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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches

ist, daß eine Person des Vernunftgebrauchs beraubt ist. Das Strafgesetzbuch
bezeichnet die Geisteszustände, die die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit auf¬
heben, als Zustände von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistes¬
thätigkeit, durch die die freie Willensbestimmung ausgeschlossen wird. Für
die Bestimmung der Vorbedingung der Entmündigung ist diese Ausdrucksweise
uicht verwendbar. Das Strafgesetzbuch hat vorzugsweise die in der Vergangen¬
heit liegende Zeit der That ins Auge zu fassen und namentlich auch die
vorübergehenden Umstände, die die Geistesthätigkeit beeinträchtigen, zu berück¬
sichtigen. Die Entmündigung ist für die Zukunft und für eine gewisse Dauer
berechnet; Zustände, die in vorübergehenden Verhältnissen ihren Grund haben,
kommen nicht in Betracht. Von einer nähern Bezeichnung der sogenannten
Geisteskrankheiten ist abgesehen, vermieden insbesondre die Einteilung in Naserei,
Wahnsinn und Blödsinn. Jeder Versuch einer derartigen Scheidung ist be¬
denklich und zwecklos; bedenklich, weil nach dem Stande der Seelenheilkunde
die einzelnen Formen der Geistesstörungen weder erschöpfend aufgezählt, noch
ihre Stadien untereinander abgegrenzt werden können; zwecklos, weil weder
die Verschiedenheit der äußern Anzeichen, noch der Umstand, ob die Störung
vorzugsweise die eine oder die andre Seite der Geistesthätigkeit ergreift, für
die an einen solchen Zustand zu knüpfenden rechtlichen Folgen von maßgebender
Bedeutung sein kann."

Noch schwieriger wird für den Richter die Sache, wenn er entscheiden
muß, ob jemand seine Familie durch seine Verschwendung oder Trunksucht der
Gefahr des Notstandes aussetze. Der eine wird diese Gefahr als vorhanden
ansehen, wo sie der andre noch in weiter Ferne sieht. Die Motive geben ihm
nur negative Anhaltepunkte, wenn sie sagen: "Nicht jeder, den man im ge¬
meinen Leben mit dem Namen eines Verschwenders belegt, soll Gefahr laufen,
wegen Verschwendung entmündigt zu werden. Es genügt nicht, daß eine
Person einen übermäßigen, zu ihrem Vermögen in erheblichem Mißverhältnis
stehenden Aufwand macht. Worauf es ankommt, ist, daß die Person einen
Hang zur zweck- und nutzlosen Vermögensverschleuderung hat, der die Besorgnis
begründet erscheinen läßt, daß sie durch ihr entsprechend an den Tag ge¬
legtes Verhalten sich und ihre Familie dem Notstände preisgiebt. Unerheblich
ist, ob das die wirtschaftliche Existenz bedrohende Gebühren in unmüßigen
Geldausgaben, unbesonnenen Schuldenmachen, in unverantwortlicher Geschäfts¬
führung oder Vernachlässigung der Wirtschaft besteht. Erforderlich ist auch
nicht, daß die Person Vermögen besitzt, selbst der mittellose Schuldenmacher
kann entmündigt werden. Ebenso wenig ist erforderlich, daß bereits ein be¬
deutender Teil vorhandnen Vermögens durchgebracht sei. Fruchtlose Besserungs¬
versuche, die erfahrungsgemäß in der Regel nur dazu führen, daß die Ent¬
mündigung erst in einer Zeit erfolgt, wo sie wenig mehr nützt, bilden gleich¬
falls keine Vorbedingung."


Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches

ist, daß eine Person des Vernunftgebrauchs beraubt ist. Das Strafgesetzbuch
bezeichnet die Geisteszustände, die die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit auf¬
heben, als Zustände von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistes¬
thätigkeit, durch die die freie Willensbestimmung ausgeschlossen wird. Für
die Bestimmung der Vorbedingung der Entmündigung ist diese Ausdrucksweise
uicht verwendbar. Das Strafgesetzbuch hat vorzugsweise die in der Vergangen¬
heit liegende Zeit der That ins Auge zu fassen und namentlich auch die
vorübergehenden Umstände, die die Geistesthätigkeit beeinträchtigen, zu berück¬
sichtigen. Die Entmündigung ist für die Zukunft und für eine gewisse Dauer
berechnet; Zustände, die in vorübergehenden Verhältnissen ihren Grund haben,
kommen nicht in Betracht. Von einer nähern Bezeichnung der sogenannten
Geisteskrankheiten ist abgesehen, vermieden insbesondre die Einteilung in Naserei,
Wahnsinn und Blödsinn. Jeder Versuch einer derartigen Scheidung ist be¬
denklich und zwecklos; bedenklich, weil nach dem Stande der Seelenheilkunde
die einzelnen Formen der Geistesstörungen weder erschöpfend aufgezählt, noch
ihre Stadien untereinander abgegrenzt werden können; zwecklos, weil weder
die Verschiedenheit der äußern Anzeichen, noch der Umstand, ob die Störung
vorzugsweise die eine oder die andre Seite der Geistesthätigkeit ergreift, für
die an einen solchen Zustand zu knüpfenden rechtlichen Folgen von maßgebender
Bedeutung sein kann."

