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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Vererbung

Thätigkeit der Knospen- oder Embryobildung beginnen können. Außer den
von den Zellen des Körpers abgestoßenen Keimchen aber sind noch solche vor¬
handen, die von den Ahnen dieses Körpers stammen, und beim Aufbau jeder
Zelle im neuen Organismus überwiegen die einen oder die andern von diesen
Keimchen. Die nicht in Thätigkeit treten, bleiben einstweilen gebunden und
erlangen vielleicht bei der Bildung eines Nachkommen einmal Geltung. Von
dieser "Pangenesistheorie" sagt Weismann 15 5 bis 7: "Auf die physische Be¬
schaffenheit der Asinmulss wird nicht eingegangen; sie können sich vermehren
und thun das fortwährend, aber ob und wie sie etwa gegenseitig an¬
geordnet sind, und durch welche Ursachen, welchen Mechanismus es kommt,
daß sie stets an der rechten Stelle vorhanden sind und sich zur rechten Zeit
zur Zelle entwickeln, wird nicht berührt. Ich sage das keineswegs im Sinne
eines Tadels, sondern nur um den fiktionellen Charakter der ganzen Hypothese
klar zu legen. Darwin fragt nicht weiter: wie sind alle diese Annahmen mög¬
lich? er fragt nur: was ist nötig anzunehmen, um diese oder jene Vercrbungs-
erscheinung zu erklären? unbekümmert, ob diese Annahme irgend einen realen
Boden unter den Füßen hat oder nicht. Er hatte Recht, das zu thun, denn
zu der Zeit, als er seine Hypothese ausdachtc, war ein Anschluß einer Ver¬
erbungstheorie an den realen Boden der feinsten Zellenorganisation noch nicht
möglich. Ich habe aber früher schou dargelegt, wie überaus wichtig und erfolg¬
reich für die Wissenschaft seine Pangenesis gewesen ist, weil sie zum erstenmale
zeigte, welche Erscheinungen alle zu erklären seien, und welche Annahmen man
machen müsse, wollte man sie erklären." Auch sei der eine der beiden Be¬
standteile der Darwinischen Hypothese, nämlich daß der fertige Leib der Anlage
nach stofflich im Keim enthalten sei, unzweifelhaft richtig. Gerade gegen diesen
Teil habe er, Weismann, sich lange gesträubt; es sei ihm fast unmöglich er¬
schienen, daß in dem winzigen Stückchen Vererbungsstoff so viel Anlagen ent¬
halten sein sollten, und er habe nach einer epigenetischen Theorie gesucht,
d. h. nach einer solchen, die nicht den ganzen Leib aus dem Keime sich heraus¬
wickeln läßt, sondern einen Keim von einfacheren Bau annimmt, der die Kraft
habe, noch nicht vorhandne Anlagen nach einander zu erzeugen. Aber das
sei nicht gegangen, und jetzt glaube er den Beweis geliefert zu haben, daß die
Evolutionstheorie der Wirklichkeit entspreche, und der erwähnte EinWurf da¬
gegen "hinfällig wird durch die Erkenntnis, daß das scheinbar unmögliche eben
wirklich ist. Allerdings halte ich auch heute noch dafür, daß Darwin in seiner
Theorie mehr eine Fragestellung als eine Lösung des Problems der Vererbung
gegeben hat und wohl auch geben wollte."

Diese Betrachtung ist äußerst wertvoll. Indem Weismann Darwins
Hypothese charakterisirt, charakterisirt er seine eigne und alle übrigen biologischen
Hypothesen. Sie sind alle mit einander nichts als Fragestellungen. Je mehr
geforscht wird, desto mehr Dinge findet man, die zu erklären sein würden, wenn


Vererbung

Thätigkeit der Knospen- oder Embryobildung beginnen können. Außer den
von den Zellen des Körpers abgestoßenen Keimchen aber sind noch solche vor¬
handen, die von den Ahnen dieses Körpers stammen, und beim Aufbau jeder
Zelle im neuen Organismus überwiegen die einen oder die andern von diesen
Keimchen. Die nicht in Thätigkeit treten, bleiben einstweilen gebunden und
erlangen vielleicht bei der Bildung eines Nachkommen einmal Geltung. Von
dieser „Pangenesistheorie" sagt Weismann 15 5 bis 7: „Auf die physische Be¬
schaffenheit der Asinmulss wird nicht eingegangen; sie können sich vermehren
und thun das fortwährend, aber ob und wie sie etwa gegenseitig an¬
geordnet sind, und durch welche Ursachen, welchen Mechanismus es kommt,
daß sie stets an der rechten Stelle vorhanden sind und sich zur rechten Zeit
zur Zelle entwickeln, wird nicht berührt. Ich sage das keineswegs im Sinne
eines Tadels, sondern nur um den fiktionellen Charakter der ganzen Hypothese
klar zu legen. Darwin fragt nicht weiter: wie sind alle diese Annahmen mög¬
lich? er fragt nur: was ist nötig anzunehmen, um diese oder jene Vercrbungs-
erscheinung zu erklären? unbekümmert, ob diese Annahme irgend einen realen
Boden unter den Füßen hat oder nicht. Er hatte Recht, das zu thun, denn
zu der Zeit, als er seine Hypothese ausdachtc, war ein Anschluß einer Ver¬
erbungstheorie an den realen Boden der feinsten Zellenorganisation noch nicht
möglich. Ich habe aber früher schou dargelegt, wie überaus wichtig und erfolg¬
reich für die Wissenschaft seine Pangenesis gewesen ist, weil sie zum erstenmale
zeigte, welche Erscheinungen alle zu erklären seien, und welche Annahmen man
machen müsse, wollte man sie erklären." Auch sei der eine der beiden Be¬
standteile der Darwinischen Hypothese, nämlich daß der fertige Leib der Anlage
nach stofflich im Keim enthalten sei, unzweifelhaft richtig. Gerade gegen diesen
Teil habe er, Weismann, sich lange gesträubt; es sei ihm fast unmöglich er¬
schienen, daß in dem winzigen Stückchen Vererbungsstoff so viel Anlagen ent¬
halten sein sollten, und er habe nach einer epigenetischen Theorie gesucht,
d. h. nach einer solchen, die nicht den ganzen Leib aus dem Keime sich heraus¬
wickeln läßt, sondern einen Keim von einfacheren Bau annimmt, der die Kraft
habe, noch nicht vorhandne Anlagen nach einander zu erzeugen. Aber das
sei nicht gegangen, und jetzt glaube er den Beweis geliefert zu haben, daß die
Evolutionstheorie der Wirklichkeit entspreche, und der erwähnte EinWurf da¬
gegen „hinfällig wird durch die Erkenntnis, daß das scheinbar unmögliche eben
wirklich ist. Allerdings halte ich auch heute noch dafür, daß Darwin in seiner
Theorie mehr eine Fragestellung als eine Lösung des Problems der Vererbung
gegeben hat und wohl auch geben wollte."

