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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

unter den Arbeitern werden wohl noch einmal die genaue geschichtliche Dar¬
stellung finden, die sie verdienen, und dann wird auch Jeremias Gotthelf eine
nicht zu unterschätzende Quelle sein; war doch die Schweiz der Boden jener
unter dem Namen "Junges Europa" zusammengefaßten revolutionären Grün¬
dungen, an die sich die moderne sozialistische Bewegung unmittelbar anschließt.
"Neben dem Jungen Italien entfaltete das Junge Deutschland (nicht mit dem
litterarischen zu verwechseln) in den, dreißiger Jahren dort eine große agita¬
torische Thätigkeit. Deutsche Flüchtlinge und Handwerkervereine gehörten ihm
an. Es zerfiel in besondre Klubs von mindestens fünf Personen. Die Ver¬
bindung hatte ihre eigne Gerichtsbarkeit über alle strafbaren Handlungen der
Mitglieder, jeder Verrat sollte mit dem Tode bestraft werden, und jedes vom
Ausschuß ernannte Mitglied war zur Vollziehung des Urteils verpflichtet. Die
Ermordung des Spions Ludwig Lessing am 4. November 1835 in der Nähe
von Zürich erregte großes Aufsehen und erweckte stärkere Befürchtungen auf
seiten der deutschen Regierungen. Als nun gar eine Versammlung deutscher
Handwerker und Flüchtlinge im Steinhölzli, einem zehn Minuten von Bern
gelegnen Wäldchen, die deutschen Farben aufpflanzte und die Farben der
deutschen Dynastien zerriß und mit Füßen trat, wozu noch Gerüchte von einem
beabsichtigten bewaffneten Einfall in Deutschland kamen, erfolgten zahlreiche
Ausweisungen aus der Schweiz. Zwar zerfiel damit der Verein, aber seine
Bestrebungen wurden 1845 von Lyon wieder aufgenommen und machten sich
in der Gründung weiterer republikanischer Vereine in der Schweiz und in der
Organisation von Aufstünden in Baden geltend." Im Anfang der vierziger
Jahre lebte auch der bekannte kommunistische Schneidergeselle Wilhelm Weitling
in der Schweiz und betrieb in Zürich, Lausanne und Neuenburg eine freilich
auf kleine Kreise beschränkte Agitation. Mit diesen spätern Bewegungen be¬
schäftigt sich wohl Gotthelfs Werk, das wir auf seine historische Thatsächlichkeit
zwar nicht untersuchen können, das aber die Anzeichen und Stimmungen sicher
richtig wiedergiebt. Daß Gotthelf in der Seele eines deutschen Handwerks¬
gesellen fast ebenso gut Bescheid weiß, wie in der eines Verner Bauern, wird
den, der sein großes Anschauungstalent einmal erkannt hat, nicht mehr über¬
raschen. Übrigens ist auch das Besondre schweizerischer Menschen und Dinge,
wie der pathetische Radikalismus der Welschschweizer, vortrefflich geschildert;
für das Tartariumäßigc der Romanen hatte Gotthelf einen guten Blick. Jakob,
der Held des Werkes, macht eine harte Schule durch, ist nahe daran zu ver¬
lumpen, zuletzt gehen ihm aber doch die Augen auf, und er kehrt als Mann
in die Heimat zurück.

Nach dem früher ausgeführten wird sich niemand wundern, daß Bitzius
sehr wohl erkannte, daß der Sozialismus in dem Jndustrialismus wurzelt,
und daß er nichts weniger als ein Freund des Fabrikwesens war. Seine
Gesamtstellnng dürfte folgende Auslassung klar machen: "Der Kommunismus


Jeremias Gotthelf

unter den Arbeitern werden wohl noch einmal die genaue geschichtliche Dar¬
stellung finden, die sie verdienen, und dann wird auch Jeremias Gotthelf eine
nicht zu unterschätzende Quelle sein; war doch die Schweiz der Boden jener
unter dem Namen „Junges Europa" zusammengefaßten revolutionären Grün¬
dungen, an die sich die moderne sozialistische Bewegung unmittelbar anschließt.
„Neben dem Jungen Italien entfaltete das Junge Deutschland (nicht mit dem
litterarischen zu verwechseln) in den, dreißiger Jahren dort eine große agita¬
torische Thätigkeit. Deutsche Flüchtlinge und Handwerkervereine gehörten ihm
an. Es zerfiel in besondre Klubs von mindestens fünf Personen. Die Ver¬
bindung hatte ihre eigne Gerichtsbarkeit über alle strafbaren Handlungen der
Mitglieder, jeder Verrat sollte mit dem Tode bestraft werden, und jedes vom
Ausschuß ernannte Mitglied war zur Vollziehung des Urteils verpflichtet. Die
Ermordung des Spions Ludwig Lessing am 4. November 1835 in der Nähe
von Zürich erregte großes Aufsehen und erweckte stärkere Befürchtungen auf
seiten der deutschen Regierungen. Als nun gar eine Versammlung deutscher
Handwerker und Flüchtlinge im Steinhölzli, einem zehn Minuten von Bern
gelegnen Wäldchen, die deutschen Farben aufpflanzte und die Farben der
deutschen Dynastien zerriß und mit Füßen trat, wozu noch Gerüchte von einem
beabsichtigten bewaffneten Einfall in Deutschland kamen, erfolgten zahlreiche
Ausweisungen aus der Schweiz. Zwar zerfiel damit der Verein, aber seine
Bestrebungen wurden 1845 von Lyon wieder aufgenommen und machten sich
in der Gründung weiterer republikanischer Vereine in der Schweiz und in der
Organisation von Aufstünden in Baden geltend." Im Anfang der vierziger
Jahre lebte auch der bekannte kommunistische Schneidergeselle Wilhelm Weitling
in der Schweiz und betrieb in Zürich, Lausanne und Neuenburg eine freilich
auf kleine Kreise beschränkte Agitation. Mit diesen spätern Bewegungen be¬
schäftigt sich wohl Gotthelfs Werk, das wir auf seine historische Thatsächlichkeit
zwar nicht untersuchen können, das aber die Anzeichen und Stimmungen sicher
richtig wiedergiebt. Daß Gotthelf in der Seele eines deutschen Handwerks¬
gesellen fast ebenso gut Bescheid weiß, wie in der eines Verner Bauern, wird
den, der sein großes Anschauungstalent einmal erkannt hat, nicht mehr über¬
raschen. Übrigens ist auch das Besondre schweizerischer Menschen und Dinge,
wie der pathetische Radikalismus der Welschschweizer, vortrefflich geschildert;
für das Tartariumäßigc der Romanen hatte Gotthelf einen guten Blick. Jakob,
der Held des Werkes, macht eine harte Schule durch, ist nahe daran zu ver¬
lumpen, zuletzt gehen ihm aber doch die Augen auf, und er kehrt als Mann
in die Heimat zurück.

