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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Gebrechlichkeit und hohem Alter; Rechtssicherheit und Rechtsschutz walten überall
und über jedem im Reiche, die Wissenschaften weisen herrliche Erfolge auf,
und auch den Künsten wird Pflege und Förderung zu teil. Und dabei doch
so viele, die diese Staatsordnung umstürzen wollen oder doch den Umstürzlern
ihre Stimme geben?

Wenn ich versuche, hier einige Gedanken zur Beantwortung dieser Frage
auszusprechen, so muß ich vorausschicken, daß unter Sozialdemokratie hier
immer nur die Bestrebungen dieser Partei gemeint sind, die auf die Beseitigung
der gegenwärtigen Staatsordnung abzielen; alle übrigen Ziele der Sozialdemo¬
kratie und namentlich ihre Bestrebungen zur Hebung der arbeitenden Klassen
in materieller und gesellschaftlicher Hinsicht werden in diesem Aufsatz in keiner
Weise berührt.

Gewiß giebt es manche Punkte in unserm staatlichen Leben, über die
man eine von der herrschenden Richtung abweichende Meinung habe" kann,
und gewiß werden von der gegenwärtigen Regierung mitunter Maßnahmen
getroffen, über die sich weite Kreise mit Recht beklagen und Unzufriedenheit
empfinden. Aber darin liegt doch kein hinreichender Grund, die gesamte
Staatsordnung zu hassen und auf ihre Beseitigung zu sinnen. Dieser Unzu¬
friedenheit würde man doch dadurch Ausdruck geben können, daß man Männer
in die gesetzgebenden Körperschafte" wählte, die die gegenwärtigen Vertreter der
mißliebigen Regierungsmaßnahmen bekämpfen, aber doch dabei auf dem Boden
der geltenden Staatsordnung stehen. Nein, der Grund des staatsfeindlichen
Wühlens liegt bei vielen Staatsbürgern in andern Umständen. Er ist zum
großen Teil darin zu finden, daß das Volk nicht recht sicher ist, wie es die
Lockungen der sozialdemokratischen Agitatoren beurteilen und sich ihnen gegen¬
über verhalten soll. Ju den 80 bis 86 des Strafgesetzbuchs sind zwar
Unternehmungen gegen die Landesherren und die Verfassung mit schweren
Strafen bedroht. Aber zum Thatbestand dieser Verbrechen gehört notwendig,
daß Gemalt angewendet worden ist. Nirgends ist es zur Zeit von Staats wegen
bestimmt ausgesprochen, daß schon die Umsturzbestrebungen um sich, also auch bei
Vermeivung von Gemalt, gemeingefährlich und verboten sind. Im Gegenteil,
die Sozialdemokratie ist staatlich völlig anerkannt, Männer, die sich ausdrücklich
als Sozialdemokraten bekennen, sitzen in den gesetzgebenden Versammlungen
des Reichs und der Bundesstaaten, bilden förmliche Fraktionen, werden in die
Kommissionen, sogar in die Berfassungskommissiou gewählt, ihre Reden ebenso
wie ihre Parteiversammlungen sind Gegenstand langer Abhandlungen in der
Presse aller Parteien, Man kann es während der Parlamentssitzungen fast
täglich sehen, daß Mitglieder der übrigen Parteien mit den Führern der So¬
zialdemokratie freundlich verkehren, daß sogar Vertreter der Regierungen mit
ihnen Freundlichkeiten und Händedrücke anstausche". Kann man sich da
wundern, daß das Volk die sozialdemokratischen Werbungen nicht schroff ab-


Gebrechlichkeit und hohem Alter; Rechtssicherheit und Rechtsschutz walten überall
und über jedem im Reiche, die Wissenschaften weisen herrliche Erfolge auf,
und auch den Künsten wird Pflege und Förderung zu teil. Und dabei doch
so viele, die diese Staatsordnung umstürzen wollen oder doch den Umstürzlern
ihre Stimme geben?

Wenn ich versuche, hier einige Gedanken zur Beantwortung dieser Frage
auszusprechen, so muß ich vorausschicken, daß unter Sozialdemokratie hier
immer nur die Bestrebungen dieser Partei gemeint sind, die auf die Beseitigung
der gegenwärtigen Staatsordnung abzielen; alle übrigen Ziele der Sozialdemo¬
kratie und namentlich ihre Bestrebungen zur Hebung der arbeitenden Klassen
in materieller und gesellschaftlicher Hinsicht werden in diesem Aufsatz in keiner
Weise berührt.

Gewiß giebt es manche Punkte in unserm staatlichen Leben, über die
man eine von der herrschenden Richtung abweichende Meinung habe» kann,
und gewiß werden von der gegenwärtigen Regierung mitunter Maßnahmen
getroffen, über die sich weite Kreise mit Recht beklagen und Unzufriedenheit
empfinden. Aber darin liegt doch kein hinreichender Grund, die gesamte
Staatsordnung zu hassen und auf ihre Beseitigung zu sinnen. Dieser Unzu¬
friedenheit würde man doch dadurch Ausdruck geben können, daß man Männer
in die gesetzgebenden Körperschafte» wählte, die die gegenwärtigen Vertreter der
mißliebigen Regierungsmaßnahmen bekämpfen, aber doch dabei auf dem Boden
der geltenden Staatsordnung stehen. Nein, der Grund des staatsfeindlichen
Wühlens liegt bei vielen Staatsbürgern in andern Umständen. Er ist zum
großen Teil darin zu finden, daß das Volk nicht recht sicher ist, wie es die
Lockungen der sozialdemokratischen Agitatoren beurteilen und sich ihnen gegen¬
über verhalten soll. Ju den 80 bis 86 des Strafgesetzbuchs sind zwar
Unternehmungen gegen die Landesherren und die Verfassung mit schweren
Strafen bedroht. Aber zum Thatbestand dieser Verbrechen gehört notwendig,
daß Gemalt angewendet worden ist. Nirgends ist es zur Zeit von Staats wegen
bestimmt ausgesprochen, daß schon die Umsturzbestrebungen um sich, also auch bei
Vermeivung von Gemalt, gemeingefährlich und verboten sind. Im Gegenteil,
die Sozialdemokratie ist staatlich völlig anerkannt, Männer, die sich ausdrücklich
als Sozialdemokraten bekennen, sitzen in den gesetzgebenden Versammlungen
des Reichs und der Bundesstaaten, bilden förmliche Fraktionen, werden in die
Kommissionen, sogar in die Berfassungskommissiou gewählt, ihre Reden ebenso
wie ihre Parteiversammlungen sind Gegenstand langer Abhandlungen in der
Presse aller Parteien, Man kann es während der Parlamentssitzungen fast
täglich sehen, daß Mitglieder der übrigen Parteien mit den Führern der So¬
zialdemokratie freundlich verkehren, daß sogar Vertreter der Regierungen mit
ihnen Freundlichkeiten und Händedrücke anstausche». Kann man sich da
wundern, daß das Volk die sozialdemokratischen Werbungen nicht schroff ab-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/212>, abgerufen am 29.06.2024.