Noch schwieriger wird für den Richter die Sache, wenn er entscheiden
muß, ob jemand seine Familie durch seine Verschwendung oder Trunksucht der
Gefahr des Notstandes aussetze. Der eine wird diese Gefahr als vorhanden
ansehen, wo sie der andre noch in weiter Ferne sieht. Die Motive geben ihm
nur negative Anhaltepunkte, wenn sie sagen: „Nicht jeder, den man im ge¬
meinen Leben mit dem Namen eines Verschwenders belegt, soll Gefahr laufen,
wegen Verschwendung entmündigt zu werden. Es genügt nicht, daß eine
Person einen übermäßigen, zu ihrem Vermögen in erheblichem Mißverhältnis
stehenden Aufwand macht. Worauf es ankommt, ist, daß die Person einen
Hang zur zweck- und nutzlosen Vermögensverschleuderung hat, der die Besorgnis
begründet erscheinen läßt, daß sie durch ihr entsprechend an den Tag ge¬
legtes Verhalten sich und ihre Familie dem Notstände preisgiebt. Unerheblich
ist, ob das die wirtschaftliche Existenz bedrohende Gebühren in unmüßigen
Geldausgaben, unbesonnenen Schuldenmachen, in unverantwortlicher Geschäfts¬
führung oder Vernachlässigung der Wirtschaft besteht. Erforderlich ist auch
nicht, daß die Person Vermögen besitzt, selbst der mittellose Schuldenmacher
kann entmündigt werden. Ebenso wenig ist erforderlich, daß bereits ein be¬
deutender Teil vorhandnen Vermögens durchgebracht sei. Fruchtlose Besserungs¬
versuche, die erfahrungsgemäß in der Regel nur dazu führen, daß die Ent¬
mündigung erst in einer Zeit erfolgt, wo sie wenig mehr nützt, bilden gleich¬
falls keine Vorbedingung."


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[0064] Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches ist, daß eine Person des Vernunftgebrauchs beraubt ist. Das Strafgesetzbuch bezeichnet die Geisteszustände, die die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit auf¬ heben, als Zustände von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistes¬ thätigkeit, durch die die freie Willensbestimmung ausgeschlossen wird. Für die Bestimmung der Vorbedingung der Entmündigung ist diese Ausdrucksweise uicht verwendbar. Das Strafgesetzbuch hat vorzugsweise die in der Vergangen¬ heit liegende Zeit der That ins Auge zu fassen und namentlich auch die vorübergehenden Umstände, die die Geistesthätigkeit beeinträchtigen, zu berück¬ sichtigen. Die Entmündigung ist für die Zukunft und für eine gewisse Dauer berechnet; Zustände, die in vorübergehenden Verhältnissen ihren Grund haben, kommen nicht in Betracht. Von einer nähern Bezeichnung der sogenannten Geisteskrankheiten ist abgesehen, vermieden insbesondre die Einteilung in Naserei, Wahnsinn und Blödsinn. Jeder Versuch einer derartigen Scheidung ist be¬ denklich und zwecklos; bedenklich, weil nach dem Stande der Seelenheilkunde die einzelnen Formen der Geistesstörungen weder erschöpfend aufgezählt, noch ihre Stadien untereinander abgegrenzt werden können; zwecklos, weil weder die Verschiedenheit der äußern Anzeichen, noch der Umstand, ob die Störung vorzugsweise die eine oder die andre Seite der Geistesthätigkeit ergreift, für die an einen solchen Zustand zu knüpfenden rechtlichen Folgen von maßgebender Bedeutung sein kann." Noch schwieriger wird für den Richter die Sache, wenn er entscheiden muß, ob jemand seine Familie durch seine Verschwendung oder Trunksucht der Gefahr des Notstandes aussetze. Der eine wird diese Gefahr als vorhanden ansehen, wo sie der andre noch in weiter Ferne sieht. Die Motive geben ihm nur negative Anhaltepunkte, wenn sie sagen: „Nicht jeder, den man im ge¬ meinen Leben mit dem Namen eines Verschwenders belegt, soll Gefahr laufen, wegen Verschwendung entmündigt zu werden. Es genügt nicht, daß eine Person einen übermäßigen, zu ihrem Vermögen in erheblichem Mißverhältnis stehenden Aufwand macht. Worauf es ankommt, ist, daß die Person einen Hang zur zweck- und nutzlosen Vermögensverschleuderung hat, der die Besorgnis begründet erscheinen läßt, daß sie durch ihr entsprechend an den Tag ge¬ legtes Verhalten sich und ihre Familie dem Notstände preisgiebt. Unerheblich ist, ob das die wirtschaftliche Existenz bedrohende Gebühren in unmüßigen Geldausgaben, unbesonnenen Schuldenmachen, in unverantwortlicher Geschäfts¬ führung oder Vernachlässigung der Wirtschaft besteht. Erforderlich ist auch nicht, daß die Person Vermögen besitzt, selbst der mittellose Schuldenmacher kann entmündigt werden. Ebenso wenig ist erforderlich, daß bereits ein be¬ deutender Teil vorhandnen Vermögens durchgebracht sei. Fruchtlose Besserungs¬ versuche, die erfahrungsgemäß in der Regel nur dazu führen, daß die Ent¬ mündigung erst in einer Zeit erfolgt, wo sie wenig mehr nützt, bilden gleich¬ falls keine Vorbedingung."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/64>, abgerufen am 29.12.2024.