Diese Betrachtung ist äußerst wertvoll. Indem Weismann Darwins
Hypothese charakterisirt, charakterisirt er seine eigne und alle übrigen biologischen
Hypothesen. Sie sind alle mit einander nichts als Fragestellungen. Je mehr
geforscht wird, desto mehr Dinge findet man, die zu erklären sein würden, wenn


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[0068] Vererbung Thätigkeit der Knospen- oder Embryobildung beginnen können. Außer den von den Zellen des Körpers abgestoßenen Keimchen aber sind noch solche vor¬ handen, die von den Ahnen dieses Körpers stammen, und beim Aufbau jeder Zelle im neuen Organismus überwiegen die einen oder die andern von diesen Keimchen. Die nicht in Thätigkeit treten, bleiben einstweilen gebunden und erlangen vielleicht bei der Bildung eines Nachkommen einmal Geltung. Von dieser „Pangenesistheorie" sagt Weismann 15 5 bis 7: „Auf die physische Be¬ schaffenheit der Asinmulss wird nicht eingegangen; sie können sich vermehren und thun das fortwährend, aber ob und wie sie etwa gegenseitig an¬ geordnet sind, und durch welche Ursachen, welchen Mechanismus es kommt, daß sie stets an der rechten Stelle vorhanden sind und sich zur rechten Zeit zur Zelle entwickeln, wird nicht berührt. Ich sage das keineswegs im Sinne eines Tadels, sondern nur um den fiktionellen Charakter der ganzen Hypothese klar zu legen. Darwin fragt nicht weiter: wie sind alle diese Annahmen mög¬ lich? er fragt nur: was ist nötig anzunehmen, um diese oder jene Vercrbungs- erscheinung zu erklären? unbekümmert, ob diese Annahme irgend einen realen Boden unter den Füßen hat oder nicht. Er hatte Recht, das zu thun, denn zu der Zeit, als er seine Hypothese ausdachtc, war ein Anschluß einer Ver¬ erbungstheorie an den realen Boden der feinsten Zellenorganisation noch nicht möglich. Ich habe aber früher schou dargelegt, wie überaus wichtig und erfolg¬ reich für die Wissenschaft seine Pangenesis gewesen ist, weil sie zum erstenmale zeigte, welche Erscheinungen alle zu erklären seien, und welche Annahmen man machen müsse, wollte man sie erklären." Auch sei der eine der beiden Be¬ standteile der Darwinischen Hypothese, nämlich daß der fertige Leib der Anlage nach stofflich im Keim enthalten sei, unzweifelhaft richtig. Gerade gegen diesen Teil habe er, Weismann, sich lange gesträubt; es sei ihm fast unmöglich er¬ schienen, daß in dem winzigen Stückchen Vererbungsstoff so viel Anlagen ent¬ halten sein sollten, und er habe nach einer epigenetischen Theorie gesucht, d. h. nach einer solchen, die nicht den ganzen Leib aus dem Keime sich heraus¬ wickeln läßt, sondern einen Keim von einfacheren Bau annimmt, der die Kraft habe, noch nicht vorhandne Anlagen nach einander zu erzeugen. Aber das sei nicht gegangen, und jetzt glaube er den Beweis geliefert zu haben, daß die Evolutionstheorie der Wirklichkeit entspreche, und der erwähnte EinWurf da¬ gegen „hinfällig wird durch die Erkenntnis, daß das scheinbar unmögliche eben wirklich ist. Allerdings halte ich auch heute noch dafür, daß Darwin in seiner Theorie mehr eine Fragestellung als eine Lösung des Problems der Vererbung gegeben hat und wohl auch geben wollte." Diese Betrachtung ist äußerst wertvoll. Indem Weismann Darwins Hypothese charakterisirt, charakterisirt er seine eigne und alle übrigen biologischen Hypothesen. Sie sind alle mit einander nichts als Fragestellungen. Je mehr geforscht wird, desto mehr Dinge findet man, die zu erklären sein würden, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/68>, abgerufen am 29.06.2024.