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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die erste: El" Bettler wird, nachdem er fünf Tage in Untersuchungshaft ge¬
sessen hat, nach Beendigung der Untersuchung durch amtsrichterlicheu Strafbefehl
zu einer dreitägigen Haftstrafe verurteilt, die nach dem weitern Inhalt des Straf-
befchls, als durch die erlittene Untersuchungshaft verbüßt, augesehen werden soll.
Der Amtsrichter läßt sich den Verurteilten vorführen und eröffnet ihm, daß er,
wenn er sich diesem Strafbefchl sofort unterwerfe, also auf Einspruch verzichten
wolle, sogleich werde in Freiheit gesetzt werden. Wenn er dagegen, wozu ihm das
Recht zustehe, Einspruch erhebe, so erlange der Strafbefehl noch keine Rechtskraft;
die Sache komme dann zur Entscheidung durch das Schöffengericht. Da aber der
nächste Schösfeugerichtstag erst in acht Tagen stattfinde, so müsse er in diesem
Falle noch so lange in Untersuchungshaft bleiben. Ohne sich auch nur zu besinnen
-- denn er hatte die günstige Situation sofort mit klarem Blick erkannt --, ant¬
wortete der Bettler, er beruhige sich nicht bei der ihm zuerkannten Strafe, da sie
ihm zu hoch sei, er verlange Entscheidung durch das Schöffengericht. Anstatt sich
also durch Verzicht auf den Einspruch sofort die Freiheit wieder zu erwerben, zog
er es vor, noch eine Woche in Haft zu bleiben. Warum? Offenbar nur, weil
es ihm dort gefiel. Denn einen Vorteil konnte er von der Entscheidung des
Schöffengerichts überhaupt nicht erwarten; selbst wenn dieses die Strafe auf einen
Tag herabgesetzt hätte --> daß er freigesprochen wurde, war nicht möglich, da er
das ihm zur Last gelegte Vergehen einräumte --, so konnte ihm das völlig gleich-
giltig sein, da ja die dreitägige Strafe auch schon als verbüßt angesehen wurde.
Günstiger konnte er durch gerichtliche Entscheidung unter keinen Umständen weg¬
kommen. Es lag also ans der Hand, daß es ihm nur darum zu thun war, den
angenehmen Aufenthalt in seiner warmen Zelle -- es war mitten im strengen
Winter -- noch um einige Tage zu verlängern. Er machte ein sehr betrübtes
Gesicht, als ihm der Amtsrichter, der ihn sofort durchschaute, eröffnete, daß er
dennoch aus der Untersuchungshaft entlassen sei und zum Termintage wieder er¬
scheinen möge.

Die zweite Geschichte: Der Gefangenwärter des Amtsgerichts in L. erscheint
in der Weihnachtszeit bei seinem vorgesetzten Amtsrichter und bittet diesen um die
Erlaubnis, den Gefangnen zu Weihnachten Pfefferkuchen und Äpfel zu geben. Ans
die Frage des erstaunten Richters, wie er hierzu komme, erwidert der Gefangen¬
wärter mit dem ernstesten Gesicht: die Gefangnen in F. (Nachbarstndt) bekämen
auch stets Pfefferkuchen zu Weihnachten; seine Gefangnen Hütten dasselbe begehrt
und ihm erklärt, wenn er ihnen den nicht gebe, so kämen sie im nächsten Jahre
nicht wieder, sondern gingen lieber uach F.

Diese beiden wahren Geschichten liefern doch einen interessanten Beitrag zur
deutschen Kulturgeschichte am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Sie beweisen,
daß es die höchste Zeit ist, auf dem Gebiete des Gefängniswesens mit Reformen
vorzugehen, Reformen freilich zu Ungunsten der Gefangnen, aber zu Gunsten einer
vernünftigen Strafvollstreckung. Die heutigen Verhältnisse sind derart, daß die
Haftstrafe und die geringen Gefängnisstrafen für den, der, wie die meisten Vaga¬
bunden, den Aufenthalt im Gefängnis nicht für schimpflich hält, überhaupt keine
Strafen sind; im Gegenteil: sie bilden, wie die beiden Vorfälle zur Genüge be¬
weisen, eine zum Teil mit allen möglichen Annehmlichkeiten umgebne Zuflucht für
Müßiggänger und solche, die mit Hunger, Kälte und sonstigen Lebensnöten zu
kämpfen haben. Im Gefängnis bekommen sie gratis alles, was sie sonst entbehren
müssen: ein warmes Zimmer, ein weiches Lager, anständiges warmes Mittagessen,
ja sogar in vielen Gefängnissen im Winter auch warme Suppe. Eine merkwürdige


