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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die große" Kunstausstellungen des Jahres l^9?

Es ist noch nicht lange her, daß die Wortführer der "neuen Kunst" die
Parole ausgegeben hatten, daß der Inhalt eines Kunstwerks nichts bedeute,
daß die Form, aber nur die neue, ungewöhnliche alles sei. Schneller, als sie
geahnt haben, ist der Rückschlag eingetreten. Die neue Technik ist so rasch das
Gemeingut aller ihrer Anhänger geworden, vermutlich weil sie sich sehr leicht
erlernen ließ, daß sie heute bereits unausstehlich langweilig geworden ist, und
man bleibt schon wieder gern vor Bildern stehen, die uns, wenn auch von
jedem koloristischen Reiz entblößt, wenigstens etwas zu denken und zu sagen
geben, wie das Triplhchon des Einsiedlers von Worpswcde.

Es ist wenigstens ein Gewinn, wenn auch nnr ein kleiner, den wir aus
den deutschen Abteilungen der Dresdner Ausstellung ziehen. Was bliebe aber
übrig, wenn wir die Sonderausstellungen der fremden Künstler, die jetzt als
die Stützen der modernen Kunst gepriesen werden, auf ihren geistigen Gehalt
prüfen wollten? Aus dem beinahe vollständigen Material der Dresdner Aus¬
stellung greifen wir nur zwei Proben heraus: den belgischen Bildhauer Kon¬
stantin Meunier und den französischen Auguste Robim.

Die belgische Plastik hat sich etwa seit einem Jahrzehnt auf den euro¬
päischen Ausstellungen in ungewöhnlichem Maße hervorgethan, bei weitem
mehr als die Malerei, die als willfährige Schlcppeutrngerin der Franzosen
alle Narrheiten mitmacht, die in Paris auftauchen und jedesmal bald wieder
verschwinden. Die Bildhauer Belgiens lassen sich im großen und ganzen
in drei Gruppen teilen, wobei wir die alten Begriffe beibehalten, weil sie ver¬
ständlich sind, wenn sie sich anch nicht vollkommen mit der Sache decken. Die
eine Gruppe arbeitet im Stile der Überlieferung, im Anschluß an die Antike,
oft auch im Anschluß an die Gotik, und ihre Vertreter befriedigen vorzugsweise
das Bedürfnis der Kirchen und sonstigen Andachtsstätten. Die zweite Gruppe
sucht tiefe und große Gedanken in engem Anschluß an die Natur, an die wirk¬
liche Erscheinung zu verkörpern, und da ihre Mitglieder gelernt haben, den
menschlichen Körper mit großer Virtuosität zu beherrschen und den Menschen
ihrer Umgebung bis tief in die Seele zu sehen, bilden sie Einzelfiguren und
Gruppen, in denen sie die kühnsten und gewaltsamsten Bewegungen mit scheinbar
spielender Leichtigkeit zur Anschauung bringen, oder sie schaffen in Porträtbüsten
täuschende Abbilder wirklichen Lebens. Die bedeutendsten Vertreter dieser Richtung
sind zur Zeit van der Stappen und Jules Lambeaux. Lambeciux ist freilich,
wie mau sich auf der Dresdner Ausstellung überzeugen konnte, mehr ein Vir¬
tuose der Form, dem die gewagteste Stellung und Bewegung gerade die liebste
ist. und der mit lustiger Keckheit den strengen Gesetzen der Plastik ein Schnippchen
schlägt. Dagegen ist van der Stappen ein ernster Künstler, der die Wucht
und Würde des monumentalen Stils fast immer zu erreichen weiß und da¬
neben ein trefflicher Porträtbildner ist. Aber nicht diese Künstler, in denen noch
etwas von dem edeln Feuer der Wappers, Gallait und de Bivfve lebt, gelten


Die große» Kunstausstellungen des Jahres l^9?

Es ist noch nicht lange her, daß die Wortführer der „neuen Kunst" die
Parole ausgegeben hatten, daß der Inhalt eines Kunstwerks nichts bedeute,
daß die Form, aber nur die neue, ungewöhnliche alles sei. Schneller, als sie
geahnt haben, ist der Rückschlag eingetreten. Die neue Technik ist so rasch das
Gemeingut aller ihrer Anhänger geworden, vermutlich weil sie sich sehr leicht
erlernen ließ, daß sie heute bereits unausstehlich langweilig geworden ist, und
man bleibt schon wieder gern vor Bildern stehen, die uns, wenn auch von
jedem koloristischen Reiz entblößt, wenigstens etwas zu denken und zu sagen
geben, wie das Triplhchon des Einsiedlers von Worpswcde.

Es ist wenigstens ein Gewinn, wenn auch nnr ein kleiner, den wir aus
den deutschen Abteilungen der Dresdner Ausstellung ziehen. Was bliebe aber
übrig, wenn wir die Sonderausstellungen der fremden Künstler, die jetzt als
die Stützen der modernen Kunst gepriesen werden, auf ihren geistigen Gehalt
prüfen wollten? Aus dem beinahe vollständigen Material der Dresdner Aus¬
stellung greifen wir nur zwei Proben heraus: den belgischen Bildhauer Kon¬
stantin Meunier und den französischen Auguste Robim.

