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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

Joggelis -- also durchaus soziale Dinge, ohne daß sich das Soziale allzu
sehr aufdrängte, "Ali, der Pächter" ist vielmehr als bloße Erzählung eine der
besten Gotthelfs, wenn er auch den Reiz des "Knechts" nicht ganz erreicht.

Eine sehr wichtige Schrift ist die "Käserei in der Vehfreude," die Dar¬
stellung des genossenschaftlichen Lebens in einer Dorfgemeinde, also ein Stoff,
der wieder die naturalistische Eroberung eines weiten Gebiets für die Kunst
bedeutet. Mag auch Keller in seiner Besprechung des Buches sagen, daß in
der "Käserei" soviel von dem animalischen Verdauungs- und Sekretionsprozeß
die Rede sei, daß der verzärtelte Leser mehr als einmal unwillkürlich das
Taschentuch an die Nase führe, mag selbst Manuel finden, daß die Farben
hier grell aufgetragen seien, und ein Freund des Dichters von "zu viel Dreck
und Gestank" in dem Buche sprechen, wir Kinder einer andern Zeit, die wir,
so hoch wir auch das reine Kunstwerk schätzen, doch auch von Ernst, Wahrheit
und Genauigkeit einer Darstellung etwas halten, wissen ein Werk wie dieses,
das geradezu die Naturgeschichte des Dorfes giebt, zu würdigen. Unwillkürlich
wird man angetrieben, diese "Käserei" mit Zolas 1,3, Isrrö zu vergleichen,
und da kaun man sich denn doch nicht verhehlen, daß die Schilderung des
Schweizers weit erfreulicher wirkt als die des Franzosen -- Zola ist eben
Stadtmensch und sieht das Dorfleben höchst einseitig, auch mag der französische,
überhaupt der romanische Bauer uoch "schlimmer" als der deutsche sein.
Schlimm genug ist dieser freilich auch, aber die Lichtseiten des Banern-
lebens sind doch nicht zu übersehen; auch hat das Gotthelf nicht gethan, er
hat in der Liebesgeschichte von Felix und Anneli ein Stück Dvrfpoesie geschaffen,
das an Unmittelbarkeit seinesgleichen sucht. Dazu stehen dann die schmutzigen
Dinge, zu denen wir die genaue technische Darstellung der Käsebereitung nicht
rechnen wollen -- hier ist Gotthelf der Vorgänger aller modernen Natura¬
listen --, in einem künstlerisch immer noch zu rechtfertigenden Gegensatz.

Am meisten getadelt worden von sämtlichen Schriften Gotthelfs ist "Zeit¬
geist und Bernergeist" (1852), und das Werk verdient auch diesen Tadel;
denn es ist eine Parteischrift und nicht frei von den Einseitigkeiten einer solchen.
Wir haben Vitzius als echt konservativen Mann erfunden; daraus folgt ohne
weiteres, daß er, leidenschaftlich wie er war, den Radikalismus hassen mußte;
immerhin ist er so objektiv, zu erklären, daß er nicht die radikale Politik, soweit
sie eben Politik bleibe, sondern "die Sekte des Radikalismus, das eigentlich
propagandistische und zersetzende Wesen desselben" bekämpfe. Er thut das,
indem er die Schicksale zweier befreundete" Bauern gegenüber stellt, so, daß
dem einem, dem Konservativen, alles gedeiht, der andre, der Radikale, wirt¬
schaftlich und sittlich beinahe zu Grunde geht. Keller hat das für unmöglich
erklärt, insofern es die Wirkung des Zeitgeistes auf einen sonst tüchtigen
Bauern vorstellen soll: "Wer die Bauern kennt, weiß zu gut, daß diese sich
un-de so leicht aus dem Häuschen bringen lassen, und es geht gerade über die


Jeremias Gotthelf

Joggelis — also durchaus soziale Dinge, ohne daß sich das Soziale allzu
sehr aufdrängte, „Ali, der Pächter" ist vielmehr als bloße Erzählung eine der
besten Gotthelfs, wenn er auch den Reiz des „Knechts" nicht ganz erreicht.

Eine sehr wichtige Schrift ist die „Käserei in der Vehfreude," die Dar¬
stellung des genossenschaftlichen Lebens in einer Dorfgemeinde, also ein Stoff,
der wieder die naturalistische Eroberung eines weiten Gebiets für die Kunst
bedeutet. Mag auch Keller in seiner Besprechung des Buches sagen, daß in
der „Käserei" soviel von dem animalischen Verdauungs- und Sekretionsprozeß
die Rede sei, daß der verzärtelte Leser mehr als einmal unwillkürlich das
Taschentuch an die Nase führe, mag selbst Manuel finden, daß die Farben
hier grell aufgetragen seien, und ein Freund des Dichters von „zu viel Dreck
und Gestank" in dem Buche sprechen, wir Kinder einer andern Zeit, die wir,
so hoch wir auch das reine Kunstwerk schätzen, doch auch von Ernst, Wahrheit
und Genauigkeit einer Darstellung etwas halten, wissen ein Werk wie dieses,
das geradezu die Naturgeschichte des Dorfes giebt, zu würdigen. Unwillkürlich
wird man angetrieben, diese „Käserei" mit Zolas 1,3, Isrrö zu vergleichen,
und da kaun man sich denn doch nicht verhehlen, daß die Schilderung des
Schweizers weit erfreulicher wirkt als die des Franzosen — Zola ist eben
Stadtmensch und sieht das Dorfleben höchst einseitig, auch mag der französische,
überhaupt der romanische Bauer uoch „schlimmer" als der deutsche sein.
Schlimm genug ist dieser freilich auch, aber die Lichtseiten des Banern-
lebens sind doch nicht zu übersehen; auch hat das Gotthelf nicht gethan, er
hat in der Liebesgeschichte von Felix und Anneli ein Stück Dvrfpoesie geschaffen,
das an Unmittelbarkeit seinesgleichen sucht. Dazu stehen dann die schmutzigen
Dinge, zu denen wir die genaue technische Darstellung der Käsebereitung nicht
rechnen wollen — hier ist Gotthelf der Vorgänger aller modernen Natura¬
listen —, in einem künstlerisch immer noch zu rechtfertigenden Gegensatz.