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die erste: El» Bettler wird, nachdem er fünf Tage in Untersuchungshaft ge¬
sessen hat, nach Beendigung der Untersuchung durch amtsrichterlicheu Strafbefehl
zu einer dreitägigen Haftstrafe verurteilt, die nach dem weitern Inhalt des Straf-
befchls, als durch die erlittene Untersuchungshaft verbüßt, augesehen werden soll.
Der Amtsrichter läßt sich den Verurteilten vorführen und eröffnet ihm, daß er,
wenn er sich diesem Strafbefchl sofort unterwerfe, also auf Einspruch verzichten
wolle, sogleich werde in Freiheit gesetzt werden. Wenn er dagegen, wozu ihm das
Recht zustehe, Einspruch erhebe, so erlange der Strafbefehl noch keine Rechtskraft;
die Sache komme dann zur Entscheidung durch das Schöffengericht. Da aber der
nächste Schösfeugerichtstag erst in acht Tagen stattfinde, so müsse er in diesem
Falle noch so lange in Untersuchungshaft bleiben. Ohne sich auch nur zu besinnen
— denn er hatte die günstige Situation sofort mit klarem Blick erkannt —, ant¬
wortete der Bettler, er beruhige sich nicht bei der ihm zuerkannten Strafe, da sie
ihm zu hoch sei, er verlange Entscheidung durch das Schöffengericht. Anstatt sich
also durch Verzicht auf den Einspruch sofort die Freiheit wieder zu erwerben, zog
er es vor, noch eine Woche in Haft zu bleiben. Warum? Offenbar nur, weil
es ihm dort gefiel. Denn einen Vorteil konnte er von der Entscheidung des
Schöffengerichts überhaupt nicht erwarten; selbst wenn dieses die Strafe auf einen
Tag herabgesetzt hätte —> daß er freigesprochen wurde, war nicht möglich, da er
das ihm zur Last gelegte Vergehen einräumte —, so konnte ihm das völlig gleich-
giltig sein, da ja die dreitägige Strafe auch schon als verbüßt angesehen wurde.
Günstiger konnte er durch gerichtliche Entscheidung unter keinen Umständen weg¬
kommen. Es lag also ans der Hand, daß es ihm nur darum zu thun war, den
angenehmen Aufenthalt in seiner warmen Zelle — es war mitten im strengen
Winter — noch um einige Tage zu verlängern. Er machte ein sehr betrübtes
Gesicht, als ihm der Amtsrichter, der ihn sofort durchschaute, eröffnete, daß er
dennoch aus der Untersuchungshaft entlassen sei und zum Termintage wieder er¬
scheinen möge.

Die zweite Geschichte: Der Gefangenwärter des Amtsgerichts in L. erscheint
in der Weihnachtszeit bei seinem vorgesetzten Amtsrichter und bittet diesen um die
Erlaubnis, den Gefangnen zu Weihnachten Pfefferkuchen und Äpfel zu geben. Ans
die Frage des erstaunten Richters, wie er hierzu komme, erwidert der Gefangen¬
wärter mit dem ernstesten Gesicht: die Gefangnen in F. (Nachbarstndt) bekämen
auch stets Pfefferkuchen zu Weihnachten; seine Gefangnen Hütten dasselbe begehrt
und ihm erklärt, wenn er ihnen den nicht gebe, so kämen sie im nächsten Jahre
nicht wieder, sondern gingen lieber uach F.

Diese beiden wahren Geschichten liefern doch einen interessanten Beitrag zur
deutschen Kulturgeschichte am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Sie beweisen,
daß es die höchste Zeit ist, auf dem Gebiete des Gefängniswesens mit Reformen
vorzugehen, Reformen freilich zu Ungunsten der Gefangnen, aber zu Gunsten einer
vernünftigen Strafvollstreckung. Die heutigen Verhältnisse sind derart, daß die
Haftstrafe und die geringen Gefängnisstrafen für den, der, wie die meisten Vaga¬
bunden, den Aufenthalt im Gefängnis nicht für schimpflich hält, überhaupt keine
Strafen sind; im Gegenteil: sie bilden, wie die beiden Vorfälle zur Genüge be¬
weisen, eine zum Teil mit allen möglichen Annehmlichkeiten umgebne Zuflucht für
Müßiggänger und solche, die mit Hunger, Kälte und sonstigen Lebensnöten zu
kämpfen haben. Im Gefängnis bekommen sie gratis alles, was sie sonst entbehren
müssen: ein warmes Zimmer, ein weiches Lager, anständiges warmes Mittagessen,
ja sogar in vielen Gefängnissen im Winter auch warme Suppe. Eine merkwürdige


