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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

Wahre selten wird oder gar nicht zu haben ist. Ein Surrogat verdrängt das
andre, keins hat Bestand. So würde der Sozialismus alsbald vom Kommu¬
nismus verschlungen, der Kommunismus vom Despotismus, und dies wechselnde
Elend brächte die armen Sünder vielleicht wieder zu dem, der den glimmenden
Docht nicht auslöscht, den Elenden nicht verstößt. Gar mancher begründet
den Sozialismus mit dem Christentum und weiß nichts von Liebe, ist geneigt,
Gott und Menschen zu hassen, ist Sozialist aus Neid und Haß, und Neid
und Haß sind bekanntlich nicht Liebe." Das ist eine Predigt, wird man
sagen -- aber es ist doch etwas andres als die beliebten Hetzereien gegen die
Sozialdemokratie, und die lächerlich dummen Scheinargumente gegen ihre An¬
schauungen, die wir in den bürgerlichen Zeitungen Tag sür Tag wiederholt
finden. Auch wer Gotthelfs christlichen Standpunkt nicht teilt, wird zugeben, daß
die sozialen Fragen vor allem durch Änderung der herrschenden Anschauungen
und Gesinnungen gelöst werden müssen, daß die Wiedergeburt des innern
Menschen bei Arbeitgebern wie Arbeitern die Hauptsache ist. Aber daran denkt
man jetzt, fünfzig Jahre, nachdem das Gotthelf geschrieben hat, weniger als je,
zumal in den am meisten beteiligten Kreisen.

"Küthi. die Großmutter," Gotthelfs zweites gegen den Sozialismus ge¬
richtetes Buch, ist viel weniger polemisch als der "Handwerksgeselle," obwohl
die Predigten und Auseinandersetzungen auch hier nicht ganz fehlen, es ist fast
rein dichterischer, darstellender Natur und zeigt, daß man auch in der größten
Armut glücklich und zufrieden sein kann, und daß Gott die seinen nicht ver¬
läßt- Sieht man ganz von der Tendenz ab -- ihr ist entgegenzuhalten, daß
eine eigne Natur dazu gehört, Armut und die ihr immer noch zu teil werdende
Verachtung zu ertragen, ohne verbittert zu werden --, so erscheint "Kathi"
als ein vortreffliches Idyll, freilich ein Idyll, das viel Bewegung hat: Natur-
ereignisse und irdische Nöte treten genug ein, aber eine tapfre, gottesfürchtige
alte Frau überwindet sie mit Hilfe guter Menschen zum Teil, vor allem jedoch
durch eigne Pflichterfüllung. "Kathi, die Großmutter" ist dem Stoffe nach
die einfachste aller Geschichten Gotthelfs, "ein altes Mütterchen mit allen gro߬
mütterlichen und mütterlichen Schwachheiten, ein verwöhnter kleiner Junge und
zwei Hühner, ein schwarzes und ein weißes, das ist gleichsam die Familie, um
die sich die Erzählung dreht," aber gerade diese Einfachheit des Stoffes läßt
den großen innern Reichtum, über den der Dichter verfügt, umso mehr hervor¬
treten. "Kathi" hat daher stets für eins feiner anziehendsten Bücher gegolten.

Nach einigen kleinern Erzählungen gab Bitzius dann 1849 "Ali, den
Pächter," die Fortsetzung von "Ali, dem Knecht" heraus. Der Roman
schildert, wie Ali, der ganz in Erwerbsucht, der Klippe unermüdlich arbeitsamer
Naturen, aufgeht, dadurch in allerlei Versuchung und Stricke füllt und die
härtesten Schläge erdulden muß, aber durch die Tüchtigkeit seiner Frau ge¬
rettet wird, und damit im Zusammenhange den Untergang der Familie


Jeremias Gotthelf

Wahre selten wird oder gar nicht zu haben ist. Ein Surrogat verdrängt das
andre, keins hat Bestand. So würde der Sozialismus alsbald vom Kommu¬
nismus verschlungen, der Kommunismus vom Despotismus, und dies wechselnde
Elend brächte die armen Sünder vielleicht wieder zu dem, der den glimmenden
Docht nicht auslöscht, den Elenden nicht verstößt. Gar mancher begründet
den Sozialismus mit dem Christentum und weiß nichts von Liebe, ist geneigt,
Gott und Menschen zu hassen, ist Sozialist aus Neid und Haß, und Neid
und Haß sind bekanntlich nicht Liebe." Das ist eine Predigt, wird man
sagen — aber es ist doch etwas andres als die beliebten Hetzereien gegen die
Sozialdemokratie, und die lächerlich dummen Scheinargumente gegen ihre An¬
schauungen, die wir in den bürgerlichen Zeitungen Tag sür Tag wiederholt
finden. Auch wer Gotthelfs christlichen Standpunkt nicht teilt, wird zugeben, daß
die sozialen Fragen vor allem durch Änderung der herrschenden Anschauungen
und Gesinnungen gelöst werden müssen, daß die Wiedergeburt des innern
Menschen bei Arbeitgebern wie Arbeitern die Hauptsache ist. Aber daran denkt
man jetzt, fünfzig Jahre, nachdem das Gotthelf geschrieben hat, weniger als je,
zumal in den am meisten beteiligten Kreisen.