Die belgische Plastik hat sich etwa seit einem Jahrzehnt auf den euro¬
päischen Ausstellungen in ungewöhnlichem Maße hervorgethan, bei weitem
mehr als die Malerei, die als willfährige Schlcppeutrngerin der Franzosen
alle Narrheiten mitmacht, die in Paris auftauchen und jedesmal bald wieder
verschwinden. Die Bildhauer Belgiens lassen sich im großen und ganzen
in drei Gruppen teilen, wobei wir die alten Begriffe beibehalten, weil sie ver¬
ständlich sind, wenn sie sich anch nicht vollkommen mit der Sache decken. Die
eine Gruppe arbeitet im Stile der Überlieferung, im Anschluß an die Antike,
oft auch im Anschluß an die Gotik, und ihre Vertreter befriedigen vorzugsweise
das Bedürfnis der Kirchen und sonstigen Andachtsstätten. Die zweite Gruppe
sucht tiefe und große Gedanken in engem Anschluß an die Natur, an die wirk¬
liche Erscheinung zu verkörpern, und da ihre Mitglieder gelernt haben, den
menschlichen Körper mit großer Virtuosität zu beherrschen und den Menschen
ihrer Umgebung bis tief in die Seele zu sehen, bilden sie Einzelfiguren und
Gruppen, in denen sie die kühnsten und gewaltsamsten Bewegungen mit scheinbar
spielender Leichtigkeit zur Anschauung bringen, oder sie schaffen in Porträtbüsten
täuschende Abbilder wirklichen Lebens. Die bedeutendsten Vertreter dieser Richtung
sind zur Zeit van der Stappen und Jules Lambeaux. Lambeciux ist freilich,
wie mau sich auf der Dresdner Ausstellung überzeugen konnte, mehr ein Vir¬
tuose der Form, dem die gewagteste Stellung und Bewegung gerade die liebste
ist. und der mit lustiger Keckheit den strengen Gesetzen der Plastik ein Schnippchen
schlägt. Dagegen ist van der Stappen ein ernster Künstler, der die Wucht
und Würde des monumentalen Stils fast immer zu erreichen weiß und da¬
neben ein trefflicher Porträtbildner ist. Aber nicht diese Künstler, in denen noch
etwas von dem edeln Feuer der Wappers, Gallait und de Bivfve lebt, gelten


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[0234] Die große» Kunstausstellungen des Jahres l^9? Es ist noch nicht lange her, daß die Wortführer der „neuen Kunst" die Parole ausgegeben hatten, daß der Inhalt eines Kunstwerks nichts bedeute, daß die Form, aber nur die neue, ungewöhnliche alles sei. Schneller, als sie geahnt haben, ist der Rückschlag eingetreten. Die neue Technik ist so rasch das Gemeingut aller ihrer Anhänger geworden, vermutlich weil sie sich sehr leicht erlernen ließ, daß sie heute bereits unausstehlich langweilig geworden ist, und man bleibt schon wieder gern vor Bildern stehen, die uns, wenn auch von jedem koloristischen Reiz entblößt, wenigstens etwas zu denken und zu sagen geben, wie das Triplhchon des Einsiedlers von Worpswcde. Es ist wenigstens ein Gewinn, wenn auch nnr ein kleiner, den wir aus den deutschen Abteilungen der Dresdner Ausstellung ziehen. Was bliebe aber übrig, wenn wir die Sonderausstellungen der fremden Künstler, die jetzt als die Stützen der modernen Kunst gepriesen werden, auf ihren geistigen Gehalt prüfen wollten? Aus dem beinahe vollständigen Material der Dresdner Aus¬ stellung greifen wir nur zwei Proben heraus: den belgischen Bildhauer Kon¬ stantin Meunier und den französischen Auguste Robim. Die belgische Plastik hat sich etwa seit einem Jahrzehnt auf den euro¬ päischen Ausstellungen in ungewöhnlichem Maße hervorgethan, bei weitem mehr als die Malerei, die als willfährige Schlcppeutrngerin der Franzosen alle Narrheiten mitmacht, die in Paris auftauchen und jedesmal bald wieder verschwinden. Die Bildhauer Belgiens lassen sich im großen und ganzen in drei Gruppen teilen, wobei wir die alten Begriffe beibehalten, weil sie ver¬ ständlich sind, wenn sie sich anch nicht vollkommen mit der Sache decken. Die eine Gruppe arbeitet im Stile der Überlieferung, im Anschluß an die Antike, oft auch im Anschluß an die Gotik, und ihre Vertreter befriedigen vorzugsweise das Bedürfnis der Kirchen und sonstigen Andachtsstätten. Die zweite Gruppe sucht tiefe und große Gedanken in engem Anschluß an die Natur, an die wirk¬ liche Erscheinung zu verkörpern, und da ihre Mitglieder gelernt haben, den menschlichen Körper mit großer Virtuosität zu beherrschen und den Menschen ihrer Umgebung bis tief in die Seele zu sehen, bilden sie Einzelfiguren und Gruppen, in denen sie die kühnsten und gewaltsamsten Bewegungen mit scheinbar spielender Leichtigkeit zur Anschauung bringen, oder sie schaffen in Porträtbüsten täuschende Abbilder wirklichen Lebens. Die bedeutendsten Vertreter dieser Richtung sind zur Zeit van der Stappen und Jules Lambeaux. Lambeciux ist freilich, wie mau sich auf der Dresdner Ausstellung überzeugen konnte, mehr ein Vir¬ tuose der Form, dem die gewagteste Stellung und Bewegung gerade die liebste ist. und der mit lustiger Keckheit den strengen Gesetzen der Plastik ein Schnippchen schlägt. Dagegen ist van der Stappen ein ernster Künstler, der die Wucht und Würde des monumentalen Stils fast immer zu erreichen weiß und da¬ neben ein trefflicher Porträtbildner ist. Aber nicht diese Künstler, in denen noch etwas von dem edeln Feuer der Wappers, Gallait und de Bivfve lebt, gelten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/234>, abgerufen am 29.06.2024.