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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Einiges von der deutschen Rechtseinheit

Ein andrer, gleichfalls dem Erbrecht ungehöriger Punkt mag deshalb hier
erwähnt werden, weil er, mit Unrecht, besonders abfällig beurteilt worden ist:
die Haftung des Erben für die Schulden des Erblassers. Es ist richtig, daß
das Landrecht in diesem Punkte eine große Gefahr und eine furchtbare Härte
gerade für den Nechtsunkuudigen enthält, indem es für die "Jnventarerrichtnng"
ein für allemal eine bestimmte Frist setzt und an ihre Verabsäumung ohne
weiteres die Rechtsfolge der unbeschränkten Schuldenhastuug knüpft. In der
Praxis ist der Fall keineswegs selten, daß der "Erbe" von dem Nachlaß kein
einziges Stück erhält und gleichwohl die gesamten Schulden des Erblassers
aus eignem Vermögen bezahlen muß. Stirbt z. B. in der Fremde ein Sohn,
ein Bruder, und gelangt, wie es leicht vorkommen kann, von dem Nachlasse
nicht das geringste an die Eltern oder Geschwister, so wird selbst der juristisch
Gebildete schwerlich daran denken, dem Amtsgerichte des letzten Wohnsitzes ein
Inventar einzureichen, das in diesem Falle ja aus lauter Vaeat bestehen müßte.
Meidet sich dann nach dem Ablauf der gesetzlichen neun Monate auf einmal
ein bis dahin völlig unbekannt gebliebner Gläubiger, so kann kein Anwalt und
kein Richter die Eltern oder sonstigen Erben davor retten, auch die beträcht¬
lichsten Schulden des Verstorbnen zu bezahlen; denn -- sie sind dnrch Ver¬
säumung der Juventarfrist "Erben ohne Vorbehalt" geworden. Das bürger¬
liche Gesetzbuch beseitigt diese Härte; es läßt die unbeschränkte Schulden¬
haftung erst eintreten, wenn, auf Antrag eines Nachlaßgläubigers, das
Nachlaßgericht dem Erben eine besondre Jnventarfrist bestimmt hat und
der Erbe diese ungenützt hat verstreichen lassen. Damit ist wohl allen be¬
rechtigten Ansprüchen genügt; wer von Gerichts wegen aufgefordert wird, den
ihm zur Kenntnis und zum Gewahrsam gekommnen Nachlaßbestand anzuzeigen,
und die ihm ausdrücklich gesetzte Frist einfach unbeachtet läßt, dem ist auch
mit den schönsten Schutzwehren und Nechtswohlthaten für Rechtsunkuudige
nicht zu helfen!

Auch sonst ist die Regelung des schwierigen Verhältnisses zwischen dem
Nachlaßgläubiger und dem Erben durchweg als billig und zweckmäßig anzu¬
erkennen; sie beruht auf dein Gedanken, daß bei verwickelten Nachlaßverhält¬
nissen gerichtliche Vermittlung erfahrungsgemäß unvermeidlich ist; erscheint der
Nachlaß hierzu allzu geringfügig, so befreit sich der Erbe durch einfache
Herausgabe des Nachlasses an den Gläubiger oder Auszahlung seines Wertes.

Mit dem Tode des Vaters erhält fortan die Mutter über ihre eiguen
minderjährigen Kinder von Rechts wegen und ohne gerichtliche Einmischung
die volle elterliche Gewalt. Diese Vorschrift stammt aus dem ältesten deutschen
Rechte und war in Deutschland fast ganz verschwunden. Wer sich selbst als
Witwe hat zum Vormunde bestellen lassen müssen und dabei an einen ängst¬
lichen und peinlichen Vormundschaftsrichter geraten ist, wird den Segen des
neuen Rechts, gerade bei kleinern Verhältnissen, zu würdigen wissen.


Einiges von der deutschen Rechtseinheit

Ein andrer, gleichfalls dem Erbrecht ungehöriger Punkt mag deshalb hier
erwähnt werden, weil er, mit Unrecht, besonders abfällig beurteilt worden ist:
die Haftung des Erben für die Schulden des Erblassers. Es ist richtig, daß
das Landrecht in diesem Punkte eine große Gefahr und eine furchtbare Härte
gerade für den Nechtsunkuudigen enthält, indem es für die „Jnventarerrichtnng"
ein für allemal eine bestimmte Frist setzt und an ihre Verabsäumung ohne
weiteres die Rechtsfolge der unbeschränkten Schuldenhastuug knüpft. In der
Praxis ist der Fall keineswegs selten, daß der „Erbe" von dem Nachlaß kein
einziges Stück erhält und gleichwohl die gesamten Schulden des Erblassers
aus eignem Vermögen bezahlen muß. Stirbt z. B. in der Fremde ein Sohn,
ein Bruder, und gelangt, wie es leicht vorkommen kann, von dem Nachlasse
nicht das geringste an die Eltern oder Geschwister, so wird selbst der juristisch
Gebildete schwerlich daran denken, dem Amtsgerichte des letzten Wohnsitzes ein
Inventar einzureichen, das in diesem Falle ja aus lauter Vaeat bestehen müßte.
Meidet sich dann nach dem Ablauf der gesetzlichen neun Monate auf einmal
ein bis dahin völlig unbekannt gebliebner Gläubiger, so kann kein Anwalt und
kein Richter die Eltern oder sonstigen Erben davor retten, auch die beträcht¬
lichsten Schulden des Verstorbnen zu bezahlen; denn — sie sind dnrch Ver¬
säumung der Juventarfrist „Erben ohne Vorbehalt" geworden. Das bürger¬
liche Gesetzbuch beseitigt diese Härte; es läßt die unbeschränkte Schulden¬
haftung erst eintreten, wenn, auf Antrag eines Nachlaßgläubigers, das
Nachlaßgericht dem Erben eine besondre Jnventarfrist bestimmt hat und
der Erbe diese ungenützt hat verstreichen lassen. Damit ist wohl allen be¬
rechtigten Ansprüchen genügt; wer von Gerichts wegen aufgefordert wird, den
ihm zur Kenntnis und zum Gewahrsam gekommnen Nachlaßbestand anzuzeigen,
und die ihm ausdrücklich gesetzte Frist einfach unbeachtet läßt, dem ist auch
mit den schönsten Schutzwehren und Nechtswohlthaten für Rechtsunkuudige
nicht zu helfen!

