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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

Dichtung; und die Lieder des Volkes pflegt man als den reinsten, unmittel¬
barsten, echtesten Niederschlag der ewig natürlichen Empfindungen des mensch¬
lichen Herzens zu preisen und zu lieben; sie mitsingen heißt ja eben: durch
die Phantasie des Herzens an diesen ewig natürlichen, leidvollen wie seligen
Menschenempfindungen teilnehmen. Man muß nun aber nicht meinen, daß die
schönen Volkslieder, die wir nicht müde werden träumerisch sehnsüchtig mitzu¬
singen, das regelmäßige Gemeingut sür die Herzen des Volkes bildeten, daß
diese echten Perlen von ruhigem Glänze dort ununtermischt in sicherer Ver¬
wahrung ruhten. Zwischen sie drängt sich dort auch viel fade sentimentales,
breit Geschwätziges, verstandesmäßig Ödes, Geschmackwidriges, um vom
Niedrigen und Rohen zu schweigen. Jene schonen, klassischen Volkslieder sind
eben der Niederschlag des Reinsten und Besten aus diesem natürlich menschlichen
Lebenskreise, aber nicht das schlechthin Kennzeichnende, und übrigens vielfach
nicht wirklich und eigentlich ans dem Volke hervorgegangen. Doch verfolgen
wir das nicht weiter, da es nicht mehr unmittelbar zu unserm Gegenstand gehört.
Nur das sei noch gesagt, daß das Volkslied keineswegs einen weiten Kreis
von Empfindungen und Verhältnissen umsaßt, daß die Phantasie der Dichtenden
hier gering ist, was sie sicherlich da sein darf, wo die Gefühle von herz¬
bezwingender Stärke und ewiger Wahrheit sind.

Gedenken wir einer fernern Kraft, die sich früh im jugendlichen Alter
zeigt und eine der Stärken dieses Alters bildet. Wie die Phantasie die sinn¬
lichen Eindrücke verarbeitend doch über die Abhängigkeit von den Sinnen hinaus¬
führt und in jedem Falle mit die erste Regung des werdenden persönlichen
Geistes ist, so geht der wirklichen, der sicher begründeten und zusammenhängenden
Erkenntnis der Dinge eine Stufe der Intuition, des unmittelbaren innern
Schauens, des ahnenden Verständnisses vorher, auch sie übrigens -- wie selbst¬
verständlich -- an die sinnlichen Eindrücke sich anheftend. Lange bevor das
gesprochn" Wort vernommen und verstanden wird, werden Geberden, Blicke,
Mienen verstanden, das anlächelnde Auge der Mutter wie ihre liebkosenden
Bewegungen und ihre von Innigkeit erfüllte Stimme sicherlich schon in den
ersten Monaten des Lebens, ebenso auch die Ruhe begehrenden Drohungen
des Vaters, und vieles andre. Es ist, wie in der Welt der Sinne die Tast¬
organe Empfindung geben vor den Sehorganen. Auch das Verständnis der
Worte der Muttersprache wird ja nnr durch Ahnung, dnrch Erraten allmählich
erlernt; der Kenntnis der Jnhaltswcrte geht ein Empfinden voraus. Diese
Begabung, die ein wundervolles Stück der menschlichen Ausstattung bildet
(übrigens auch der Tierwelt nicht versagt ist), kann auch nachher nie ganz ver¬
loren werden; sie bildet eine wertvolle Kraft für den Weg durchs Leben,
gleichsam ein besondres unsichtbares Fühlorgan, das allerdings, wie andre
Kräfte, den Einzelnen in sehr verschiednen Grade verliehen ist. Wer es in
besondrer Sicherheit und Stärke hat, der wandelt wie ein Seher unter den


Volk und Jugend

Dichtung; und die Lieder des Volkes pflegt man als den reinsten, unmittel¬
barsten, echtesten Niederschlag der ewig natürlichen Empfindungen des mensch¬
lichen Herzens zu preisen und zu lieben; sie mitsingen heißt ja eben: durch
die Phantasie des Herzens an diesen ewig natürlichen, leidvollen wie seligen
Menschenempfindungen teilnehmen. Man muß nun aber nicht meinen, daß die
schönen Volkslieder, die wir nicht müde werden träumerisch sehnsüchtig mitzu¬
singen, das regelmäßige Gemeingut sür die Herzen des Volkes bildeten, daß
diese echten Perlen von ruhigem Glänze dort ununtermischt in sicherer Ver¬
wahrung ruhten. Zwischen sie drängt sich dort auch viel fade sentimentales,
breit Geschwätziges, verstandesmäßig Ödes, Geschmackwidriges, um vom
Niedrigen und Rohen zu schweigen. Jene schonen, klassischen Volkslieder sind
eben der Niederschlag des Reinsten und Besten aus diesem natürlich menschlichen
Lebenskreise, aber nicht das schlechthin Kennzeichnende, und übrigens vielfach
nicht wirklich und eigentlich ans dem Volke hervorgegangen. Doch verfolgen
wir das nicht weiter, da es nicht mehr unmittelbar zu unserm Gegenstand gehört.
Nur das sei noch gesagt, daß das Volkslied keineswegs einen weiten Kreis
von Empfindungen und Verhältnissen umsaßt, daß die Phantasie der Dichtenden
hier gering ist, was sie sicherlich da sein darf, wo die Gefühle von herz¬
bezwingender Stärke und ewiger Wahrheit sind.

