Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.Jeremias Gotthelf neuen Mode," 1846 erschienen. Das Buch stellt das Wirtshausleben dar, Die Fruchtbarkeit Gotthelfs war um diese Zeit auf ihrer Höhe, im Jahre Jeremias Gotthelf neuen Mode," 1846 erschienen. Das Buch stellt das Wirtshausleben dar, Die Fruchtbarkeit Gotthelfs war um diese Zeit auf ihrer Höhe, im Jahre <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0419" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226005"/> <fw type="header" place="top"> Jeremias Gotthelf</fw><lb/> <p xml:id="ID_1049" prev="#ID_1048"> neuen Mode," 1846 erschienen. Das Buch stellt das Wirtshausleben dar,<lb/> aber weniger das Treiben der Gäste als das der Wirtsleute. Ein bäuerliches<lb/> Ehepaar, das, dem Zuge der Zeit folgend, vor allem, um ein bequemes Leben<lb/> zu haben, eine Wirtschaft übernimmt, verschuldet und verkommt nach und nach.<lb/> Von geradezu grausiger Wirkung ist die von Gotthelf psychologisch scharf<lb/> entwickelte allmähliche Entfremdung der Eheleute, die so weit führt, daß man<lb/> sich gegenseitig heimlich den Tod wünscht. Der Ehemann stirbt in der That,<lb/> das Besitztum wird versteigert, die zahlreichen Kinder kommen zu fremden<lb/> Leuten, während sich die Frau, sobald es angeht, einem Windbeutel an den<lb/> Hals wirft. Also das Ganze ist ein düstres, aber durchaus lebenswahres<lb/> soziales Gemälde, doch fehlt nicht ein gewisser satirischer Humor, der namentlich<lb/> bei der Darstellung der Nebenbuhlerschaft der Wirtin mit einer andern und<lb/> dann bei der sehr eingehenden Schilderung des ländlichen juristischen Geschäfts¬<lb/> lebens zu Tage tritt. „Die Steigerungen, Jnventarisationen, Gemeinderats¬<lb/> sitzungen usw. sind meisterhaft, aber auch sehr breit, sagt Manuel. Die<lb/> kleinsten Kniffe und Praktiken, wie sie etwa unter dem verhandelnden Personale<lb/> bei solchen Operationen gäng und gäbe sind, werden ans Tageslicht gezogen.<lb/> Namentlich ist die ganze lange Verhandlung der Versteigerung ein vortreffliches<lb/> Lebensbild, so gemein und burlesk auch alles zugeht. Bitzius hat in diesem<lb/> Buche die amtlichen Schreiber, die Geschäftsleute und die Handlungsreisender,<lb/> seine zarten Freunde, ganz besonders aufs Korn genommen und sie mit scharfer<lb/> Lauge übergössen. Auch die Regenten, manche Gesetze und Gebräuche werden<lb/> unbarmherzig mitgenommen." Hier steckt auch der Naturalismus des Buches,<lb/> welcher moderne deutsche Naturalist käme da Gotthelf gleich! Hauptmann hat<lb/> im „Biberpelz" das Gebiet wenigstens gestreift. Predigten und Diskussionen<lb/> unterbrechen freilich die Darstellung im „Geltstag" sehr oft, und mit der<lb/> Schilderung eiues Kindes, das sich ängstlich um das Seelenheil seines Vaters<lb/> bekümmert, wird zu stark auf Rührung gearbeitet, obschon ein Erlebnis zu<lb/> Grnnde liegen mag.</p><lb/> <p xml:id="ID_1050" next="#ID_1051"> Die Fruchtbarkeit Gotthelfs war um diese Zeit auf ihrer Höhe, im Jahre<lb/> 1847 erschienen zwei Bücher von ihm, „Jakobs des Handwerksgesellen Wande¬<lb/> rungen durch die Schweiz" und „Kathi, die Großmutter," beide gegen die<lb/> damals zuerst mächtiger hervortretenden Theorien des Kommunismus und<lb/> Sozialismus gerichtet, das letztere jedoch fast rein dichterisch. Die „Wande¬<lb/> rungen Jakobs des Handwerksgesellen" wurden auf Kosten eines Vereins zur<lb/> Vertreibung guter Volksschriften herausgegeben, sind aber trotz dieser äußer¬<lb/> lichen Veranlassung ihres Entstehens zu einem guten, reich entwickelten Charakter¬<lb/> gemälde geworden und bilden heute ein wichtiges kulturgeschichtliches Dokument,<lb/> indem sie das Klubbistenwesen der deutschen Wanderburschen in der damaligen<lb/> Schweiz schildern. Die dreißiger und vierziger Jahre unsers Jahrhunderts<lb/> mit ihren Anfängen der Verbreitung kommunistischer und sozialistischer Ideen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0419]
Jeremias Gotthelf
neuen Mode," 1846 erschienen. Das Buch stellt das Wirtshausleben dar,
aber weniger das Treiben der Gäste als das der Wirtsleute. Ein bäuerliches
Ehepaar, das, dem Zuge der Zeit folgend, vor allem, um ein bequemes Leben
zu haben, eine Wirtschaft übernimmt, verschuldet und verkommt nach und nach.