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[0338] Maßgebliches und Unmaßgebliches Die erste: El» Bettler wird, nachdem er fünf Tage in Untersuchungshaft ge¬ sessen hat, nach Beendigung der Untersuchung durch amtsrichterlicheu Strafbefehl zu einer dreitägigen Haftstrafe verurteilt, die nach dem weitern Inhalt des Straf- befchls, als durch die erlittene Untersuchungshaft verbüßt, augesehen werden soll. Der Amtsrichter läßt sich den Verurteilten vorführen und eröffnet ihm, daß er, wenn er sich diesem Strafbefchl sofort unterwerfe, also auf Einspruch verzichten wolle, sogleich werde in Freiheit gesetzt werden. Wenn er dagegen, wozu ihm das Recht zustehe, Einspruch erhebe, so erlange der Strafbefehl noch keine Rechtskraft; die Sache komme dann zur Entscheidung durch das Schöffengericht. Da aber der nächste Schösfeugerichtstag erst in acht Tagen stattfinde, so müsse er in diesem Falle noch so lange in Untersuchungshaft bleiben. Ohne sich auch nur zu besinnen — denn er hatte die günstige Situation sofort mit klarem Blick erkannt —, ant¬ wortete der Bettler, er beruhige sich nicht bei der ihm zuerkannten Strafe, da sie ihm zu hoch sei, er verlange Entscheidung durch das Schöffengericht. Anstatt sich also durch Verzicht auf den Einspruch sofort die Freiheit wieder zu erwerben, zog er es vor, noch eine Woche in Haft zu bleiben. Warum? Offenbar nur, weil es ihm dort gefiel. Denn einen Vorteil konnte er von der Entscheidung des Schöffengerichts überhaupt nicht erwarten; selbst wenn dieses die Strafe auf einen Tag herabgesetzt hätte —> daß er freigesprochen wurde, war nicht möglich, da er das ihm zur Last gelegte Vergehen einräumte —, so konnte ihm das völlig gleich- giltig sein, da ja die dreitägige Strafe auch schon als verbüßt angesehen wurde. Günstiger konnte er durch gerichtliche Entscheidung unter keinen Umständen weg¬ kommen. Es lag also ans der Hand, daß es ihm nur darum zu thun war, den angenehmen Aufenthalt in seiner warmen Zelle — es war mitten im strengen Winter — noch um einige Tage zu verlängern. Er machte ein sehr betrübtes Gesicht, als ihm der Amtsrichter, der ihn sofort durchschaute, eröffnete, daß er dennoch aus der Untersuchungshaft entlassen sei und zum Termintage wieder er¬ scheinen möge. Die zweite Geschichte: Der Gefangenwärter des Amtsgerichts in L. erscheint in der Weihnachtszeit bei seinem vorgesetzten Amtsrichter und bittet diesen um die Erlaubnis, den Gefangnen zu Weihnachten Pfefferkuchen und Äpfel zu geben. Ans die Frage des erstaunten Richters, wie er hierzu komme, erwidert der Gefangen¬ wärter mit dem ernstesten Gesicht: die Gefangnen in F. (Nachbarstndt) bekämen auch stets Pfefferkuchen zu Weihnachten; seine Gefangnen Hütten dasselbe begehrt und ihm erklärt, wenn er ihnen den nicht gebe, so kämen sie im nächsten Jahre nicht wieder, sondern gingen lieber uach F. Diese beiden wahren Geschichten liefern doch einen interessanten Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Sie beweisen, daß es die höchste Zeit ist, auf dem Gebiete des Gefängniswesens mit Reformen vorzugehen, Reformen freilich zu Ungunsten der Gefangnen, aber zu Gunsten einer vernünftigen Strafvollstreckung. Die heutigen Verhältnisse sind derart, daß die Haftstrafe und die geringen Gefängnisstrafen für den, der, wie die meisten Vaga¬ bunden, den Aufenthalt im Gefängnis nicht für schimpflich hält, überhaupt keine Strafen sind; im Gegenteil: sie bilden, wie die beiden Vorfälle zur Genüge be¬ weisen, eine zum Teil mit allen möglichen Annehmlichkeiten umgebne Zuflucht für Müßiggänger und solche, die mit Hunger, Kälte und sonstigen Lebensnöten zu kämpfen haben. Im Gefängnis bekommen sie gratis alles, was sie sonst entbehren müssen: ein warmes Zimmer, ein weiches Lager, anständiges warmes Mittagessen, ja sogar in vielen Gefängnissen im Winter auch warme Suppe. Eine merkwürdige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/338>, abgerufen am 28.12.2024.