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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Rornpreise und Industrie

würden. Besten Falles wären wir bloß von Amerika oder bloß von den eng¬
lischen Kolonien abhängig, vielleicht mit einer Hilfe in Argentinien und Chile.
Wie hoch würde man uns dann den Scheffel Weizen bezahlen lassen? Wie
würde unsre Industrie reden, wenn die Tonne Weizen auf 300 Mark oder
mehr ginge? Bräche gar ein englisch-amerikanischer Krieg aus, so wäre es
noch schlimmer mit der Korneinfuhr bestellt.

Wir können aber auch selbst in einen Krieg mit England geraten. Dann
wären wir in der Lage, von allem andern abgesehen, bei einer russischen
Mißernte erschreckende Zustände zu erleben. Die russischen Mißernten sind
nicht so gar selten: seit 1390 ist es jetzt die zweite. In solchen Jahren sind
wir völlig von der Friedensliebe Englands oder jeder andern uns überlegnen
Flotteumacht abhängig. Und wir werden mit jedem Schritt abhängiger, den
wir mit Aufopferung unsers Kvrnerbaues zum normalen Industriestaat hin
weiter thun. Wir hätten, statt auf ein Recht auf billiges Korn zu pochen,
weit eher ein Recht, den Landmann künstlich zum vermehrten Körnerbau zu
nötigen, etwa indem wir die Zuckerprümien beseitigten, selbst indem wir Tabak¬
bau, Butterausfuhr vernachlässigten. Nur hätten wir dann auch die Pflicht,
für lohnenden Absatz der Körner zu sorgen. Wir sind nicht in der Lage Eng¬
lands, das rücksichtslos seinen Körnerbau zu Grunde gehen läßt im Vertrauen
auf eine Flotte, die immer imstande ist, die Kvrnzufuhr aus der ganzen Welt
offen zu halten. Eine Handbewegung Englands kann uns die überseeische
Kvrneinfuhr verbieten; wir sind dann auf deu Osten angewiesen. Oder wir
können in einen Krieg mit Rußland geraten und auf die Gnade Englands an¬
gewiesen werden. Besäßen wir weite ackerbautreibende Gebiete im Osten, bestünde
noch ein Königreich Polen oder Litauen oder Livland, das auf deu Absatz seines
Getreides an uns angewiesen wäre, so wäre die Gefahr nicht groß. Altpreußen,
Pommern, Posen genügen nicht, die Korneinfnhr in Schranken zu halten, und
werden selbst immer mehr industriell.

Die Kurzsichtigkeit unsrer Volkspolitiker von der Industrie ist erstaunlich,
soweit sie sich gegen die Vermehrung unsrer Seemacht stemmen. Ein Krieg
mit einer Seemacht selbst wie Spanien würde in einem Jahre wie 1891 oder
1897 unsre Korneinfuhr zur See gefährden und das Brot so verteuern, daß
unsre Industrie dein Verhungern nahe wäre. Recht verstanden, hat nächst dem
Handel die Industrie das stärkste Interesse an einer starken Flotte. Für deren
Stärkung aber finden sich allenfalls konservative Junker und Polen bereit; das
bürgerliche Gewerbe denkt nicht daran, rechtzeitig für den Schutz unsers über¬
seeischen Handels zu sorgen. Es will nichts opfern für die Erhaltung der
Kaufkraft unsers heimischen Landmannes; es will auch nicht genügende Opfer
bringen für die Sicherung seines eignen Absatzes und seiner eignen Brotqnellen
jenseits des Wassers. Diese Kurzsichtigkeit wird von unsern Professoren unter¬
stützt, die uns überwiegend den englischen Industriestaat als Ziel der Ent-


Grcnzboten IV 1897 2
Rornpreise und Industrie

würden. Besten Falles wären wir bloß von Amerika oder bloß von den eng¬
lischen Kolonien abhängig, vielleicht mit einer Hilfe in Argentinien und Chile.
Wie hoch würde man uns dann den Scheffel Weizen bezahlen lassen? Wie
würde unsre Industrie reden, wenn die Tonne Weizen auf 300 Mark oder
mehr ginge? Bräche gar ein englisch-amerikanischer Krieg aus, so wäre es
noch schlimmer mit der Korneinfuhr bestellt.

Wir können aber auch selbst in einen Krieg mit England geraten. Dann
wären wir in der Lage, von allem andern abgesehen, bei einer russischen
Mißernte erschreckende Zustände zu erleben. Die russischen Mißernten sind
nicht so gar selten: seit 1390 ist es jetzt die zweite. In solchen Jahren sind
wir völlig von der Friedensliebe Englands oder jeder andern uns überlegnen
Flotteumacht abhängig. Und wir werden mit jedem Schritt abhängiger, den
wir mit Aufopferung unsers Kvrnerbaues zum normalen Industriestaat hin
weiter thun. Wir hätten, statt auf ein Recht auf billiges Korn zu pochen,
weit eher ein Recht, den Landmann künstlich zum vermehrten Körnerbau zu
nötigen, etwa indem wir die Zuckerprümien beseitigten, selbst indem wir Tabak¬
bau, Butterausfuhr vernachlässigten. Nur hätten wir dann auch die Pflicht,
für lohnenden Absatz der Körner zu sorgen. Wir sind nicht in der Lage Eng¬
lands, das rücksichtslos seinen Körnerbau zu Grunde gehen läßt im Vertrauen
auf eine Flotte, die immer imstande ist, die Kvrnzufuhr aus der ganzen Welt
offen zu halten. Eine Handbewegung Englands kann uns die überseeische
Kvrneinfuhr verbieten; wir sind dann auf deu Osten angewiesen. Oder wir
können in einen Krieg mit Rußland geraten und auf die Gnade Englands an¬
gewiesen werden. Besäßen wir weite ackerbautreibende Gebiete im Osten, bestünde
noch ein Königreich Polen oder Litauen oder Livland, das auf deu Absatz seines
Getreides an uns angewiesen wäre, so wäre die Gefahr nicht groß. Altpreußen,
Pommern, Posen genügen nicht, die Korneinfnhr in Schranken zu halten, und
werden selbst immer mehr industriell.

Die Kurzsichtigkeit unsrer Volkspolitiker von der Industrie ist erstaunlich,
soweit sie sich gegen die Vermehrung unsrer Seemacht stemmen. Ein Krieg
mit einer Seemacht selbst wie Spanien würde in einem Jahre wie 1891 oder
1897 unsre Korneinfuhr zur See gefährden und das Brot so verteuern, daß
unsre Industrie dein Verhungern nahe wäre. Recht verstanden, hat nächst dem
Handel die Industrie das stärkste Interesse an einer starken Flotte. Für deren
Stärkung aber finden sich allenfalls konservative Junker und Polen bereit; das
bürgerliche Gewerbe denkt nicht daran, rechtzeitig für den Schutz unsers über¬
seeischen Handels zu sorgen. Es will nichts opfern für die Erhaltung der
Kaufkraft unsers heimischen Landmannes; es will auch nicht genügende Opfer
bringen für die Sicherung seines eignen Absatzes und seiner eignen Brotqnellen
jenseits des Wassers. Diese Kurzsichtigkeit wird von unsern Professoren unter¬
stützt, die uns überwiegend den englischen Industriestaat als Ziel der Ent-


Grcnzboten IV 1897 2
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/17>, abgerufen am 26.06.2024.