Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.Volk und Jugend Jugendleben, bald in Gestalt sehnsüchtiger Wünsche, bald als leidenschaftliche Dergleichen kann wieder nicht dem Volke eigen bleiben. Die Macht der Volk und Jugend Jugendleben, bald in Gestalt sehnsüchtiger Wünsche, bald als leidenschaftliche Dergleichen kann wieder nicht dem Volke eigen bleiben. Die Macht der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0368" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225954"/> <fw type="header" place="top"> Volk und Jugend</fw><lb/> <p xml:id="ID_917" prev="#ID_916"> Jugendleben, bald in Gestalt sehnsüchtiger Wünsche, bald als leidenschaftliche<lb/> Anwandlung, auch als unerwartete Laune, als allmächtige Liebhaberei, als<lb/> auffallender Widerstand gegen Bestimmung von oben usw. Sie tritt nicht bei<lb/> beiden Geschlechtern in gleicher Form auf, und natürlich noch weniger auf den<lb/> verschiednen Stufen des jugendlichen Alters, aber sie durchzieht es, sie läßt<lb/> es um ihrer Unmittelbarkeit und Deutlichkeit willen oft sympathisch erscheinen,<lb/> aber sie ist in zahllosen Augenblicken gefährlich.</p><lb/> <p xml:id="ID_918" next="#ID_919"> Dergleichen kann wieder nicht dem Volke eigen bleiben. Die Macht der<lb/> unmittelbaren Antriebe wird überwunden durch das Leben, durch die Erfahrung<lb/> der Schranken und der Rückwirkungen, durch Erstarken des bewußten und<lb/> geordneten Willens, durch Eingewöhnung und Einfügung in das Gemein¬<lb/> schaftsleben und seine Forderungen, auch durch Enttäuschung bei der Erfüllung<lb/> des heiß Begehrten; und die Enttäuschungen und Beschränkungen sind viel<lb/> reichlicher bei denen, die nicht durch Bildung und Besitz emporgehoben werden.<lb/> Aber andrerseits fehlt doch im Volke auch die eben durch die höhere Ent¬<lb/> wicklung der Persönlichkeit erworbne Befähigung, das Leben des Augenblicks<lb/> dem ganzen Zusammenhang des Lebens unterzuordnen, der offnere, weitere<lb/> Blick sür Vergangenheit und Zukunft, das reife Ermessen der Tragweite der<lb/> Handlungen, die ruhigere Berechnung der Mittel. Und so bleibt eben doch<lb/> dem Volke immerhin viel von jener Macht des impulsiver Lebens, die die<lb/> Kinderseele durchdringt und der heranwachsenden Jugend nicht fremd wird.<lb/> Darum ist ja dem Volke die Berechnung nicht fremd, wo es gilt, ein persönliches<lb/> Ziel zu erreichen, überraschendes Raffinement, täuschende Verstellung; aber<lb/> diese Dinge sind auch der Jugend nicht fremd, ja nicht einmal der frühen<lb/> Kindheit, wie sie ja selbst den Schwachsinnigen und den Geisteskranken nicht<lb/> fehlen. Die Macht jenes impulsiver Lebens dagegen thut sich beim Volke in<lb/> tausend unbesonnenen Entschließungen kund, unter denen die unbedachten<lb/> Heiraten das verständlichste Beispiel abgeben, und der leichte Wandel der<lb/> Liebesverhältnisse ein harmloseres Anhängsel dazu; und noch alltäglicher in<lb/> den rückhaltlosen Kundgebungen der Abneigung, in dein Bedürfnis, einen Ent¬<lb/> gegentretenden mit Wort oder Hand niederzuschlagen, was wir dann Roheit<lb/> nennen und als Roheit verabscheuen, in den leicht ausgestoßenen Schimpf¬<lb/> wörtern, die doch nichts andres bedeuten als das Bedürfnis, die ganze augen¬<lb/> blickliche Abneigung in einer wenigstens symbolischen Vernichtung des ab¬<lb/> stoßenden Gegenübers auszuströmen: alles Dinge, zu denen auch die Jugend<lb/> namentlich auf gewissen Stufen sehr neigt, und von denen anch für die gebildete<lb/> und gereifte Jugend noch Rückstände genug bleiben. Nicht bloß „Pack" schlägt<lb/> sich und verträgt sich, sondern bei Volk und Jugend überhaupt ist ja, wie der<lb/> Haß und Ingrimm nicht auf tiefster, uicht auf dauernder, sondern sehr beweg¬<lb/> licher Grundlage ruht, so auch der Umschlag leicht genug, der Übergang der<lb/> Stimmungen, der Empfindungen: dem Weinen, bei dem die ganze Kinderseele</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0368]
Volk und Jugend
Jugendleben, bald in Gestalt sehnsüchtiger Wünsche, bald als leidenschaftliche
Anwandlung, auch als unerwartete Laune, als allmächtige Liebhaberei, als
auffallender Widerstand gegen Bestimmung von oben usw. Sie tritt nicht bei
beiden Geschlechtern in gleicher Form auf, und natürlich noch weniger auf den
verschiednen Stufen des jugendlichen Alters, aber sie durchzieht es, sie läßt
es um ihrer Unmittelbarkeit und Deutlichkeit willen oft sympathisch erscheinen,
aber sie ist in zahllosen Augenblicken gefährlich.
