Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vererbung

Anzahl von Determinanten muß wohl den Prozeß der Artbildung ausmachen,
und es entspricht durchaus dem Prinzip der Variation, wenn wir annehmen,
daß gerade wie bei den für uns sichtbaren Lebenseinheiten, den Einzelligen,
den Personen und Stöcken die Abänderung bei einzelnen Individuen in ver-
schiednen Grade und verschiedner Richtung auftritt, dies auch bei den unsicht¬
baren niedern Lebenseinheiten, dem Id und dem Biophor der Fall sei. So
wird also die ^von Weismann vorläufig gemachtes Annahme, daß das Keim¬
plasma einer Art in Bezug auf die Artcharaktere aus lauter identischen Iden
bestehe, genau genommen nicht richtig sein können; dasselbe muß sich viel¬
mehr zusammensetzen aus einer Mehrzahl von vollständig abgeänderten und
mit der neuen Art Determinanten versehenen Iden, und einer Minderzahl nur
unvollkommen oder wohl auch gar nicht abgeänderter Ite der Stammart.
Die Zahl der letztern wird durch Selektion der Individuen im Laufe der
Zeiten allmählich abnehmen, und damit werden die neuen Artcharaktere mehr
und mehr ihre ursprüngliche Veränderlichkeit verlieren. Durch Naturzüchtung
wird das Keimplasma mehr und mehr von seinen nur wenig oder noch gar
nicht in der neuen Richtung abgeänderten Iden befreit, indem die minder gut
angepaßten Individuen eben die sind, in deren Keimplasma noch eine größere
Zahl nicht umgewandelter Ite enthalten ist. Da nun diese, die Individuen,
nach und nach im Kampfe ums Dasein ausgemerzt werdeu, so wird sich die
Zahl der nicht abgeänderten Ite in den folgenden Generationen immer mehr
verringern müssen, und dieser Züchtungsprozeß des Keimplasmas wird erst
zum Stillstand kommen, wenn die Zahl der nicht oder unvollkommen abge¬
änderten Ite so klein geworden ist, daß ihr Einfluß in Bezug auf die Aus¬
bildung der für die Art wesentlichen Charaktere verschwindend klein geworden
ist" (15 355 bis 356). Woher sollen aber die "neuen Artdeterminanten"
kommen, wenn nicht von den Veränderungen, die das sie enthaltende Indi¬
viduum unter neuen Lebensverhältnissen erleidet? Ist das aber der Fall, dann
werden eben solche Veränderungen des Individuums erblich, indem sie mit
dem Individuum zugleich auch seine Vererbungssubstanz umwandeln. Nur
auf diese Weise ist besonders auch das Auftreten neuer und das Verschwinden
alter Glieder zu erklären. Wo ein Bein wächst, das vorher nicht vorhanden
war, da müssen auch Determinanten für dieses Bein wachsen, und wo ein Bein
verkümmert und zuletzt verschwindet, da müssen auch die Beindeterminanten
verkümmern und verschwinden. Die Vorfahren der Schlangen sollen behelmte
Reptilien gewesen sein, die nach Weismann ihre Beine verloren haben, weil
sie ihnen beim Kriechen durch enge Spalten hinderlich waren. Gut! Wenn
aber die Verkümmerung der Beine nicht in jedem Individuum eine entsprechende
Verkümmerung der Beindeterminanten zur Folge gehabt, d. h. wenn nicht jedes
solche Reptil die bei ihm eingetretene Verkümmerung vererbt hätte, dann
würde alle Selektion, d. h. aller Untergang der gut behelmten Exemplare nichts


