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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Platens Tagebücher

Persönlichkeiten seines eignen Geschlechts zur "Unbefangenheit," die L. von
Scheffler fordert, gesteigert werden kann) in die entscheidende Beleuchtung.
Wenn Platen am 27. April 1815 nach einem glücklichen Nachmittag und
Abend auf dem Schlosse des Herrn und der Frau von Gemmingen seinem
Tagebuch anvertraut: "Ich kann sagen, daß ich mich den ganzen Tag vor¬
trefflich unterhielt. Ich sah vor mir die süßen Freuden des Familienglücks
und des annehmlichen Landlebens, und ich dachte mich im Geiste an die Seite
einer geliebten Gattin und wohlgeratner Kinder auf einem gartenumgebnen
Landsitz. Dieser Friede wird nie mein Leben beseligen" -- und am 28. März
1816 sich eingesteht: "O du gewaltiger Amor, mit wie viel tausend und tausend
Schlingen durchwebst du die ganze Welt! Wen harrst du nicht in deinen
Zauberring? Mich nicht. Zwitterhafte Gefühle nährst du in meinem Busen,
vor denen mancher schaudern würde; aber Gott weiß es, mein-' Neigung ist
rein und gut!" so ist damit die unselige Konstellation bezeichnet, unter deren
Einfluß der Dichter stand. Wir verwahren uns ausdrücklich gegen den Ver¬
dacht einer Mißdeutung. Nur eine gemeine Seele kann nach der Lektüre dieser
"Tagebücher" in Zweifel ziehen, daß es dem Dichter um seine sittliche Würde
heiliger Ernst war. Wer wird es noch wagen, daran zu zweifeln, wenn er
sich erinnert, was sich der junge Offizier am 10. Dezember 1815 schwört:
"Ich schwur und schwöre Gott Bestrebung nach Heiligung und Tugend, eifriges
Bestreben der Annäherung an ihn, Fleiß und Berufstreue, Wahrheitsliebe und
strenge Sitten, möge er, der himmlische Vater, mir reinen Glauben verleihen
und seine Gnade," wer würde sich unterfangen, zahlreiche Stellen der Tage¬
bücher für Heuchelei zu erklären, aus denen hervorgeht, daß Platens Neigungen
zu jüngern schönen und anmutigen Freunden einen Charakter von Leidenschaft
trugen, der ihn zu ewiger Unbefriedigung verurteilte, aber mit einem Laster
nichts, gar nichts gemein hatte? Im Oktober 1817 schreibt der Dichter in
Erinnerung an eine Verlorne und vergangne "Liebe": "Ohne alle Sinnlichkeit
kann keine Liebe sein. Aber niemals und auf keine Weise hat mir Federigo
gemein sinnliche Triebe erweckt. Aber wenn es bei andern so weit mit mir
kommen sollte! O dann verschlinge mich eher der Abgrund. Ich würde ver¬
loren sein. Ich würde mich elend in mir selbst verzehren, ich würde nie zu
meinem Zwecke gelangen und würde auch schaudern, ihn zu erreichen. Wie sehr
schon eine edlere Liebe an den Rand des Verderbens und der Verzweiflung
führen kaun, weiß ich; aber wie fürchterlich eine sinnliche Glut den ganzen
Menschen zerstören muß, das erfuhr ich nicht; aber ich habe davon eine
grausame Ahnung. Es giebt soviel in der Welt, was mich wünschen macht,
daß ich niemals geboren Ware."

Wenn wir die Wahrheit dieser durch eine lange Reihe gleichlautender
oder verwandter Stellen der Tagebücher bekräftigten Selbstgeständnisse keinen
Augenblick in Zweifel ziehen, so bleibt zwar der halb erschütternde und halb


Platens Tagebücher

Persönlichkeiten seines eignen Geschlechts zur „Unbefangenheit," die L. von
Scheffler fordert, gesteigert werden kann) in die entscheidende Beleuchtung.
Wenn Platen am 27. April 1815 nach einem glücklichen Nachmittag und
Abend auf dem Schlosse des Herrn und der Frau von Gemmingen seinem
Tagebuch anvertraut: „Ich kann sagen, daß ich mich den ganzen Tag vor¬
trefflich unterhielt. Ich sah vor mir die süßen Freuden des Familienglücks
und des annehmlichen Landlebens, und ich dachte mich im Geiste an die Seite
einer geliebten Gattin und wohlgeratner Kinder auf einem gartenumgebnen
Landsitz. Dieser Friede wird nie mein Leben beseligen" — und am 28. März
1816 sich eingesteht: „O du gewaltiger Amor, mit wie viel tausend und tausend
Schlingen durchwebst du die ganze Welt! Wen harrst du nicht in deinen
Zauberring? Mich nicht. Zwitterhafte Gefühle nährst du in meinem Busen,
vor denen mancher schaudern würde; aber Gott weiß es, mein-' Neigung ist
rein und gut!" so ist damit die unselige Konstellation bezeichnet, unter deren
Einfluß der Dichter stand. Wir verwahren uns ausdrücklich gegen den Ver¬
dacht einer Mißdeutung. Nur eine gemeine Seele kann nach der Lektüre dieser
„Tagebücher" in Zweifel ziehen, daß es dem Dichter um seine sittliche Würde
heiliger Ernst war. Wer wird es noch wagen, daran zu zweifeln, wenn er
sich erinnert, was sich der junge Offizier am 10. Dezember 1815 schwört:
„Ich schwur und schwöre Gott Bestrebung nach Heiligung und Tugend, eifriges
Bestreben der Annäherung an ihn, Fleiß und Berufstreue, Wahrheitsliebe und
strenge Sitten, möge er, der himmlische Vater, mir reinen Glauben verleihen
und seine Gnade," wer würde sich unterfangen, zahlreiche Stellen der Tage¬
bücher für Heuchelei zu erklären, aus denen hervorgeht, daß Platens Neigungen
zu jüngern schönen und anmutigen Freunden einen Charakter von Leidenschaft
trugen, der ihn zu ewiger Unbefriedigung verurteilte, aber mit einem Laster
nichts, gar nichts gemein hatte? Im Oktober 1817 schreibt der Dichter in
Erinnerung an eine Verlorne und vergangne „Liebe": „Ohne alle Sinnlichkeit
kann keine Liebe sein. Aber niemals und auf keine Weise hat mir Federigo
gemein sinnliche Triebe erweckt. Aber wenn es bei andern so weit mit mir
kommen sollte! O dann verschlinge mich eher der Abgrund. Ich würde ver¬
loren sein. Ich würde mich elend in mir selbst verzehren, ich würde nie zu
meinem Zwecke gelangen und würde auch schaudern, ihn zu erreichen. Wie sehr
schon eine edlere Liebe an den Rand des Verderbens und der Verzweiflung
führen kaun, weiß ich; aber wie fürchterlich eine sinnliche Glut den ganzen
Menschen zerstören muß, das erfuhr ich nicht; aber ich habe davon eine
grausame Ahnung. Es giebt soviel in der Welt, was mich wünschen macht,
daß ich niemals geboren Ware."