„Küthi. die Großmutter," Gotthelfs zweites gegen den Sozialismus ge¬
richtetes Buch, ist viel weniger polemisch als der „Handwerksgeselle," obwohl
die Predigten und Auseinandersetzungen auch hier nicht ganz fehlen, es ist fast
rein dichterischer, darstellender Natur und zeigt, daß man auch in der größten
Armut glücklich und zufrieden sein kann, und daß Gott die seinen nicht ver¬
läßt- Sieht man ganz von der Tendenz ab — ihr ist entgegenzuhalten, daß
eine eigne Natur dazu gehört, Armut und die ihr immer noch zu teil werdende
Verachtung zu ertragen, ohne verbittert zu werden —, so erscheint „Kathi"
als ein vortreffliches Idyll, freilich ein Idyll, das viel Bewegung hat: Natur-
ereignisse und irdische Nöte treten genug ein, aber eine tapfre, gottesfürchtige
alte Frau überwindet sie mit Hilfe guter Menschen zum Teil, vor allem jedoch
durch eigne Pflichterfüllung. „Kathi, die Großmutter" ist dem Stoffe nach
die einfachste aller Geschichten Gotthelfs, „ein altes Mütterchen mit allen gro߬
mütterlichen und mütterlichen Schwachheiten, ein verwöhnter kleiner Junge und
zwei Hühner, ein schwarzes und ein weißes, das ist gleichsam die Familie, um
die sich die Erzählung dreht," aber gerade diese Einfachheit des Stoffes läßt
den großen innern Reichtum, über den der Dichter verfügt, umso mehr hervor¬
treten. „Kathi" hat daher stets für eins feiner anziehendsten Bücher gegolten.

Nach einigen kleinern Erzählungen gab Bitzius dann 1849 „Ali, den
Pächter," die Fortsetzung von „Ali, dem Knecht" heraus. Der Roman
schildert, wie Ali, der ganz in Erwerbsucht, der Klippe unermüdlich arbeitsamer
Naturen, aufgeht, dadurch in allerlei Versuchung und Stricke füllt und die
härtesten Schläge erdulden muß, aber durch die Tüchtigkeit seiner Frau ge¬
rettet wird, und damit im Zusammenhange den Untergang der Familie


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[0422] Jeremias Gotthelf Wahre selten wird oder gar nicht zu haben ist. Ein Surrogat verdrängt das andre, keins hat Bestand. So würde der Sozialismus alsbald vom Kommu¬ nismus verschlungen, der Kommunismus vom Despotismus, und dies wechselnde Elend brächte die armen Sünder vielleicht wieder zu dem, der den glimmenden Docht nicht auslöscht, den Elenden nicht verstößt. Gar mancher begründet den Sozialismus mit dem Christentum und weiß nichts von Liebe, ist geneigt, Gott und Menschen zu hassen, ist Sozialist aus Neid und Haß, und Neid und Haß sind bekanntlich nicht Liebe." Das ist eine Predigt, wird man sagen — aber es ist doch etwas andres als die beliebten Hetzereien gegen die Sozialdemokratie, und die lächerlich dummen Scheinargumente gegen ihre An¬ schauungen, die wir in den bürgerlichen Zeitungen Tag sür Tag wiederholt finden. Auch wer Gotthelfs christlichen Standpunkt nicht teilt, wird zugeben, daß die sozialen Fragen vor allem durch Änderung der herrschenden Anschauungen und Gesinnungen gelöst werden müssen, daß die Wiedergeburt des innern Menschen bei Arbeitgebern wie Arbeitern die Hauptsache ist. Aber daran denkt man jetzt, fünfzig Jahre, nachdem das Gotthelf geschrieben hat, weniger als je, zumal in den am meisten beteiligten Kreisen. „Küthi. die Großmutter," Gotthelfs zweites gegen den Sozialismus ge¬ richtetes Buch, ist viel weniger polemisch als der „Handwerksgeselle," obwohl die Predigten und Auseinandersetzungen auch hier nicht ganz fehlen, es ist fast rein dichterischer, darstellender Natur und zeigt, daß man auch in der größten Armut glücklich und zufrieden sein kann, und daß Gott die seinen nicht ver¬ läßt- Sieht man ganz von der Tendenz ab — ihr ist entgegenzuhalten, daß eine eigne Natur dazu gehört, Armut und die ihr immer noch zu teil werdende Verachtung zu ertragen, ohne verbittert zu werden —, so erscheint „Kathi" als ein vortreffliches Idyll, freilich ein Idyll, das viel Bewegung hat: Natur- ereignisse und irdische Nöte treten genug ein, aber eine tapfre, gottesfürchtige alte Frau überwindet sie mit Hilfe guter Menschen zum Teil, vor allem jedoch durch eigne Pflichterfüllung. „Kathi, die Großmutter" ist dem Stoffe nach die einfachste aller Geschichten Gotthelfs, „ein altes Mütterchen mit allen gro߬ mütterlichen und mütterlichen Schwachheiten, ein verwöhnter kleiner Junge und zwei Hühner, ein schwarzes und ein weißes, das ist gleichsam die Familie, um die sich die Erzählung dreht," aber gerade diese Einfachheit des Stoffes läßt den großen innern Reichtum, über den der Dichter verfügt, umso mehr hervor¬ treten. „Kathi" hat daher stets für eins feiner anziehendsten Bücher gegolten. Nach einigen kleinern Erzählungen gab Bitzius dann 1849 „Ali, den Pächter," die Fortsetzung von „Ali, dem Knecht" heraus. Der Roman schildert, wie Ali, der ganz in Erwerbsucht, der Klippe unermüdlich arbeitsamer Naturen, aufgeht, dadurch in allerlei Versuchung und Stricke füllt und die härtesten Schläge erdulden muß, aber durch die Tüchtigkeit seiner Frau ge¬ rettet wird, und damit im Zusammenhange den Untergang der Familie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/422>, abgerufen am 24.07.2024.