Vererbung

Anzahl von Determinanten muß wohl den Prozeß der Artbildung ausmachen,
und es entspricht durchaus dem Prinzip der Variation, wenn wir annehmen,
daß gerade wie bei den für uns sichtbaren Lebenseinheiten, den Einzelligen,
den Personen und Stöcken die Abänderung bei einzelnen Individuen in ver-
schiednen Grade und verschiedner Richtung auftritt, dies auch bei den unsicht¬
baren niedern Lebenseinheiten, dem Id und dem Biophor der Fall sei. So
wird also die ^von Weismann vorläufig gemachtes Annahme, daß das Keim¬
plasma einer Art in Bezug auf die Artcharaktere aus lauter identischen Iden
bestehe, genau genommen nicht richtig sein können; dasselbe muß sich viel¬
mehr zusammensetzen aus einer Mehrzahl von vollständig abgeänderten und
mit der neuen Art Determinanten versehenen Iden, und einer Minderzahl nur
unvollkommen oder wohl auch gar nicht abgeänderter Ite der Stammart.
Die Zahl der letztern wird durch Selektion der Individuen im Laufe der
Zeiten allmählich abnehmen, und damit werden die neuen Artcharaktere mehr
und mehr ihre ursprüngliche Veränderlichkeit verlieren. Durch Naturzüchtung
wird das Keimplasma mehr und mehr von seinen nur wenig oder noch gar
nicht in der neuen Richtung abgeänderten Iden befreit, indem die minder gut
angepaßten Individuen eben die sind, in deren Keimplasma noch eine größere
Zahl nicht umgewandelter Ite enthalten ist. Da nun diese, die Individuen,
nach und nach im Kampfe ums Dasein ausgemerzt werdeu, so wird sich die
Zahl der nicht abgeänderten Ite in den folgenden Generationen immer mehr
verringern müssen, und dieser Züchtungsprozeß des Keimplasmas wird erst
zum Stillstand kommen, wenn die Zahl der nicht oder unvollkommen abge¬
änderten Ite so klein geworden ist, daß ihr Einfluß in Bezug auf die Aus¬
bildung der für die Art wesentlichen Charaktere verschwindend klein geworden
ist" (15 355 bis 356). Woher sollen aber die „neuen Artdeterminanten"
kommen, wenn nicht von den Veränderungen, die das sie enthaltende Indi¬
viduum unter neuen Lebensverhältnissen erleidet? Ist das aber der Fall, dann
werden eben solche Veränderungen des Individuums erblich, indem sie mit
dem Individuum zugleich auch seine Vererbungssubstanz umwandeln. Nur
auf diese Weise ist besonders auch das Auftreten neuer und das Verschwinden
alter Glieder zu erklären. Wo ein Bein wächst, das vorher nicht vorhanden
war, da müssen auch Determinanten für dieses Bein wachsen, und wo ein Bein
verkümmert und zuletzt verschwindet, da müssen auch die Beindeterminanten
verkümmern und verschwinden. Die Vorfahren der Schlangen sollen behelmte
Reptilien gewesen sein, die nach Weismann ihre Beine verloren haben, weil
sie ihnen beim Kriechen durch enge Spalten hinderlich waren. Gut! Wenn
aber die Verkümmerung der Beine nicht in jedem Individuum eine entsprechende
Verkümmerung der Beindeterminanten zur Folge gehabt, d. h. wenn nicht jedes
solche Reptil die bei ihm eingetretene Verkümmerung vererbt hätte, dann
würde alle Selektion, d. h. aller Untergang der gut behelmten Exemplare nichts


