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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Vererbung

gezwungen sehe, einen Vorschlag anzunehmen, aber eine gelehrte Meinung
anzunehmen, fühle er sich nicht gezwungen.) Eine zweckthätige Kraft unter
die Entwicklungsursachen der Organismen aufzunehmen, werde dem Natur¬
forscher niemals gestattet sein, weil er damit die Voraussetzung seines Forschens
preisgebe: die Begreiflichkeit der Natur. Diese Voraussetzung ist eben falsch,
und es stünde schlimm um die Naturforschung, wenn sie wirklich von dieser
Voraussetzung abhinge. Wir haben zugegeben, daß der Atheismus die Natur-
wissenschaft außerordentlich gefördert hat, indem die Überzeugung von der
Erklärbarkeit der Natur den Forschungseifer aufs äußerste anspannt.*) Aber
es bleibt schon dabei:

Und auch nicht mit dem Mikroskop. Schon die "bekannten Kräfte" sind
eine Illusion, die Lotze so gründlich zerstört hat, daß man sich wundern muß,
wie ein Mann, der Lotze kennt, noch daran festhalten kann. Nichts ist uns
unbekannter, nichts unbegreiflicher als die Naturkräfte, als die eine Anziehung
und Abstoßung -- Liebe und Haß oder Freundschaft und Streit, wie sie
Empedokles genannt hat --, von der alle einzelnen sogenannten Kräfte nur
Modifikationen zu sein scheinen. Unter diesen Modifikationen giebt es eine
einzige, die wir einigermaßen kennen, nicht in dem Sinne kennen, daß wir ihr
ohne weiteres ansähen, woher sie stammt, oder wüßten, wie sie entstanden ist,
oder uns ihre Einwirkung auf die Körper erklären könnten, sondern nur in
dem Sinne, daß wir in sie hineinschauen können; diese einzige uns einiger¬
maßen bekannte Kraft ist unser eigner Wille. Wir wissen, wie uns zu Mute
ist, wenn wir unsern Arm heben wollen, und wir wissen, warum wir ihn
heben wollen, aber damit ist auch unsre Wissenschaft schon zu Ende: wie unser
Wille es anfängt, gewisse motorische Nerven zu erregen, und wie diese es an¬
fangen, die Armmuskeln in Bewegung zu setzen, das wissen wir schon nicht
mehr; wir wissen nicht einmal, was in den Nerven vorgeht, wenn sie erregt
sind. Von allen übrigen Kräften wissen wir noch weit weniger. Das Wort
Kraft ist, abgesehen von der einzigen Kraft des menschlichen Willens, nichts
als der Name für die völlig unbekannte und unerforschliche Ursache einer



*) Damit soll nicht etwa Weismann "des Atheismus angeklagt" werden; eS handelt sich
nicht um seine Metaphysik, die wir nicht kennen, sondern nur darum, daß seine Naturphilosophie
von Gott abstrahirt. Übrigens aber trägt es auch gar nicht den Charakter einer Anklage,
wenn wir von einem sagen, er sei Atheist, denn wir verstehen es ganz gut, wie ein Forscher
zum Atheismus gelangen kann, und wir achten jede ehrliche Überzeugung.
Vererbung

gezwungen sehe, einen Vorschlag anzunehmen, aber eine gelehrte Meinung
anzunehmen, fühle er sich nicht gezwungen.) Eine zweckthätige Kraft unter
die Entwicklungsursachen der Organismen aufzunehmen, werde dem Natur¬
forscher niemals gestattet sein, weil er damit die Voraussetzung seines Forschens
preisgebe: die Begreiflichkeit der Natur. Diese Voraussetzung ist eben falsch,
und es stünde schlimm um die Naturforschung, wenn sie wirklich von dieser
Voraussetzung abhinge. Wir haben zugegeben, daß der Atheismus die Natur-
wissenschaft außerordentlich gefördert hat, indem die Überzeugung von der
Erklärbarkeit der Natur den Forschungseifer aufs äußerste anspannt.*) Aber
es bleibt schon dabei:

Und auch nicht mit dem Mikroskop. Schon die „bekannten Kräfte" sind
eine Illusion, die Lotze so gründlich zerstört hat, daß man sich wundern muß,
wie ein Mann, der Lotze kennt, noch daran festhalten kann. Nichts ist uns
unbekannter, nichts unbegreiflicher als die Naturkräfte, als die eine Anziehung
und Abstoßung — Liebe und Haß oder Freundschaft und Streit, wie sie
Empedokles genannt hat —, von der alle einzelnen sogenannten Kräfte nur
Modifikationen zu sein scheinen. Unter diesen Modifikationen giebt es eine
einzige, die wir einigermaßen kennen, nicht in dem Sinne kennen, daß wir ihr
ohne weiteres ansähen, woher sie stammt, oder wüßten, wie sie entstanden ist,
oder uns ihre Einwirkung auf die Körper erklären könnten, sondern nur in
dem Sinne, daß wir in sie hineinschauen können; diese einzige uns einiger¬
maßen bekannte Kraft ist unser eigner Wille. Wir wissen, wie uns zu Mute
ist, wenn wir unsern Arm heben wollen, und wir wissen, warum wir ihn
heben wollen, aber damit ist auch unsre Wissenschaft schon zu Ende: wie unser
Wille es anfängt, gewisse motorische Nerven zu erregen, und wie diese es an¬
fangen, die Armmuskeln in Bewegung zu setzen, das wissen wir schon nicht
mehr; wir wissen nicht einmal, was in den Nerven vorgeht, wenn sie erregt
sind. Von allen übrigen Kräften wissen wir noch weit weniger. Das Wort
Kraft ist, abgesehen von der einzigen Kraft des menschlichen Willens, nichts
als der Name für die völlig unbekannte und unerforschliche Ursache einer



*) Damit soll nicht etwa Weismann „des Atheismus angeklagt" werden; eS handelt sich
nicht um seine Metaphysik, die wir nicht kennen, sondern nur darum, daß seine Naturphilosophie
von Gott abstrahirt. Übrigens aber trägt es auch gar nicht den Charakter einer Anklage,
wenn wir von einem sagen, er sei Atheist, denn wir verstehen es ganz gut, wie ein Forscher
zum Atheismus gelangen kann, und wir achten jede ehrliche Überzeugung.
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[0072] Vererbung gezwungen sehe, einen Vorschlag anzunehmen, aber eine gelehrte Meinung anzunehmen, fühle er sich nicht gezwungen.) Eine zweckthätige Kraft unter die Entwicklungsursachen der Organismen aufzunehmen, werde dem Natur¬ forscher niemals gestattet sein, weil er damit die Voraussetzung seines Forschens preisgebe: die Begreiflichkeit der Natur. Diese Voraussetzung ist eben falsch, und es stünde schlimm um die Naturforschung, wenn sie wirklich von dieser Voraussetzung abhinge. Wir haben zugegeben, daß der Atheismus die Natur- wissenschaft außerordentlich gefördert hat, indem die Überzeugung von der Erklärbarkeit der Natur den Forschungseifer aufs äußerste anspannt.*) Aber es bleibt schon dabei: Und auch nicht mit dem Mikroskop. Schon die „bekannten Kräfte" sind eine Illusion, die Lotze so gründlich zerstört hat, daß man sich wundern muß, wie ein Mann, der Lotze kennt, noch daran festhalten kann. Nichts ist uns unbekannter, nichts unbegreiflicher als die Naturkräfte, als die eine Anziehung und Abstoßung — Liebe und Haß oder Freundschaft und Streit, wie sie Empedokles genannt hat —, von der alle einzelnen sogenannten Kräfte nur Modifikationen zu sein scheinen. Unter diesen Modifikationen giebt es eine einzige, die wir einigermaßen kennen, nicht in dem Sinne kennen, daß wir ihr ohne weiteres ansähen, woher sie stammt, oder wüßten, wie sie entstanden ist, oder uns ihre Einwirkung auf die Körper erklären könnten, sondern nur in dem Sinne, daß wir in sie hineinschauen können; diese einzige uns einiger¬ maßen bekannte Kraft ist unser eigner Wille. Wir wissen, wie uns zu Mute ist, wenn wir unsern Arm heben wollen, und wir wissen, warum wir ihn heben wollen, aber damit ist auch unsre Wissenschaft schon zu Ende: wie unser Wille es anfängt, gewisse motorische Nerven zu erregen, und wie diese es an¬ fangen, die Armmuskeln in Bewegung zu setzen, das wissen wir schon nicht mehr; wir wissen nicht einmal, was in den Nerven vorgeht, wenn sie erregt sind. Von allen übrigen Kräften wissen wir noch weit weniger. Das Wort Kraft ist, abgesehen von der einzigen Kraft des menschlichen Willens, nichts als der Name für die völlig unbekannte und unerforschliche Ursache einer *) Damit soll nicht etwa Weismann „des Atheismus angeklagt" werden; eS handelt sich nicht um seine Metaphysik, die wir nicht kennen, sondern nur darum, daß seine Naturphilosophie von Gott abstrahirt. Übrigens aber trägt es auch gar nicht den Charakter einer Anklage, wenn wir von einem sagen, er sei Atheist, denn wir verstehen es ganz gut, wie ein Forscher zum Atheismus gelangen kann, und wir achten jede ehrliche Überzeugung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/72>, abgerufen am 04.07.2024.