Am meisten getadelt worden von sämtlichen Schriften Gotthelfs ist „Zeit¬
geist und Bernergeist" (1852), und das Werk verdient auch diesen Tadel;
denn es ist eine Parteischrift und nicht frei von den Einseitigkeiten einer solchen.
Wir haben Vitzius als echt konservativen Mann erfunden; daraus folgt ohne
weiteres, daß er, leidenschaftlich wie er war, den Radikalismus hassen mußte;
immerhin ist er so objektiv, zu erklären, daß er nicht die radikale Politik, soweit
sie eben Politik bleibe, sondern „die Sekte des Radikalismus, das eigentlich
propagandistische und zersetzende Wesen desselben" bekämpfe. Er thut das,
indem er die Schicksale zweier befreundete» Bauern gegenüber stellt, so, daß
dem einem, dem Konservativen, alles gedeiht, der andre, der Radikale, wirt¬
schaftlich und sittlich beinahe zu Grunde geht. Keller hat das für unmöglich
erklärt, insofern es die Wirkung des Zeitgeistes auf einen sonst tüchtigen
Bauern vorstellen soll: „Wer die Bauern kennt, weiß zu gut, daß diese sich
un-de so leicht aus dem Häuschen bringen lassen, und es geht gerade über die


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[0423] Jeremias Gotthelf Joggelis — also durchaus soziale Dinge, ohne daß sich das Soziale allzu sehr aufdrängte, „Ali, der Pächter" ist vielmehr als bloße Erzählung eine der besten Gotthelfs, wenn er auch den Reiz des „Knechts" nicht ganz erreicht. Eine sehr wichtige Schrift ist die „Käserei in der Vehfreude," die Dar¬ stellung des genossenschaftlichen Lebens in einer Dorfgemeinde, also ein Stoff, der wieder die naturalistische Eroberung eines weiten Gebiets für die Kunst bedeutet. Mag auch Keller in seiner Besprechung des Buches sagen, daß in der „Käserei" soviel von dem animalischen Verdauungs- und Sekretionsprozeß die Rede sei, daß der verzärtelte Leser mehr als einmal unwillkürlich das Taschentuch an die Nase führe, mag selbst Manuel finden, daß die Farben hier grell aufgetragen seien, und ein Freund des Dichters von „zu viel Dreck und Gestank" in dem Buche sprechen, wir Kinder einer andern Zeit, die wir, so hoch wir auch das reine Kunstwerk schätzen, doch auch von Ernst, Wahrheit und Genauigkeit einer Darstellung etwas halten, wissen ein Werk wie dieses, das geradezu die Naturgeschichte des Dorfes giebt, zu würdigen. Unwillkürlich wird man angetrieben, diese „Käserei" mit Zolas 1,3, Isrrö zu vergleichen, und da kaun man sich denn doch nicht verhehlen, daß die Schilderung des Schweizers weit erfreulicher wirkt als die des Franzosen — Zola ist eben Stadtmensch und sieht das Dorfleben höchst einseitig, auch mag der französische, überhaupt der romanische Bauer uoch „schlimmer" als der deutsche sein. Schlimm genug ist dieser freilich auch, aber die Lichtseiten des Banern- lebens sind doch nicht zu übersehen; auch hat das Gotthelf nicht gethan, er hat in der Liebesgeschichte von Felix und Anneli ein Stück Dvrfpoesie geschaffen, das an Unmittelbarkeit seinesgleichen sucht. Dazu stehen dann die schmutzigen Dinge, zu denen wir die genaue technische Darstellung der Käsebereitung nicht rechnen wollen — hier ist Gotthelf der Vorgänger aller modernen Natura¬ listen —, in einem künstlerisch immer noch zu rechtfertigenden Gegensatz. Am meisten getadelt worden von sämtlichen Schriften Gotthelfs ist „Zeit¬ geist und Bernergeist" (1852), und das Werk verdient auch diesen Tadel; denn es ist eine Parteischrift und nicht frei von den Einseitigkeiten einer solchen. Wir haben Vitzius als echt konservativen Mann erfunden; daraus folgt ohne weiteres, daß er, leidenschaftlich wie er war, den Radikalismus hassen mußte; immerhin ist er so objektiv, zu erklären, daß er nicht die radikale Politik, soweit sie eben Politik bleibe, sondern „die Sekte des Radikalismus, das eigentlich propagandistische und zersetzende Wesen desselben" bekämpfe. Er thut das, indem er die Schicksale zweier befreundete» Bauern gegenüber stellt, so, daß dem einem, dem Konservativen, alles gedeiht, der andre, der Radikale, wirt¬ schaftlich und sittlich beinahe zu Grunde geht. Keller hat das für unmöglich erklärt, insofern es die Wirkung des Zeitgeistes auf einen sonst tüchtigen Bauern vorstellen soll: „Wer die Bauern kennt, weiß zu gut, daß diese sich un-de so leicht aus dem Häuschen bringen lassen, und es geht gerade über die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/423>, abgerufen am 24.07.2024.