Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.Volk und Jugend Menschen, Sehender jedenfalls als die große Schar, und die Bevorzugten dieser Ist es doch überhaupt nicht gerechtfertigt, wenn man von einer Gemein¬ Volk und Jugend Menschen, Sehender jedenfalls als die große Schar, und die Bevorzugten dieser Ist es doch überhaupt nicht gerechtfertigt, wenn man von einer Gemein¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0365" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225951"/> <fw type="header" place="top"> Volk und Jugend</fw><lb/> <p xml:id="ID_910" prev="#ID_909"> Menschen, Sehender jedenfalls als die große Schar, und die Bevorzugten dieser<lb/> Art sind denn auch oft genug als Seher begrüßt, als Dichter gepriesen, als<lb/> Führer anerkannt worden. Aber überall, wo es Propheten giebt, tauchen neben<lb/> ihnen falsche Propheten auf, und jene Gabe der unmittelbaren Erkenntnis bleibt<lb/> sehr trüglich. So ist es denn uicht bloß bei Kindern zu beobachten, daß sie<lb/> zwar oft aus Miene, Blick und Stimme Herz und Gefühlsweise der ihnen<lb/> gegenübertreteuden Menschen unmittelbar erkennen (im Grunde werden freilich<lb/> immer Analogieschlüsse dabei eine Rolle spielen), aber doch auch zu Zeiten<lb/> großer Täuschung unterliegen, sondern es ist auch beim Volke nicht anders.<lb/> Das Urteil, das sich dort über bestimmte gegenübertretende Personen bildet,<lb/> entspricht mitunter ihrem wirklichen Menschenwert besser als die Maßstäbe,<lb/> die in der Welt der Gebildeten angelegt werden und zum Ausdruck kommen,<lb/> und Volkes Stimme darf dann wirklich Gottes Stimme heißen. Aber das<lb/> Volk wird doch wesentlich gewonnen durch „gewinnende" Eigenschaften, die<lb/> mit den gediegnen nicht zusammenfallen. Ein freundliches Wesen ist leichter<lb/> zu schätzen als ein starker Charakter, zu dessen Würdigung man auch etwas<lb/> vom wirklichen Charakter in sich haben muß, wie man zur Würdigung des<lb/> Dichters oder Künstlers des dichterischen und künstlerischen Empfindens selbst<lb/> nicht bar sein darf. Noch weit unsichrer arbeitet das unmittelbare Urteil des<lb/> Volkes, wo es sich in bestimmten Fällen als Überzeugung von Schuld oder<lb/> Unschuld zeigt: hier wird die Sicherheit jedes Einzelnen gestützt von der Auf¬<lb/> fassung der Menge, während sich doch die Menge aus lauter unsichern Einzelnen<lb/> zusammensetzt. Und so darf wohl alles in allem der Kraft der intuitiver Er¬<lb/> kenntnis beim Volke doch nnr ein mäßiger Wert zuerkannt werden, obwohl<lb/> man jetzt nicht selten zu der entgegengesetzten Anschauung zu neigen scheint.<lb/> Gewiß wird oft, wenn in den obern Ständen wirklich Verkehrtheit der Maßstäbe<lb/> und der Schätzung einreißt (was durch die Entwicklung der Kultur keineswegs<lb/> ausgeschlossen wird), die unmittelbare Empfindung des Volkes das Zuver¬<lb/> lässigere sein und die Berichtigung bewirken; aber beschränkt und fragwürdig<lb/> bleibt darum doch ihre Sicherheit.</p><lb/> <p xml:id="ID_911" next="#ID_912"> Ist es doch überhaupt nicht gerechtfertigt, wenn man von einer Gemein¬<lb/> schaft Leistungen erwarten will, wie sie nur die einzelne Persönlichkeit voll¬<lb/> bringt. Denn die Gemeinschaft steht, auch da wo sie sich nicht aus unselb¬<lb/> ständigen und unbedeutenden Menschen zusammensetzt, doch unter den ent¬<lb/> wickelten wirklichen Persönlichkeiten. Sie wird von breiten Strömungen in<lb/> einer Richtung durchzogen, sie hat nicht den bestimmten Blick des Einzelnen,<lb/> vermag nicht feinere Linien innezuhalten, ist wenig elastisch, gleicht einem großen<lb/> Geschöpf mit vielen Gliedern, aber ohne zentrales Organ, ohne leichte Selbst¬<lb/> bewegung. Ja auch da, wo sich echte, entwickelte und selbständige Persönlich¬<lb/> keiten zu einem Ganzen zusammenfinden, wird die Kraft des Einzelnen durch<lb/> die Gemeinschaft öfter gelähmt als angefacht: die Bestrebungen durchkreuze» sich,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0365]