Von geradezu grausiger Wirkung ist die von Gotthelf psychologisch scharf
entwickelte allmähliche Entfremdung der Eheleute, die so weit führt, daß man
sich gegenseitig heimlich den Tod wünscht. Der Ehemann stirbt in der That,
das Besitztum wird versteigert, die zahlreichen Kinder kommen zu fremden
Leuten, während sich die Frau, sobald es angeht, einem Windbeutel an den
Hals wirft. Also das Ganze ist ein düstres, aber durchaus lebenswahres
soziales Gemälde, doch fehlt nicht ein gewisser satirischer Humor, der namentlich
bei der Darstellung der Nebenbuhlerschaft der Wirtin mit einer andern und
dann bei der sehr eingehenden Schilderung des ländlichen juristischen Geschäfts¬
lebens zu Tage tritt. „Die Steigerungen, Jnventarisationen, Gemeinderats¬
sitzungen usw. sind meisterhaft, aber auch sehr breit, sagt Manuel. Die
kleinsten Kniffe und Praktiken, wie sie etwa unter dem verhandelnden Personale
bei solchen Operationen gäng und gäbe sind, werden ans Tageslicht gezogen.
Namentlich ist die ganze lange Verhandlung der Versteigerung ein vortreffliches
Lebensbild, so gemein und burlesk auch alles zugeht. Bitzius hat in diesem
Buche die amtlichen Schreiber, die Geschäftsleute und die Handlungsreisender,
seine zarten Freunde, ganz besonders aufs Korn genommen und sie mit scharfer
Lauge übergössen. Auch die Regenten, manche Gesetze und Gebräuche werden
unbarmherzig mitgenommen." Hier steckt auch der Naturalismus des Buches,
welcher moderne deutsche Naturalist käme da Gotthelf gleich! Hauptmann hat
im „Biberpelz" das Gebiet wenigstens gestreift. Predigten und Diskussionen
unterbrechen freilich die Darstellung im „Geltstag" sehr oft, und mit der
Schilderung eiues Kindes, das sich ängstlich um das Seelenheil seines Vaters
bekümmert, wird zu stark auf Rührung gearbeitet, obschon ein Erlebnis zu
Grnnde liegen mag.
Die Fruchtbarkeit Gotthelfs war um diese Zeit auf ihrer Höhe, im Jahre
1847 erschienen zwei Bücher von ihm, „Jakobs des Handwerksgesellen Wande¬
rungen durch die Schweiz" und „Kathi, die Großmutter," beide gegen die
damals zuerst mächtiger hervortretenden Theorien des Kommunismus und
Sozialismus gerichtet, das letztere jedoch fast rein dichterisch. Die „Wande¬
rungen Jakobs des Handwerksgesellen" wurden auf Kosten eines Vereins zur
Vertreibung guter Volksschriften herausgegeben, sind aber trotz dieser äußer¬
lichen Veranlassung ihres Entstehens zu einem guten, reich entwickelten Charakter¬
gemälde geworden und bilden heute ein wichtiges kulturgeschichtliches Dokument,
indem sie das Klubbistenwesen der deutschen Wanderburschen in der damaligen
Schweiz schildern. Die dreißiger und vierziger Jahre unsers Jahrhunderts
mit ihren Anfängen der Verbreitung kommunistischer und sozialistischer Ideen
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