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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Der Reichskanzler und das preußische Ministerium

unter den nichtpreußischen Staatsmännern Herr von Mittnacht eine so hervor¬
ragende Stelle ein, daß man sich wundern muß, ihn noch nicht in die Zeitungs¬
kombinationen hineingezogen zu sehen. Er würde wohl nicht leicht die schwäbische
Temperatur mit der norddeutschen vertauschen, aber die Landsmannschaft an
sich wäre kein Hindernis.

Die ministerielle Oberleitung des Reichs und die in Preußen müssen, wie
dargelegt worden ist, regelmäßig in einer Hand vereinigt sein, aber das, was
sie an Machtmitteln gewähren, ist dem Grade und dem Wesen nach so ver¬
schieden, daß auch der Machtanteil, der aus den Neichsfunktionen erwächst,
genauer bestimmt werden muß; in der bisherigen Darstellung ist er mehr for-
mulirt als auseinandergesetzt worden.

Was die Gesetzgebung anlangt, so hat der Reichskanzler an der Fest¬
stellung des Gesetzesinhalts rechtlich gar keinen Anteil, er hat nur die ver¬
antwortliche Gegenzeichnung bei Errichtung (Ausfertigung) und Bekanntmachung
der Gesetzesurkunde. Juristisch ausgedruckt heißt das: er ist gehalten, darauf
zu sehen, daß in die Gesetzesurkunde kein andrer Inhalt aufgenommen wird
als der zwischen Bundesrat und Reichstag festgestellte, und daß die Formen
der Bekanntmachung beobachtet werden; er hat auch dafür zu sorgen, daß Aus¬
fertigung und Bekanntmachung nicht unterbleiben. Das sind keine Rechte,
sondern Pflichten, freilich nur bedingte Pflichten, insofern nämlich, als sich
der jeweilige Reichskanzler von ihnen dadurch frei machen kann, daß er seine
Entlassung nimmt. Dann kommt es für ihn gar nicht zur rechtlichen Verant¬
wortlichkeit. Wenn sich dann kein Nachfolger findet, der die Pflichten auf sich
nehmen will, so steht verfassungsrechtlich der Neichsvrganismns still, denn die
Neichsexekntive kann ebenfalls nicht mehr arbeiten, weil sie zwar verfassungs-
mäßig vorzugsweise dem Kaiser zusteht, von ihm jedoch nur durch den Reichs¬
kanzler ausgeübt werden kann. Also ein funktiouirender Reichskanzler ist ein
wesentliches Stück des ganzen Rüderwerks; der Kaiser, um diese Seite der
Sache hervorzuheben, kann gar nicht sein eigner Reichskanzler sein, es ist
rechtlich unmöglich. Es ist aber auch politisch unmöglich, wie solgende Er¬
wägung darthut. Die Neichsthätigkeit darf nicht nnr niemals stillstehen,
sondern muß sogar in lebhafter Bewegung erhalten werden. Sie kann sich
much nicht auf die Exekutive beschränken, denn beim Regieren und Verwalter
stellen sich immer wieder neue Bedürfnisse heraus, denen genugzuthun neuen
Gesetzesinhalt verlangt. Da dessen Feststellung übereinstimmende Beschlüsse
des Bundesrath und des Reichstags voraussetzt, so bedarf der Kaiser für diese
Körperschaften eiues Vertreters, um die sachliche Übereinstimmung der Beschlüsse
mit den Exekutivbedürfnissen zu erreichen. Als Vertreter ist der Reichskanzler
gegeben, und nur er, nicht sowohl weil er von Rechts wegen im Bundesrat
den Vorsitz führt, als darum, weil er auch in der Exekutive den Kaiser vertritt
und daher deren Bedürfnisse am besten kennt, am stärksten empfindet. Für ihn


Der Reichskanzler und das preußische Ministerium

unter den nichtpreußischen Staatsmännern Herr von Mittnacht eine so hervor¬
ragende Stelle ein, daß man sich wundern muß, ihn noch nicht in die Zeitungs¬
kombinationen hineingezogen zu sehen. Er würde wohl nicht leicht die schwäbische
Temperatur mit der norddeutschen vertauschen, aber die Landsmannschaft an
sich wäre kein Hindernis.

Die ministerielle Oberleitung des Reichs und die in Preußen müssen, wie
dargelegt worden ist, regelmäßig in einer Hand vereinigt sein, aber das, was
sie an Machtmitteln gewähren, ist dem Grade und dem Wesen nach so ver¬
schieden, daß auch der Machtanteil, der aus den Neichsfunktionen erwächst,
genauer bestimmt werden muß; in der bisherigen Darstellung ist er mehr for-
mulirt als auseinandergesetzt worden.

