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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Funktionen und die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers zu teilen, decken sich
mit denen, die das "Reichsministerium" in einen Ausschuß der jeweiligen
Reichstngsmehrheit verwandeln möchten. Die Bestrebungen können nur auf
Kosten der verfassungsmäßigen Rechte des Bundesrath Erfolg haben, und daß
man das im Bundesrat weiß und dagegen auf der Hut ist, beweise" die Ver¬
handlungen, die zu der preußischen Erklärung vom 5. April 1884 geführt
und sich daran geknüpft haben (vgl. Kohl, Bismarcks Reden. Band 10
S. 220--222). In dieser Hinsicht also ist die Stellung des Reichskanzlers
unverändert geblieben und gesichert, und die größere "Aktionsfähigkeit" des
Reichs hat im Vergleich zu Preußen nicht abgenommen. Wie kommt es nun, daß
es trotzdem -- darin sind ja die Klagen einmütig -- zu keiner rechten Über¬
einstimmung mehr kommen will? Da die Einrichtungen nicht die Schuld tragen,
so müssen wohl die Menschen "fehlen." Jeder Teil walzt natürlich die Schuld
auf die andern. Wie es damit in Wirklichkeit steht, ist eine weitschichtige
Untersuchung, die über den Rahmen dieser Erörterungen hinausgeht, aber ein
Stück menschlicher Schuld kann auf dem durch sie gewonnenen Boden festge¬
stellt werden. Und das ist auch nötig, denn dieses Stück wird fast ausnahms¬
los von den streitenden Teilen übersehen oder verschwiegen. Es ist die That¬
sache, daß die große Mehrzahl des Volks, der Gebildeten namentlich, die
Politischen Vorkommnisse nur mit dem Auge des Zuschauers oder des Richters
begleitet und kein Gefühl dafür hat, daß sie selbst mitverantwortlich ist. Denn
der Satz, daß jedes Volk die Regierung hat, die es verdient, hat ja nur be¬
schränkte Giltigkeit, aber ganz unbeschränkt gilt, daß das deutsche Volk den
Reichstag hat, den es verdient. Das Reichstagswahlrecht ist nicht etwa auf¬
gedrängt, sondern herbeigewünscht und mit Freude begrüßt worden und würde
nicht ohne die größte Opposition beseitigt werden können: das allgemeine,
gleiche und direkte Wahlrecht kann vielleicht überboten, aber kaum unterboten
werden. Schließlich weichen auch bei allen Wahlrechten, die nicht auf Privi¬
legien aufgebaut sind, die Wirkungen wenig von einander ab; die Ausnutzung
'se das, was die Verschiedenheit des Ergebnisses bestimmt. Wer von uns,
außerhalb des Zentrums und der Sozialdemokratie, macht sich das klar, und
was für Pflichten daraus folgen? Wie viele versäumen schon die leichteste
dieser Pflichten, die, überhaupt zu wählen! Und doch heißt es auch Wahl-
umnn sein, im politischen Sinn, und als solcher nicht nur in der Wahlperiode,
sondern allezeit zu werben und zu wirken. Nur dadurch thut jeder der Ver¬
antwortlichkeit Genüge, die auf ihm liegt.

Wir klagen, daß wir keinen Bismarck mehr haben; mit Recht, insofern
"is wir ihn behalten haben könnten, aber mit Unrecht, insofern als wir uns
selbst anklagen sollten, und als wir nicht bemüht sind, an der Ausfüllung
der Lücke mitzuarbeiten. Nach Vermögen natürlich und mit dem, was uns
geblieben ist. Ist uns doch das Verständnis seiner geistigen und politischen


Grenzboten IV 1897 ?^

Funktionen und die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers zu teilen, decken sich
mit denen, die das „Reichsministerium" in einen Ausschuß der jeweiligen
Reichstngsmehrheit verwandeln möchten. Die Bestrebungen können nur auf
Kosten der verfassungsmäßigen Rechte des Bundesrath Erfolg haben, und daß
man das im Bundesrat weiß und dagegen auf der Hut ist, beweise» die Ver¬
handlungen, die zu der preußischen Erklärung vom 5. April 1884 geführt
und sich daran geknüpft haben (vgl. Kohl, Bismarcks Reden. Band 10
S. 220—222). In dieser Hinsicht also ist die Stellung des Reichskanzlers
unverändert geblieben und gesichert, und die größere „Aktionsfähigkeit" des
Reichs hat im Vergleich zu Preußen nicht abgenommen. Wie kommt es nun, daß
es trotzdem — darin sind ja die Klagen einmütig — zu keiner rechten Über¬
einstimmung mehr kommen will? Da die Einrichtungen nicht die Schuld tragen,
so müssen wohl die Menschen „fehlen." Jeder Teil walzt natürlich die Schuld
auf die andern. Wie es damit in Wirklichkeit steht, ist eine weitschichtige
Untersuchung, die über den Rahmen dieser Erörterungen hinausgeht, aber ein
Stück menschlicher Schuld kann auf dem durch sie gewonnenen Boden festge¬
stellt werden. Und das ist auch nötig, denn dieses Stück wird fast ausnahms¬
los von den streitenden Teilen übersehen oder verschwiegen. Es ist die That¬
sache, daß die große Mehrzahl des Volks, der Gebildeten namentlich, die
Politischen Vorkommnisse nur mit dem Auge des Zuschauers oder des Richters
begleitet und kein Gefühl dafür hat, daß sie selbst mitverantwortlich ist. Denn
der Satz, daß jedes Volk die Regierung hat, die es verdient, hat ja nur be¬
schränkte Giltigkeit, aber ganz unbeschränkt gilt, daß das deutsche Volk den
Reichstag hat, den es verdient. Das Reichstagswahlrecht ist nicht etwa auf¬
gedrängt, sondern herbeigewünscht und mit Freude begrüßt worden und würde
nicht ohne die größte Opposition beseitigt werden können: das allgemeine,
gleiche und direkte Wahlrecht kann vielleicht überboten, aber kaum unterboten
werden. Schließlich weichen auch bei allen Wahlrechten, die nicht auf Privi¬
legien aufgebaut sind, die Wirkungen wenig von einander ab; die Ausnutzung
'se das, was die Verschiedenheit des Ergebnisses bestimmt. Wer von uns,
außerhalb des Zentrums und der Sozialdemokratie, macht sich das klar, und
was für Pflichten daraus folgen? Wie viele versäumen schon die leichteste
dieser Pflichten, die, überhaupt zu wählen! Und doch heißt es auch Wahl-
umnn sein, im politischen Sinn, und als solcher nicht nur in der Wahlperiode,
sondern allezeit zu werben und zu wirken. Nur dadurch thut jeder der Ver¬
antwortlichkeit Genüge, die auf ihm liegt.