Wenn wir die Wahrheit dieser durch eine lange Reihe gleichlautender
oder verwandter Stellen der Tagebücher bekräftigten Selbstgeständnisse keinen
Augenblick in Zweifel ziehen, so bleibt zwar der halb erschütternde und halb


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[0088] Platens Tagebücher Persönlichkeiten seines eignen Geschlechts zur „Unbefangenheit," die L. von Scheffler fordert, gesteigert werden kann) in die entscheidende Beleuchtung. Wenn Platen am 27. April 1815 nach einem glücklichen Nachmittag und Abend auf dem Schlosse des Herrn und der Frau von Gemmingen seinem Tagebuch anvertraut: „Ich kann sagen, daß ich mich den ganzen Tag vor¬ trefflich unterhielt. Ich sah vor mir die süßen Freuden des Familienglücks und des annehmlichen Landlebens, und ich dachte mich im Geiste an die Seite einer geliebten Gattin und wohlgeratner Kinder auf einem gartenumgebnen Landsitz. Dieser Friede wird nie mein Leben beseligen" — und am 28. März 1816 sich eingesteht: „O du gewaltiger Amor, mit wie viel tausend und tausend Schlingen durchwebst du die ganze Welt! Wen harrst du nicht in deinen Zauberring? Mich nicht. Zwitterhafte Gefühle nährst du in meinem Busen, vor denen mancher schaudern würde; aber Gott weiß es, mein-' Neigung ist rein und gut!" so ist damit die unselige Konstellation bezeichnet, unter deren Einfluß der Dichter stand. Wir verwahren uns ausdrücklich gegen den Ver¬ dacht einer Mißdeutung. Nur eine gemeine Seele kann nach der Lektüre dieser „Tagebücher" in Zweifel ziehen, daß es dem Dichter um seine sittliche Würde heiliger Ernst war. Wer wird es noch wagen, daran zu zweifeln, wenn er sich erinnert, was sich der junge Offizier am 10. Dezember 1815 schwört: „Ich schwur und schwöre Gott Bestrebung nach Heiligung und Tugend, eifriges Bestreben der Annäherung an ihn, Fleiß und Berufstreue, Wahrheitsliebe und strenge Sitten, möge er, der himmlische Vater, mir reinen Glauben verleihen und seine Gnade," wer würde sich unterfangen, zahlreiche Stellen der Tage¬ bücher für Heuchelei zu erklären, aus denen hervorgeht, daß Platens Neigungen zu jüngern schönen und anmutigen Freunden einen Charakter von Leidenschaft trugen, der ihn zu ewiger Unbefriedigung verurteilte, aber mit einem Laster nichts, gar nichts gemein hatte? Im Oktober 1817 schreibt der Dichter in Erinnerung an eine Verlorne und vergangne „Liebe": „Ohne alle Sinnlichkeit kann keine Liebe sein. Aber niemals und auf keine Weise hat mir Federigo gemein sinnliche Triebe erweckt. Aber wenn es bei andern so weit mit mir kommen sollte! O dann verschlinge mich eher der Abgrund. Ich würde ver¬ loren sein. Ich würde mich elend in mir selbst verzehren, ich würde nie zu meinem Zwecke gelangen und würde auch schaudern, ihn zu erreichen. Wie sehr schon eine edlere Liebe an den Rand des Verderbens und der Verzweiflung führen kaun, weiß ich; aber wie fürchterlich eine sinnliche Glut den ganzen Menschen zerstören muß, das erfuhr ich nicht; aber ich habe davon eine grausame Ahnung. Es giebt soviel in der Welt, was mich wünschen macht, daß ich niemals geboren Ware." Wenn wir die Wahrheit dieser durch eine lange Reihe gleichlautender oder verwandter Stellen der Tagebücher bekräftigten Selbstgeständnisse keinen Augenblick in Zweifel ziehen, so bleibt zwar der halb erschütternde und halb

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/88>, abgerufen am 29.12.2024.