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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches

einer großen Entwicklung, in der das ungeschriebne Recht den breitesten Raum
einnehmen wird. Auf Schritt und Tritt legt es Fragen nahe, die der Text
des Gesetzes nicht beantwortet. Es wird also zunächst aus die frühere Gerichts¬
praxis zurückgegriffen werden müssen, die "Entscheidungen" werden bei uns in
kürzester Zeit eine ebenso große Rolle spielen, wie die "Reports" in England,
und diese Bedeutung wird immer mehr zunehmen, je mehr die Kulturentwicklung
eine Anlehnung an das Alte unmöglich macht und eine Neugestaltung des
Bestehenden erfordert. Zur Erläuterung des Gesagten greise ich willkürlich
die ersten zehn Paragraphen des bürgerlichen Gesetzbuchs heraus. Die Schlüsse
auf die übrigen 2375 werden sich dann von selbst ergeben.

Gleich der erste Paragraph: "Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt
mit der Vollendung der Geburt" stellt uns vor die Frage, die die alten
Römer ausführlich beantwortet hatten: Wann ist die Geburt vollendet? Die
Motive sprechen sich darüber folgendermaßen aus: "Der lebend Geborene ist
rechtsfähig, das Erfordernis der lebend Geborenseins sehlt, wenn das Kind
nach der Geburt keine Äußerung der Lebensthätigkeit zeigt." Aber damit sind
die Merkmale für die Annahme des lebend Geborenseins noch nicht gegeben.
Wenn also der Beweispflichtige die Thatsache beweisen muß, so wird es bei
dem Richter oder dem ärztlichen Sachverständigen stehen, ob der Beweis als
gelungen bezeichnet werden kann. Daß hierin, wie in jeder Frage, wo ärztliche
Gutachten die Grundlage bilden, die verschiedensten Ansichten herrschen können,
liegt auf der Hand.

Ein Minderjähriger, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, kann
durch Beschluß des Vormuudschaftsgerichts nach § 3 für volljährig erklärt
werden, wozu K 5 hinzufügt: "Die Volljährigkeitserklärung foll nur erfolgen,
wenn sie das Beste des Minderjährigen befördert." Es ist also durchaus in
das Belieben des Vormuudschaftsgerichts gestellt, die Volljährigkeitserklärung
auszusprechen; wann und unter welchen Umständen, wird von der Ansicht des
Richters abhängen, was er für das Beste des Mündels hält. Einen relativen:
Begriff kann es aber gar nicht geben. Dasselbe gilt von 8 6, der die Rechts-
gründe zur Entmündigung einer Person angiebt. Wer infolge von Geistes¬
krankheit oder von Geistesschwache seine Angelegenheiten nicht führen kann,
wer durch Verschwendung sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes
aussetzt, wer infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu be¬
sorgen vermag, oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes
aussetzt, oder die Sicherheit andrer gefährdet, kann entmündigt werden. Es
ist also wieder Sache des Richters, zu entscheiden, ob jemand seine Angelegen¬
heiten wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwache nicht besorgen könne; hier
find ihm also gleichzeitig die schwierigsten Fragen vorgelegt, deren Beant¬
wortung niemals allgemein giltig sein kann. Die Ausführungen der Motive
geben einen Begriff davon. "Voraussetzung dieser Entmündigung, sagen sie,


Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches

einer großen Entwicklung, in der das ungeschriebne Recht den breitesten Raum
einnehmen wird. Auf Schritt und Tritt legt es Fragen nahe, die der Text
des Gesetzes nicht beantwortet. Es wird also zunächst aus die frühere Gerichts¬
praxis zurückgegriffen werden müssen, die „Entscheidungen" werden bei uns in
kürzester Zeit eine ebenso große Rolle spielen, wie die „Reports" in England,
und diese Bedeutung wird immer mehr zunehmen, je mehr die Kulturentwicklung
eine Anlehnung an das Alte unmöglich macht und eine Neugestaltung des
Bestehenden erfordert. Zur Erläuterung des Gesagten greise ich willkürlich
die ersten zehn Paragraphen des bürgerlichen Gesetzbuchs heraus. Die Schlüsse
auf die übrigen 2375 werden sich dann von selbst ergeben.

Gleich der erste Paragraph: „Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt
mit der Vollendung der Geburt" stellt uns vor die Frage, die die alten
Römer ausführlich beantwortet hatten: Wann ist die Geburt vollendet? Die
Motive sprechen sich darüber folgendermaßen aus: „Der lebend Geborene ist
rechtsfähig, das Erfordernis der lebend Geborenseins sehlt, wenn das Kind
nach der Geburt keine Äußerung der Lebensthätigkeit zeigt." Aber damit sind
die Merkmale für die Annahme des lebend Geborenseins noch nicht gegeben.
Wenn also der Beweispflichtige die Thatsache beweisen muß, so wird es bei
dem Richter oder dem ärztlichen Sachverständigen stehen, ob der Beweis als
gelungen bezeichnet werden kann. Daß hierin, wie in jeder Frage, wo ärztliche
Gutachten die Grundlage bilden, die verschiedensten Ansichten herrschen können,
liegt auf der Hand.