Auch sonst ist die Regelung des schwierigen Verhältnisses zwischen dem
Nachlaßgläubiger und dem Erben durchweg als billig und zweckmäßig anzu¬
erkennen; sie beruht auf dein Gedanken, daß bei verwickelten Nachlaßverhält¬
nissen gerichtliche Vermittlung erfahrungsgemäß unvermeidlich ist; erscheint der
Nachlaß hierzu allzu geringfügig, so befreit sich der Erbe durch einfache
Herausgabe des Nachlasses an den Gläubiger oder Auszahlung seines Wertes.

Mit dem Tode des Vaters erhält fortan die Mutter über ihre eiguen
minderjährigen Kinder von Rechts wegen und ohne gerichtliche Einmischung
die volle elterliche Gewalt. Diese Vorschrift stammt aus dem ältesten deutschen
Rechte und war in Deutschland fast ganz verschwunden. Wer sich selbst als
Witwe hat zum Vormunde bestellen lassen müssen und dabei an einen ängst¬
lichen und peinlichen Vormundschaftsrichter geraten ist, wird den Segen des
neuen Rechts, gerade bei kleinern Verhältnissen, zu würdigen wissen.


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[0508] Einiges von der deutschen Rechtseinheit Ein andrer, gleichfalls dem Erbrecht ungehöriger Punkt mag deshalb hier erwähnt werden, weil er, mit Unrecht, besonders abfällig beurteilt worden ist: die Haftung des Erben für die Schulden des Erblassers. Es ist richtig, daß das Landrecht in diesem Punkte eine große Gefahr und eine furchtbare Härte gerade für den Nechtsunkuudigen enthält, indem es für die „Jnventarerrichtnng" ein für allemal eine bestimmte Frist setzt und an ihre Verabsäumung ohne weiteres die Rechtsfolge der unbeschränkten Schuldenhastuug knüpft. In der Praxis ist der Fall keineswegs selten, daß der „Erbe" von dem Nachlaß kein einziges Stück erhält und gleichwohl die gesamten Schulden des Erblassers aus eignem Vermögen bezahlen muß. Stirbt z. B. in der Fremde ein Sohn, ein Bruder, und gelangt, wie es leicht vorkommen kann, von dem Nachlasse nicht das geringste an die Eltern oder Geschwister, so wird selbst der juristisch Gebildete schwerlich daran denken, dem Amtsgerichte des letzten Wohnsitzes ein Inventar einzureichen, das in diesem Falle ja aus lauter Vaeat bestehen müßte. Meidet sich dann nach dem Ablauf der gesetzlichen neun Monate auf einmal ein bis dahin völlig unbekannt gebliebner Gläubiger, so kann kein Anwalt und kein Richter die Eltern oder sonstigen Erben davor retten, auch die beträcht¬ lichsten Schulden des Verstorbnen zu bezahlen; denn — sie sind dnrch Ver¬ säumung der Juventarfrist „Erben ohne Vorbehalt" geworden. Das bürger¬ liche Gesetzbuch beseitigt diese Härte; es läßt die unbeschränkte Schulden¬ haftung erst eintreten, wenn, auf Antrag eines Nachlaßgläubigers, das Nachlaßgericht dem Erben eine besondre Jnventarfrist bestimmt hat und der Erbe diese ungenützt hat verstreichen lassen. Damit ist wohl allen be¬ rechtigten Ansprüchen genügt; wer von Gerichts wegen aufgefordert wird, den ihm zur Kenntnis und zum Gewahrsam gekommnen Nachlaßbestand anzuzeigen, und die ihm ausdrücklich gesetzte Frist einfach unbeachtet läßt, dem ist auch mit den schönsten Schutzwehren und Nechtswohlthaten für Rechtsunkuudige nicht zu helfen! Auch sonst ist die Regelung des schwierigen Verhältnisses zwischen dem Nachlaßgläubiger und dem Erben durchweg als billig und zweckmäßig anzu¬ erkennen; sie beruht auf dein Gedanken, daß bei verwickelten Nachlaßverhält¬ nissen gerichtliche Vermittlung erfahrungsgemäß unvermeidlich ist; erscheint der Nachlaß hierzu allzu geringfügig, so befreit sich der Erbe durch einfache Herausgabe des Nachlasses an den Gläubiger oder Auszahlung seines Wertes. Mit dem Tode des Vaters erhält fortan die Mutter über ihre eiguen minderjährigen Kinder von Rechts wegen und ohne gerichtliche Einmischung die volle elterliche Gewalt. Diese Vorschrift stammt aus dem ältesten deutschen Rechte und war in Deutschland fast ganz verschwunden. Wer sich selbst als Witwe hat zum Vormunde bestellen lassen müssen und dabei an einen ängst¬ lichen und peinlichen Vormundschaftsrichter geraten ist, wird den Segen des neuen Rechts, gerade bei kleinern Verhältnissen, zu würdigen wissen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/508>, abgerufen am 29.06.2024.