Volk und Jugend
Menschen, Sehender jedenfalls als die große Schar, und die Bevorzugten dieser
Art sind denn auch oft genug als Seher begrüßt, als Dichter gepriesen, als
Führer anerkannt worden. Aber überall, wo es Propheten giebt, tauchen neben
ihnen falsche Propheten auf, und jene Gabe der unmittelbaren Erkenntnis bleibt
sehr trüglich. So ist es denn uicht bloß bei Kindern zu beobachten, daß sie
zwar oft aus Miene, Blick und Stimme Herz und Gefühlsweise der ihnen
gegenübertreteuden Menschen unmittelbar erkennen (im Grunde werden freilich
immer Analogieschlüsse dabei eine Rolle spielen), aber doch auch zu Zeiten
großer Täuschung unterliegen, sondern es ist auch beim Volke nicht anders.
Das Urteil, das sich dort über bestimmte gegenübertretende Personen bildet,
entspricht mitunter ihrem wirklichen Menschenwert besser als die Maßstäbe,
die in der Welt der Gebildeten angelegt werden und zum Ausdruck kommen,
und Volkes Stimme darf dann wirklich Gottes Stimme heißen. Aber das
Volk wird doch wesentlich gewonnen durch „gewinnende" Eigenschaften, die
mit den gediegnen nicht zusammenfallen. Ein freundliches Wesen ist leichter
zu schätzen als ein starker Charakter, zu dessen Würdigung man auch etwas
vom wirklichen Charakter in sich haben muß, wie man zur Würdigung des
Dichters oder Künstlers des dichterischen und künstlerischen Empfindens selbst
nicht bar sein darf. Noch weit unsichrer arbeitet das unmittelbare Urteil des
Volkes, wo es sich in bestimmten Fällen als Überzeugung von Schuld oder
Unschuld zeigt: hier wird die Sicherheit jedes Einzelnen gestützt von der Auf¬
fassung der Menge, während sich doch die Menge aus lauter unsichern Einzelnen
zusammensetzt. Und so darf wohl alles in allem der Kraft der intuitiver Er¬
kenntnis beim Volke doch nnr ein mäßiger Wert zuerkannt werden, obwohl
man jetzt nicht selten zu der entgegengesetzten Anschauung zu neigen scheint.
Gewiß wird oft, wenn in den obern Ständen wirklich Verkehrtheit der Maßstäbe
und der Schätzung einreißt (was durch die Entwicklung der Kultur keineswegs
ausgeschlossen wird), die unmittelbare Empfindung des Volkes das Zuver¬
lässigere sein und die Berichtigung bewirken; aber beschränkt und fragwürdig
bleibt darum doch ihre Sicherheit.
Ist es doch überhaupt nicht gerechtfertigt, wenn man von einer Gemein¬
schaft Leistungen erwarten will, wie sie nur die einzelne Persönlichkeit voll¬
bringt. Denn die Gemeinschaft steht, auch da wo sie sich nicht aus unselb¬
ständigen und unbedeutenden Menschen zusammensetzt, doch unter den ent¬
wickelten wirklichen Persönlichkeiten. Sie wird von breiten Strömungen in
einer Richtung durchzogen, sie hat nicht den bestimmten Blick des Einzelnen,
vermag nicht feinere Linien innezuhalten, ist wenig elastisch, gleicht einem großen
Geschöpf mit vielen Gliedern, aber ohne zentrales Organ, ohne leichte Selbst¬
bewegung. Ja auch da, wo sich echte, entwickelte und selbständige Persönlich¬
keiten zu einem Ganzen zusammenfinden, wird die Kraft des Einzelnen durch
die Gemeinschaft öfter gelähmt als angefacht: die Bestrebungen durchkreuze» sich,
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