Ein Minderjähriger, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, kann
durch Beschluß des Vormuudschaftsgerichts nach § 3 für volljährig erklärt
werden, wozu K 5 hinzufügt: „Die Volljährigkeitserklärung foll nur erfolgen,
wenn sie das Beste des Minderjährigen befördert." Es ist also durchaus in
das Belieben des Vormuudschaftsgerichts gestellt, die Volljährigkeitserklärung
auszusprechen; wann und unter welchen Umständen, wird von der Ansicht des
Richters abhängen, was er für das Beste des Mündels hält. Einen relativen:
Begriff kann es aber gar nicht geben. Dasselbe gilt von 8 6, der die Rechts-
gründe zur Entmündigung einer Person angiebt. Wer infolge von Geistes¬
krankheit oder von Geistesschwache seine Angelegenheiten nicht führen kann,
wer durch Verschwendung sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes
aussetzt, wer infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu be¬
sorgen vermag, oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes
aussetzt, oder die Sicherheit andrer gefährdet, kann entmündigt werden. Es
ist also wieder Sache des Richters, zu entscheiden, ob jemand seine Angelegen¬
heiten wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwache nicht besorgen könne; hier
find ihm also gleichzeitig die schwierigsten Fragen vorgelegt, deren Beant¬
wortung niemals allgemein giltig sein kann. Die Ausführungen der Motive
geben einen Begriff davon. „Voraussetzung dieser Entmündigung, sagen sie,


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[0063] Das ungeschriebne Recht des bürgerlichen Gesetzbuches einer großen Entwicklung, in der das ungeschriebne Recht den breitesten Raum einnehmen wird. Auf Schritt und Tritt legt es Fragen nahe, die der Text des Gesetzes nicht beantwortet. Es wird also zunächst aus die frühere Gerichts¬ praxis zurückgegriffen werden müssen, die „Entscheidungen" werden bei uns in kürzester Zeit eine ebenso große Rolle spielen, wie die „Reports" in England, und diese Bedeutung wird immer mehr zunehmen, je mehr die Kulturentwicklung eine Anlehnung an das Alte unmöglich macht und eine Neugestaltung des Bestehenden erfordert. Zur Erläuterung des Gesagten greise ich willkürlich die ersten zehn Paragraphen des bürgerlichen Gesetzbuchs heraus. Die Schlüsse auf die übrigen 2375 werden sich dann von selbst ergeben. Gleich der erste Paragraph: „Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt" stellt uns vor die Frage, die die alten Römer ausführlich beantwortet hatten: Wann ist die Geburt vollendet? Die Motive sprechen sich darüber folgendermaßen aus: „Der lebend Geborene ist rechtsfähig, das Erfordernis der lebend Geborenseins sehlt, wenn das Kind nach der Geburt keine Äußerung der Lebensthätigkeit zeigt." Aber damit sind die Merkmale für die Annahme des lebend Geborenseins noch nicht gegeben. Wenn also der Beweispflichtige die Thatsache beweisen muß, so wird es bei dem Richter oder dem ärztlichen Sachverständigen stehen, ob der Beweis als gelungen bezeichnet werden kann. Daß hierin, wie in jeder Frage, wo ärztliche Gutachten die Grundlage bilden, die verschiedensten Ansichten herrschen können, liegt auf der Hand. Ein Minderjähriger, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, kann durch Beschluß des Vormuudschaftsgerichts nach § 3 für volljährig erklärt werden, wozu K 5 hinzufügt: „Die Volljährigkeitserklärung foll nur erfolgen, wenn sie das Beste des Minderjährigen befördert." Es ist also durchaus in das Belieben des Vormuudschaftsgerichts gestellt, die Volljährigkeitserklärung auszusprechen; wann und unter welchen Umständen, wird von der Ansicht des Richters abhängen, was er für das Beste des Mündels hält. Einen relativen: Begriff kann es aber gar nicht geben. Dasselbe gilt von 8 6, der die Rechts- gründe zur Entmündigung einer Person angiebt. Wer infolge von Geistes¬ krankheit oder von Geistesschwache seine Angelegenheiten nicht führen kann, wer durch Verschwendung sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt, wer infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu be¬ sorgen vermag, oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt, oder die Sicherheit andrer gefährdet, kann entmündigt werden. Es ist also wieder Sache des Richters, zu entscheiden, ob jemand seine Angelegen¬ heiten wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwache nicht besorgen könne; hier find ihm also gleichzeitig die schwierigsten Fragen vorgelegt, deren Beant¬ wortung niemals allgemein giltig sein kann. Die Ausführungen der Motive geben einen Begriff davon. „Voraussetzung dieser Entmündigung, sagen sie,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/63>, abgerufen am 23.07.2024.