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0034" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225620"/>
          <fw type="header" place="top"> Vererbung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_69" prev="#ID_68" next="#ID_70"> Anzahl von Determinanten muß wohl den Prozeß der Artbildung ausmachen,<lb/>
und es entspricht durchaus dem Prinzip der Variation, wenn wir annehmen,<lb/>
daß gerade wie bei den für uns sichtbaren Lebenseinheiten, den Einzelligen,<lb/>
den Personen und Stöcken die Abänderung bei einzelnen Individuen in ver-<lb/>
schiednen Grade und verschiedner Richtung auftritt, dies auch bei den unsicht¬<lb/>
baren niedern Lebenseinheiten, dem Id und dem Biophor der Fall sei. So<lb/>
wird also die ^von Weismann vorläufig gemachtes Annahme, daß das Keim¬<lb/>
plasma einer Art in Bezug auf die Artcharaktere aus lauter identischen Iden<lb/>
bestehe, genau genommen nicht richtig sein können; dasselbe muß sich viel¬<lb/>
mehr zusammensetzen aus einer Mehrzahl von vollständig abgeänderten und<lb/>
mit der neuen Art Determinanten versehenen Iden, und einer Minderzahl nur<lb/>
unvollkommen oder wohl auch gar nicht abgeänderter Ite der Stammart.<lb/>
Die Zahl der letztern wird durch Selektion der Individuen im Laufe der<lb/>
Zeiten allmählich abnehmen, und damit werden die neuen Artcharaktere mehr<lb/>
und mehr ihre ursprüngliche Veränderlichkeit verlieren. Durch Naturzüchtung<lb/>
wird das Keimplasma mehr und mehr von seinen nur wenig oder noch gar<lb/>
nicht in der neuen Richtung abgeänderten Iden befreit, indem die minder gut<lb/>
angepaßten Individuen eben die sind, in deren Keimplasma noch eine größere<lb/>
Zahl nicht umgewandelter Ite enthalten ist. Da nun diese, die Individuen,<lb/>
nach und nach im Kampfe ums Dasein ausgemerzt werdeu, so wird sich die<lb/>
Zahl der nicht abgeänderten Ite in den folgenden Generationen immer mehr<lb/>
verringern müssen, und dieser Züchtungsprozeß des Keimplasmas wird erst<lb/>
zum Stillstand kommen, wenn die Zahl der nicht oder unvollkommen abge¬<lb/>
änderten Ite so klein geworden ist, daß ihr Einfluß in Bezug auf die Aus¬<lb/>
bildung der für die Art wesentlichen Charaktere verschwindend klein geworden<lb/>
ist" (15 355 bis 356). Woher sollen aber die &#x201E;neuen Artdeterminanten"<lb/>
kommen, wenn nicht von den Veränderungen, die das sie enthaltende Indi¬<lb/>
viduum unter neuen Lebensverhältnissen erleidet? Ist das aber der Fall, dann<lb/>
werden eben solche Veränderungen des Individuums erblich, indem sie mit<lb/>
dem Individuum zugleich auch seine Vererbungssubstanz umwandeln. Nur<lb/>
auf diese Weise ist besonders auch das Auftreten neuer und das Verschwinden<lb/>
alter Glieder zu erklären. Wo ein Bein wächst, das vorher nicht vorhanden<lb/>
war, da müssen auch Determinanten für dieses Bein wachsen, und wo ein Bein<lb/>
verkümmert und zuletzt verschwindet, da müssen auch die Beindeterminanten<lb/>
verkümmern und verschwinden. Die Vorfahren der Schlangen sollen behelmte<lb/>
Reptilien gewesen sein, die nach Weismann ihre Beine verloren haben, weil<lb/>
sie ihnen beim Kriechen durch enge Spalten hinderlich waren. Gut! Wenn<lb/>
aber die Verkümmerung der Beine nicht in jedem Individuum eine entsprechende<lb/>
Verkümmerung der Beindeterminanten zur Folge gehabt, d. h. wenn nicht jedes<lb/>
solche Reptil die bei ihm eingetretene Verkümmerung vererbt hätte, dann<lb/>
würde alle Selektion, d. h. aller Untergang der gut behelmten Exemplare nichts</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0034] Vererbung Anzahl von Determinanten muß wohl den Prozeß der Artbildung ausmachen, und es entspricht durchaus dem Prinzip der Variation, wenn wir annehmen, daß gerade wie bei den für uns sichtbaren Lebenseinheiten, den Einzelligen, den Personen und Stöcken die Abänderung bei einzelnen Individuen in ver- schiednen Grade und verschiedner Richtung auftritt, dies auch bei den unsicht¬ baren niedern Lebenseinheiten, dem Id und dem Biophor der Fall sei. So wird also die ^von Weismann vorläufig gemachtes Annahme, daß das Keim¬ plasma einer Art in Bezug auf die Artcharaktere aus lauter identischen Iden bestehe, genau genommen nicht richtig sein können; dasselbe muß sich viel¬ mehr zusammensetzen aus einer Mehrzahl von vollständig abgeänderten und mit der neuen Art Determinanten versehenen Iden, und einer Minderzahl nur unvollkommen oder wohl auch gar nicht abgeänderter Ite der Stammart. Die Zahl der letztern wird durch Selektion der Individuen im Laufe der Zeiten allmählich abnehmen, und damit werden die neuen Artcharaktere mehr und mehr ihre ursprüngliche Veränderlichkeit verlieren. Durch Naturzüchtung wird das Keimplasma mehr und mehr von seinen nur wenig oder noch gar nicht in der neuen Richtung abgeänderten Iden befreit, indem die minder gut angepaßten Individuen eben die sind, in deren Keimplasma noch eine größere Zahl nicht umgewandelter Ite enthalten ist. Da nun diese, die Individuen, nach und nach im Kampfe ums Dasein ausgemerzt werdeu, so wird sich die Zahl der nicht abgeänderten Ite in den folgenden Generationen immer mehr verringern müssen, und dieser Züchtungsprozeß des Keimplasmas wird erst zum Stillstand kommen, wenn die Zahl der nicht oder unvollkommen abge¬ änderten Ite so klein geworden ist, daß ihr Einfluß in Bezug auf die Aus¬ bildung der für die Art wesentlichen Charaktere verschwindend klein geworden ist" (15 355 bis 356). Woher sollen aber die „neuen Artdeterminanten" kommen, wenn nicht von den Veränderungen, die das sie enthaltende Indi¬ viduum unter neuen Lebensverhältnissen erleidet? Ist das aber der Fall, dann werden eben solche Veränderungen des Individuums erblich, indem sie mit dem Individuum zugleich auch seine Vererbungssubstanz umwandeln. Nur auf diese Weise ist besonders auch das Auftreten neuer und das Verschwinden alter Glieder zu erklären. Wo ein Bein wächst, das vorher nicht vorhanden war, da müssen auch Determinanten für dieses Bein wachsen, und wo ein Bein verkümmert und zuletzt verschwindet, da müssen auch die Beindeterminanten verkümmern und verschwinden. Die Vorfahren der Schlangen sollen behelmte Reptilien gewesen sein, die nach Weismann ihre Beine verloren haben, weil sie ihnen beim Kriechen durch enge Spalten hinderlich waren. Gut! Wenn aber die Verkümmerung der Beine nicht in jedem Individuum eine entsprechende Verkümmerung der Beindeterminanten zur Folge gehabt, d. h. wenn nicht jedes solche Reptil die bei ihm eingetretene Verkümmerung vererbt hätte, dann würde alle Selektion, d. h. aller Untergang der gut behelmten Exemplare nichts

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/34
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/34>, abgerufen am 28.12.2024.