Nach dem früher ausgeführten wird sich niemand wundern, daß Bitzius
sehr wohl erkannte, daß der Sozialismus in dem Jndustrialismus wurzelt,
und daß er nichts weniger als ein Freund des Fabrikwesens war. Seine
Gesamtstellnng dürfte folgende Auslassung klar machen: „Der Kommunismus


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[0420] Jeremias Gotthelf unter den Arbeitern werden wohl noch einmal die genaue geschichtliche Dar¬ stellung finden, die sie verdienen, und dann wird auch Jeremias Gotthelf eine nicht zu unterschätzende Quelle sein; war doch die Schweiz der Boden jener unter dem Namen „Junges Europa" zusammengefaßten revolutionären Grün¬ dungen, an die sich die moderne sozialistische Bewegung unmittelbar anschließt. „Neben dem Jungen Italien entfaltete das Junge Deutschland (nicht mit dem litterarischen zu verwechseln) in den, dreißiger Jahren dort eine große agita¬ torische Thätigkeit. Deutsche Flüchtlinge und Handwerkervereine gehörten ihm an. Es zerfiel in besondre Klubs von mindestens fünf Personen. Die Ver¬ bindung hatte ihre eigne Gerichtsbarkeit über alle strafbaren Handlungen der Mitglieder, jeder Verrat sollte mit dem Tode bestraft werden, und jedes vom Ausschuß ernannte Mitglied war zur Vollziehung des Urteils verpflichtet. Die Ermordung des Spions Ludwig Lessing am 4. November 1835 in der Nähe von Zürich erregte großes Aufsehen und erweckte stärkere Befürchtungen auf seiten der deutschen Regierungen. Als nun gar eine Versammlung deutscher Handwerker und Flüchtlinge im Steinhölzli, einem zehn Minuten von Bern gelegnen Wäldchen, die deutschen Farben aufpflanzte und die Farben der deutschen Dynastien zerriß und mit Füßen trat, wozu noch Gerüchte von einem beabsichtigten bewaffneten Einfall in Deutschland kamen, erfolgten zahlreiche Ausweisungen aus der Schweiz. Zwar zerfiel damit der Verein, aber seine Bestrebungen wurden 1845 von Lyon wieder aufgenommen und machten sich in der Gründung weiterer republikanischer Vereine in der Schweiz und in der Organisation von Aufstünden in Baden geltend." Im Anfang der vierziger Jahre lebte auch der bekannte kommunistische Schneidergeselle Wilhelm Weitling in der Schweiz und betrieb in Zürich, Lausanne und Neuenburg eine freilich auf kleine Kreise beschränkte Agitation. Mit diesen spätern Bewegungen be¬ schäftigt sich wohl Gotthelfs Werk, das wir auf seine historische Thatsächlichkeit zwar nicht untersuchen können, das aber die Anzeichen und Stimmungen sicher richtig wiedergiebt. Daß Gotthelf in der Seele eines deutschen Handwerks¬ gesellen fast ebenso gut Bescheid weiß, wie in der eines Verner Bauern, wird den, der sein großes Anschauungstalent einmal erkannt hat, nicht mehr über¬ raschen. Übrigens ist auch das Besondre schweizerischer Menschen und Dinge, wie der pathetische Radikalismus der Welschschweizer, vortrefflich geschildert; für das Tartariumäßigc der Romanen hatte Gotthelf einen guten Blick. Jakob, der Held des Werkes, macht eine harte Schule durch, ist nahe daran zu ver¬ lumpen, zuletzt gehen ihm aber doch die Augen auf, und er kehrt als Mann in die Heimat zurück. Nach dem früher ausgeführten wird sich niemand wundern, daß Bitzius sehr wohl erkannte, daß der Sozialismus in dem Jndustrialismus wurzelt, und daß er nichts weniger als ein Freund des Fabrikwesens war. Seine Gesamtstellnng dürfte folgende Auslassung klar machen: „Der Kommunismus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/420>, abgerufen am 24.07.2024.