des Naturalismus trotz der durchaus skizzenhaften Behandlung der Figuren
für würdig erachtet but, der königlichen Sammlung im Albertinnm einverleibt
zu werden. Dieselbe Auszeichnung ist einem kolossalen Hochrelief von Meuuier
widerfahren, das die Industrie durch die Gestalt mehrerer Hochofenarbeiter
oder Schmiede shmbolisiren will. Mennier bewegt sich nämlich mit seiner
Kunst fast ausschließlich unter den Arbeitern des großen Bcrgwertbezirks im
Becken von Charleroi, und er bemüht sich feit Jahren, in zahllosen großen
und kleinen Gips- und Brouzefigureu, in Ölbildern, Aquarellen, Pastellen und
andern Zeichnungen das Los dieser Armen und Elenden, dieser „Enterbten des
Glücks" zu schildern. In Dresden hat man ihm einen besondern Saal ein¬
geräumt, der an siebzig solcher Schöpfungen enthält: Bergleute, Puddler,
Schmiede, Minenarbeiter, Kohlenzieher. Glasbläser, seltner Feldarbeiter, zum
größten Teile als Einzelfiguren, zum kleinern zu gemeinsamem Tagewerke ver¬
bunden. Bei den meisten dieser kleinen Bronzefignren ist nur der Kopf sorg¬
samer durchgeführt, sozusagen herauspolirt. Körper, Extremitäten, Kleidungs-
stücke siud mit Absicht uur roh skizzirt, bisweilen nnr angedeutet. Was uns
aber die Köpfe zu sagen habe», ist Stumpfsinn, Gleichgiltigkeit, Unzufriedenheit,
Unmut, Erbitterung, alles fast bis zur Grimasse, bis zur Fratze gesteigert.
Die Kunst soll und darf gewiß nicht an den Nachtseiten des menschlichen
Lebens, an Schuld, Elend, Mühsal und hartem Frohndienst vorübergehen.
Wenn sie aber aus solchen Schilderungen, die noch dazu sachliche und künst¬
lerische Übertreibungen enthalten, ein Gewerbe macht, erniedrigt sie sich zur
Teudenzmacherei und hört auf. Kunst zu sein.

Die höchste Steigerung hat diese rohe Art zu skizziren, die der Tod jeder
wahren Plastik ist, dnrch den Franzosen Robim erreicht. Er arbeitet an einem
Denkmal für Viktor Hugo, einer Aufgabe, zu der übrigens seine bombastische
Art vortrefflich paßt, und als Proben davon hat er einen Kopf des Dichters
und eine Verkörperung der innern Stimme(!), vermutlich als Sockelsigur. aus¬
gestellt. Beide Werke machen den Eindruck von roh behauenen Marmor¬
blöcken, die noch nicht über die erste Anlage gediehen sind, etwa wie die Köpfe
von Michelangelos Medieeerdenkmälern oder wie seine Gruppe der Grablegung
Christi im Dome zu Florenz oder gewisse Madonnen, die er aus Verdruß
unvollendet gelassen hat, weil er sich bei der Marmorarbeit verhauen hatte.
Die Werke Nodins sind aber nicht Marmorarbeiten, sondern Gipsabgüsse, die
schon von vornherein ans das Fragmentarische berechnet waren, weil das Un-


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[0237] Die großen Uuilstausstellungeii des Jahres ^89? als die Führer der belgischen Plastik, sondern die dritte Gruppe, die Natura¬ listen, an deren Spitze Jules Lagae und Meuuicr steheu. Lagaes Bildwerk „Die Sühne," zwei halbnackte Greise, fleischlose, jammervoll anzuschauende Gerippe, die. von einer unbekannten Schuld gedrückt, gefesselt nebeneinander Herwanken, war bereits in München und Berlin zu sehen, ehe es uach Dresden kam, und hier wird es seine dauernde Stelle behalten, weil man diesen Gipfel des Naturalismus trotz der durchaus skizzenhaften Behandlung der Figuren für würdig erachtet but, der königlichen Sammlung im Albertinnm einverleibt zu werden. Dieselbe Auszeichnung ist einem kolossalen Hochrelief von Meuuier widerfahren, das die Industrie durch die Gestalt mehrerer Hochofenarbeiter oder Schmiede shmbolisiren will. Mennier bewegt sich nämlich mit seiner Kunst fast ausschließlich unter den Arbeitern des großen Bcrgwertbezirks im Becken von Charleroi, und er bemüht sich feit Jahren, in zahllosen großen und kleinen Gips- und Brouzefigureu, in Ölbildern, Aquarellen, Pastellen und andern Zeichnungen das Los dieser Armen und Elenden, dieser „Enterbten des Glücks" zu schildern. In Dresden hat man ihm einen besondern Saal ein¬ geräumt, der an siebzig solcher Schöpfungen enthält: Bergleute, Puddler, Schmiede, Minenarbeiter, Kohlenzieher. Glasbläser, seltner Feldarbeiter, zum größten Teile als Einzelfiguren, zum kleinern zu gemeinsamem Tagewerke ver¬ bunden. Bei den meisten dieser kleinen Bronzefignren ist nur der Kopf sorg¬ samer durchgeführt, sozusagen herauspolirt. Körper, Extremitäten, Kleidungs- stücke siud mit Absicht uur roh skizzirt, bisweilen nnr angedeutet. Was uns aber die Köpfe zu sagen habe», ist Stumpfsinn, Gleichgiltigkeit, Unzufriedenheit, Unmut, Erbitterung, alles fast bis zur Grimasse, bis zur Fratze gesteigert. Die Kunst soll und darf gewiß nicht an den Nachtseiten des menschlichen Lebens, an Schuld, Elend, Mühsal und hartem Frohndienst vorübergehen. Wenn sie aber aus solchen Schilderungen, die noch dazu sachliche und künst¬ lerische Übertreibungen enthalten, ein Gewerbe macht, erniedrigt sie sich zur Teudenzmacherei und hört auf. Kunst zu sein. Die höchste Steigerung hat diese rohe Art zu skizziren, die der Tod jeder wahren Plastik ist, dnrch den Franzosen Robim erreicht. Er arbeitet an einem Denkmal für Viktor Hugo, einer Aufgabe, zu der übrigens seine bombastische Art vortrefflich paßt, und als Proben davon hat er einen Kopf des Dichters und eine Verkörperung der innern Stimme(!), vermutlich als Sockelsigur. aus¬ gestellt. Beide Werke machen den Eindruck von roh behauenen Marmor¬ blöcken, die noch nicht über die erste Anlage gediehen sind, etwa wie die Köpfe von Michelangelos Medieeerdenkmälern oder wie seine Gruppe der Grablegung Christi im Dome zu Florenz oder gewisse Madonnen, die er aus Verdruß unvollendet gelassen hat, weil er sich bei der Marmorarbeit verhauen hatte. Die Werke Nodins sind aber nicht Marmorarbeiten, sondern Gipsabgüsse, die schon von vornherein ans das Fragmentarische berechnet waren, weil das Un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/237>, abgerufen am 29.06.2024.