Wir klagen, daß wir keinen Bismarck mehr haben; mit Recht, insofern
"is wir ihn behalten haben könnten, aber mit Unrecht, insofern als wir uns
selbst anklagen sollten, und als wir nicht bemüht sind, an der Ausfüllung
der Lücke mitzuarbeiten. Nach Vermögen natürlich und mit dem, was uns
geblieben ist. Ist uns doch das Verständnis seiner geistigen und politischen


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[0225] Funktionen und die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers zu teilen, decken sich mit denen, die das „Reichsministerium" in einen Ausschuß der jeweiligen Reichstngsmehrheit verwandeln möchten. Die Bestrebungen können nur auf Kosten der verfassungsmäßigen Rechte des Bundesrath Erfolg haben, und daß man das im Bundesrat weiß und dagegen auf der Hut ist, beweise» die Ver¬ handlungen, die zu der preußischen Erklärung vom 5. April 1884 geführt und sich daran geknüpft haben (vgl. Kohl, Bismarcks Reden. Band 10 S. 220—222). In dieser Hinsicht also ist die Stellung des Reichskanzlers unverändert geblieben und gesichert, und die größere „Aktionsfähigkeit" des Reichs hat im Vergleich zu Preußen nicht abgenommen. Wie kommt es nun, daß es trotzdem — darin sind ja die Klagen einmütig — zu keiner rechten Über¬ einstimmung mehr kommen will? Da die Einrichtungen nicht die Schuld tragen, so müssen wohl die Menschen „fehlen." Jeder Teil walzt natürlich die Schuld auf die andern. Wie es damit in Wirklichkeit steht, ist eine weitschichtige Untersuchung, die über den Rahmen dieser Erörterungen hinausgeht, aber ein Stück menschlicher Schuld kann auf dem durch sie gewonnenen Boden festge¬ stellt werden. Und das ist auch nötig, denn dieses Stück wird fast ausnahms¬ los von den streitenden Teilen übersehen oder verschwiegen. Es ist die That¬ sache, daß die große Mehrzahl des Volks, der Gebildeten namentlich, die Politischen Vorkommnisse nur mit dem Auge des Zuschauers oder des Richters begleitet und kein Gefühl dafür hat, daß sie selbst mitverantwortlich ist. Denn der Satz, daß jedes Volk die Regierung hat, die es verdient, hat ja nur be¬ schränkte Giltigkeit, aber ganz unbeschränkt gilt, daß das deutsche Volk den Reichstag hat, den es verdient. Das Reichstagswahlrecht ist nicht etwa auf¬ gedrängt, sondern herbeigewünscht und mit Freude begrüßt worden und würde nicht ohne die größte Opposition beseitigt werden können: das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht kann vielleicht überboten, aber kaum unterboten werden. Schließlich weichen auch bei allen Wahlrechten, die nicht auf Privi¬ legien aufgebaut sind, die Wirkungen wenig von einander ab; die Ausnutzung 'se das, was die Verschiedenheit des Ergebnisses bestimmt. Wer von uns, außerhalb des Zentrums und der Sozialdemokratie, macht sich das klar, und was für Pflichten daraus folgen? Wie viele versäumen schon die leichteste dieser Pflichten, die, überhaupt zu wählen! Und doch heißt es auch Wahl- umnn sein, im politischen Sinn, und als solcher nicht nur in der Wahlperiode, sondern allezeit zu werben und zu wirken. Nur dadurch thut jeder der Ver¬ antwortlichkeit Genüge, die auf ihm liegt. Wir klagen, daß wir keinen Bismarck mehr haben; mit Recht, insofern "is wir ihn behalten haben könnten, aber mit Unrecht, insofern als wir uns selbst anklagen sollten, und als wir nicht bemüht sind, an der Ausfüllung der Lücke mitzuarbeiten. Nach Vermögen natürlich und mit dem, was uns geblieben ist. Ist uns doch das Verständnis seiner geistigen und politischen Grenzboten IV 1897 ?^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/225>, abgerufen am 28.09.2024.