Gedenken wir einer fernern Kraft, die sich früh im jugendlichen Alter
zeigt und eine der Stärken dieses Alters bildet. Wie die Phantasie die sinn¬
lichen Eindrücke verarbeitend doch über die Abhängigkeit von den Sinnen hinaus¬
führt und in jedem Falle mit die erste Regung des werdenden persönlichen
Geistes ist, so geht der wirklichen, der sicher begründeten und zusammenhängenden
Erkenntnis der Dinge eine Stufe der Intuition, des unmittelbaren innern
Schauens, des ahnenden Verständnisses vorher, auch sie übrigens — wie selbst¬
verständlich — an die sinnlichen Eindrücke sich anheftend. Lange bevor das
gesprochn« Wort vernommen und verstanden wird, werden Geberden, Blicke,
Mienen verstanden, das anlächelnde Auge der Mutter wie ihre liebkosenden
Bewegungen und ihre von Innigkeit erfüllte Stimme sicherlich schon in den
ersten Monaten des Lebens, ebenso auch die Ruhe begehrenden Drohungen
des Vaters, und vieles andre. Es ist, wie in der Welt der Sinne die Tast¬
organe Empfindung geben vor den Sehorganen. Auch das Verständnis der
Worte der Muttersprache wird ja nnr durch Ahnung, dnrch Erraten allmählich
erlernt; der Kenntnis der Jnhaltswcrte geht ein Empfinden voraus. Diese
Begabung, die ein wundervolles Stück der menschlichen Ausstattung bildet
(übrigens auch der Tierwelt nicht versagt ist), kann auch nachher nie ganz ver¬
loren werden; sie bildet eine wertvolle Kraft für den Weg durchs Leben,
gleichsam ein besondres unsichtbares Fühlorgan, das allerdings, wie andre
Kräfte, den Einzelnen in sehr verschiednen Grade verliehen ist. Wer es in
besondrer Sicherheit und Stärke hat, der wandelt wie ein Seher unter den


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[0364] Volk und Jugend Dichtung; und die Lieder des Volkes pflegt man als den reinsten, unmittel¬ barsten, echtesten Niederschlag der ewig natürlichen Empfindungen des mensch¬ lichen Herzens zu preisen und zu lieben; sie mitsingen heißt ja eben: durch die Phantasie des Herzens an diesen ewig natürlichen, leidvollen wie seligen Menschenempfindungen teilnehmen. Man muß nun aber nicht meinen, daß die schönen Volkslieder, die wir nicht müde werden träumerisch sehnsüchtig mitzu¬ singen, das regelmäßige Gemeingut sür die Herzen des Volkes bildeten, daß diese echten Perlen von ruhigem Glänze dort ununtermischt in sicherer Ver¬ wahrung ruhten. Zwischen sie drängt sich dort auch viel fade sentimentales, breit Geschwätziges, verstandesmäßig Ödes, Geschmackwidriges, um vom Niedrigen und Rohen zu schweigen. Jene schonen, klassischen Volkslieder sind eben der Niederschlag des Reinsten und Besten aus diesem natürlich menschlichen Lebenskreise, aber nicht das schlechthin Kennzeichnende, und übrigens vielfach nicht wirklich und eigentlich ans dem Volke hervorgegangen. Doch verfolgen wir das nicht weiter, da es nicht mehr unmittelbar zu unserm Gegenstand gehört. Nur das sei noch gesagt, daß das Volkslied keineswegs einen weiten Kreis von Empfindungen und Verhältnissen umsaßt, daß die Phantasie der Dichtenden hier gering ist, was sie sicherlich da sein darf, wo die Gefühle von herz¬ bezwingender Stärke und ewiger Wahrheit sind. Gedenken wir einer fernern Kraft, die sich früh im jugendlichen Alter zeigt und eine der Stärken dieses Alters bildet. Wie die Phantasie die sinn¬ lichen Eindrücke verarbeitend doch über die Abhängigkeit von den Sinnen hinaus¬ führt und in jedem Falle mit die erste Regung des werdenden persönlichen Geistes ist, so geht der wirklichen, der sicher begründeten und zusammenhängenden Erkenntnis der Dinge eine Stufe der Intuition, des unmittelbaren innern Schauens, des ahnenden Verständnisses vorher, auch sie übrigens — wie selbst¬ verständlich — an die sinnlichen Eindrücke sich anheftend. Lange bevor das gesprochn« Wort vernommen und verstanden wird, werden Geberden, Blicke, Mienen verstanden, das anlächelnde Auge der Mutter wie ihre liebkosenden Bewegungen und ihre von Innigkeit erfüllte Stimme sicherlich schon in den ersten Monaten des Lebens, ebenso auch die Ruhe begehrenden Drohungen des Vaters, und vieles andre. Es ist, wie in der Welt der Sinne die Tast¬ organe Empfindung geben vor den Sehorganen. Auch das Verständnis der Worte der Muttersprache wird ja nnr durch Ahnung, dnrch Erraten allmählich erlernt; der Kenntnis der Jnhaltswcrte geht ein Empfinden voraus. Diese Begabung, die ein wundervolles Stück der menschlichen Ausstattung bildet (übrigens auch der Tierwelt nicht versagt ist), kann auch nachher nie ganz ver¬ loren werden; sie bildet eine wertvolle Kraft für den Weg durchs Leben, gleichsam ein besondres unsichtbares Fühlorgan, das allerdings, wie andre Kräfte, den Einzelnen in sehr verschiednen Grade verliehen ist. Wer es in besondrer Sicherheit und Stärke hat, der wandelt wie ein Seher unter den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/364>, abgerufen am 24.07.2024.