Dergleichen kann wieder nicht dem Volke eigen bleiben. Die Macht der
unmittelbaren Antriebe wird überwunden durch das Leben, durch die Erfahrung
der Schranken und der Rückwirkungen, durch Erstarken des bewußten und
geordneten Willens, durch Eingewöhnung und Einfügung in das Gemein¬
schaftsleben und seine Forderungen, auch durch Enttäuschung bei der Erfüllung
des heiß Begehrten; und die Enttäuschungen und Beschränkungen sind viel
reichlicher bei denen, die nicht durch Bildung und Besitz emporgehoben werden.
Aber andrerseits fehlt doch im Volke auch die eben durch die höhere Ent¬
wicklung der Persönlichkeit erworbne Befähigung, das Leben des Augenblicks
dem ganzen Zusammenhang des Lebens unterzuordnen, der offnere, weitere
Blick sür Vergangenheit und Zukunft, das reife Ermessen der Tragweite der
Handlungen, die ruhigere Berechnung der Mittel. Und so bleibt eben doch
dem Volke immerhin viel von jener Macht des impulsiver Lebens, die die
Kinderseele durchdringt und der heranwachsenden Jugend nicht fremd wird.
Darum ist ja dem Volke die Berechnung nicht fremd, wo es gilt, ein persönliches
Ziel zu erreichen, überraschendes Raffinement, täuschende Verstellung; aber
diese Dinge sind auch der Jugend nicht fremd, ja nicht einmal der frühen
Kindheit, wie sie ja selbst den Schwachsinnigen und den Geisteskranken nicht
fehlen. Die Macht jenes impulsiver Lebens dagegen thut sich beim Volke in
tausend unbesonnenen Entschließungen kund, unter denen die unbedachten
Heiraten das verständlichste Beispiel abgeben, und der leichte Wandel der
Liebesverhältnisse ein harmloseres Anhängsel dazu; und noch alltäglicher in
den rückhaltlosen Kundgebungen der Abneigung, in dein Bedürfnis, einen Ent¬
gegentretenden mit Wort oder Hand niederzuschlagen, was wir dann Roheit
nennen und als Roheit verabscheuen, in den leicht ausgestoßenen Schimpf¬
wörtern, die doch nichts andres bedeuten als das Bedürfnis, die ganze augen¬
blickliche Abneigung in einer wenigstens symbolischen Vernichtung des ab¬
stoßenden Gegenübers auszuströmen: alles Dinge, zu denen auch die Jugend
namentlich auf gewissen Stufen sehr neigt, und von denen anch für die gebildete
und gereifte Jugend noch Rückstände genug bleiben. Nicht bloß „Pack" schlägt
sich und verträgt sich, sondern bei Volk und Jugend überhaupt ist ja, wie der
Haß und Ingrimm nicht auf tiefster, uicht auf dauernder, sondern sehr beweg¬
licher Grundlage ruht, so auch der Umschlag leicht genug, der Übergang der
Stimmungen, der Empfindungen: dem Weinen, bei dem die ganze Kinderseele
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