Was die Gesetzgebung anlangt, so hat der Reichskanzler an der Fest¬
stellung des Gesetzesinhalts rechtlich gar keinen Anteil, er hat nur die ver¬
antwortliche Gegenzeichnung bei Errichtung (Ausfertigung) und Bekanntmachung
der Gesetzesurkunde. Juristisch ausgedruckt heißt das: er ist gehalten, darauf
zu sehen, daß in die Gesetzesurkunde kein andrer Inhalt aufgenommen wird
als der zwischen Bundesrat und Reichstag festgestellte, und daß die Formen
der Bekanntmachung beobachtet werden; er hat auch dafür zu sorgen, daß Aus¬
fertigung und Bekanntmachung nicht unterbleiben. Das sind keine Rechte,
sondern Pflichten, freilich nur bedingte Pflichten, insofern nämlich, als sich
der jeweilige Reichskanzler von ihnen dadurch frei machen kann, daß er seine
Entlassung nimmt. Dann kommt es für ihn gar nicht zur rechtlichen Verant¬
wortlichkeit. Wenn sich dann kein Nachfolger findet, der die Pflichten auf sich
nehmen will, so steht verfassungsrechtlich der Neichsvrganismns still, denn die
Neichsexekntive kann ebenfalls nicht mehr arbeiten, weil sie zwar verfassungs-
mäßig vorzugsweise dem Kaiser zusteht, von ihm jedoch nur durch den Reichs¬
kanzler ausgeübt werden kann. Also ein funktiouirender Reichskanzler ist ein
wesentliches Stück des ganzen Rüderwerks; der Kaiser, um diese Seite der
Sache hervorzuheben, kann gar nicht sein eigner Reichskanzler sein, es ist
rechtlich unmöglich. Es ist aber auch politisch unmöglich, wie solgende Er¬
wägung darthut. Die Neichsthätigkeit darf nicht nnr niemals stillstehen,
sondern muß sogar in lebhafter Bewegung erhalten werden. Sie kann sich
much nicht auf die Exekutive beschränken, denn beim Regieren und Verwalter
stellen sich immer wieder neue Bedürfnisse heraus, denen genugzuthun neuen
Gesetzesinhalt verlangt. Da dessen Feststellung übereinstimmende Beschlüsse
des Bundesrath und des Reichstags voraussetzt, so bedarf der Kaiser für diese
Körperschaften eiues Vertreters, um die sachliche Übereinstimmung der Beschlüsse
mit den Exekutivbedürfnissen zu erreichen. Als Vertreter ist der Reichskanzler
gegeben, und nur er, nicht sowohl weil er von Rechts wegen im Bundesrat
den Vorsitz führt, als darum, weil er auch in der Exekutive den Kaiser vertritt
und daher deren Bedürfnisse am besten kennt, am stärksten empfindet. Für ihn


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[0220] Der Reichskanzler und das preußische Ministerium unter den nichtpreußischen Staatsmännern Herr von Mittnacht eine so hervor¬ ragende Stelle ein, daß man sich wundern muß, ihn noch nicht in die Zeitungs¬ kombinationen hineingezogen zu sehen. Er würde wohl nicht leicht die schwäbische Temperatur mit der norddeutschen vertauschen, aber die Landsmannschaft an sich wäre kein Hindernis. Die ministerielle Oberleitung des Reichs und die in Preußen müssen, wie dargelegt worden ist, regelmäßig in einer Hand vereinigt sein, aber das, was sie an Machtmitteln gewähren, ist dem Grade und dem Wesen nach so ver¬ schieden, daß auch der Machtanteil, der aus den Neichsfunktionen erwächst, genauer bestimmt werden muß; in der bisherigen Darstellung ist er mehr for- mulirt als auseinandergesetzt worden. Was die Gesetzgebung anlangt, so hat der Reichskanzler an der Fest¬ stellung des Gesetzesinhalts rechtlich gar keinen Anteil, er hat nur die ver¬ antwortliche Gegenzeichnung bei Errichtung (Ausfertigung) und Bekanntmachung der Gesetzesurkunde. Juristisch ausgedruckt heißt das: er ist gehalten, darauf zu sehen, daß in die Gesetzesurkunde kein andrer Inhalt aufgenommen wird als der zwischen Bundesrat und Reichstag festgestellte, und daß die Formen der Bekanntmachung beobachtet werden; er hat auch dafür zu sorgen, daß Aus¬ fertigung und Bekanntmachung nicht unterbleiben. Das sind keine Rechte, sondern Pflichten, freilich nur bedingte Pflichten, insofern nämlich, als sich der jeweilige Reichskanzler von ihnen dadurch frei machen kann, daß er seine Entlassung nimmt. Dann kommt es für ihn gar nicht zur rechtlichen Verant¬ wortlichkeit. Wenn sich dann kein Nachfolger findet, der die Pflichten auf sich nehmen will, so steht verfassungsrechtlich der Neichsvrganismns still, denn die Neichsexekntive kann ebenfalls nicht mehr arbeiten, weil sie zwar verfassungs- mäßig vorzugsweise dem Kaiser zusteht, von ihm jedoch nur durch den Reichs¬ kanzler ausgeübt werden kann. Also ein funktiouirender Reichskanzler ist ein wesentliches Stück des ganzen Rüderwerks; der Kaiser, um diese Seite der Sache hervorzuheben, kann gar nicht sein eigner Reichskanzler sein, es ist rechtlich unmöglich. Es ist aber auch politisch unmöglich, wie solgende Er¬ wägung darthut. Die Neichsthätigkeit darf nicht nnr niemals stillstehen, sondern muß sogar in lebhafter Bewegung erhalten werden. Sie kann sich much nicht auf die Exekutive beschränken, denn beim Regieren und Verwalter stellen sich immer wieder neue Bedürfnisse heraus, denen genugzuthun neuen Gesetzesinhalt verlangt. Da dessen Feststellung übereinstimmende Beschlüsse des Bundesrath und des Reichstags voraussetzt, so bedarf der Kaiser für diese Körperschaften eiues Vertreters, um die sachliche Übereinstimmung der Beschlüsse mit den Exekutivbedürfnissen zu erreichen. Als Vertreter ist der Reichskanzler gegeben, und nur er, nicht sowohl weil er von Rechts wegen im Bundesrat den Vorsitz führt, als darum, weil er auch in der Exekutive den Kaiser vertritt und daher deren Bedürfnisse am besten kennt, am stärksten empfindet. Für ihn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/220>, abgerufen am 29.06.2024.