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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

und Liedern, Vorstellungen und Redewendungen wird allenthalben aufgesucht
und mit dem Gefühle zusammengestellt, daß es nicht nur etwas Wichtiges gelte,
etwas, das der Mühe wert sei, sondern gewissermaßen etwas Heiliges, durch
Echtheit und Tiefgründigkeit Geweihtes. Alle Mundarten werden von der
Wissenschaft erforscht, alle Mundarten läßt die Dichtung wiedertönen, ein Er¬
zähler von Volksgeschichten folgt dem andern, um ihn an Treue zu überbieten.
Wie lockt das Volksschauspiel, so oft es geboten wird! Wie gefallen die
Volkstrachten, wo sie noch bewahrt werden! Wie reichlich wählt die Malerei
ihre Gegenstände aus dem Leben des Volkes, und wie sucht sie gerade in
unsrer Zeit (wie übrigens ja auch die Dichtung) mit alles durchdringendem
Wirklichkeitssinn auch unser Auge besser sehen zu lehren!

Und doch ist es die Frage, ob das Verständnis so groß und so verbreitet
sei, wie es nach alledem scheinen sollte, und auch, wie man selbst überzeugt
sein mag. Als sich vor einigen Jahren ein Kandidat der Theologie auf mehrere
Monate zum einfachen Handarbeiter machte, um zwischen Handarbeitern lebend
deren wirkliches Fühlen und Denken kennen zu lernen, begründete er seinen
Schritt damit, daß wir ja das Volk nicht kennten; er wollte es erst, ungefähr
wie die Bewohner serner Gegenden, kennen lernen, gleichsam diesen fremden
Weltteil erst persönlich "durchqueren." Ich bin nicht geneigt, diese Unkenntnis
wirklich so allgemein anzunehmen. Aber jedenfalls giebt die gesamte Litteratur
der Volksgeschichten und der Volksschauspiele nebst Volksliedern und Bildern
und Schilderungen noch keine ganz ernstliche Kenntnis. Wir sehen das Volk
dort immer nur in dem Abbild, das vielleicht der klarste, überlegenste,
aber doch immer ein fremder Blick geschaut und wiedergegeben hat. Die Töne
sind immer ausgewählt und zum klangvollen Stück zusammengeordnct, nicht
unter Vermeidung von Dissonanzen, aber doch zum harmonisch wirkenden Stück;
die Wirklichkeit bietet die ganze Fülle der Töne oft in wirrem Durcheinander
oder peinlichen Nebeneinander. Die Kunst ist eine wundervolle Leuchte für
die Wirklichkeit, aber sie läßt einen großen Teil in um so tieferen Schatten
liegen.

Nun fehlt es freilich ja auch außerdem den einzelnen Gebildeten nicht an
Gelegenheiten, das Volk kennen zu lernen. Der Arzt lernt es, wenn er nicht
zufällig bloß fürstlicher Leibarzt ist oder eine erlesene Praxis in der vor¬
nehmen Welt hat, kennen nicht bloß in seinen körperlichen Nöten, sondern
auch in einem guten Stück seiner Sinnesart; der Richter lernt es kennen in
seinen Verschuldungen und seinen Zwistigkeiten und damit wieder in einem
umfassenden Stück seines Lebens; der Geistliche blickt auf dem Wege zur
Seelsorge auch hinein in all die Leibessorge; und nun kommen die Lehrer,
die fast niemals bloß die Kinder der Bevorzugten zu unterrichten haben, es
kommen alle die Arbeitgeber, seien es die großen, die Hunderte von Menschen
an Esse oder Webstuhl stellen, oder seien es die gelegentlichen, die bei Hand-


Volk und Jugend

und Liedern, Vorstellungen und Redewendungen wird allenthalben aufgesucht
und mit dem Gefühle zusammengestellt, daß es nicht nur etwas Wichtiges gelte,
etwas, das der Mühe wert sei, sondern gewissermaßen etwas Heiliges, durch
Echtheit und Tiefgründigkeit Geweihtes. Alle Mundarten werden von der
Wissenschaft erforscht, alle Mundarten läßt die Dichtung wiedertönen, ein Er¬
zähler von Volksgeschichten folgt dem andern, um ihn an Treue zu überbieten.
Wie lockt das Volksschauspiel, so oft es geboten wird! Wie gefallen die
Volkstrachten, wo sie noch bewahrt werden! Wie reichlich wählt die Malerei
ihre Gegenstände aus dem Leben des Volkes, und wie sucht sie gerade in
unsrer Zeit (wie übrigens ja auch die Dichtung) mit alles durchdringendem
Wirklichkeitssinn auch unser Auge besser sehen zu lehren!

Und doch ist es die Frage, ob das Verständnis so groß und so verbreitet
sei, wie es nach alledem scheinen sollte, und auch, wie man selbst überzeugt
sein mag. Als sich vor einigen Jahren ein Kandidat der Theologie auf mehrere
Monate zum einfachen Handarbeiter machte, um zwischen Handarbeitern lebend
deren wirkliches Fühlen und Denken kennen zu lernen, begründete er seinen
Schritt damit, daß wir ja das Volk nicht kennten; er wollte es erst, ungefähr
wie die Bewohner serner Gegenden, kennen lernen, gleichsam diesen fremden
Weltteil erst persönlich „durchqueren." Ich bin nicht geneigt, diese Unkenntnis
wirklich so allgemein anzunehmen. Aber jedenfalls giebt die gesamte Litteratur
der Volksgeschichten und der Volksschauspiele nebst Volksliedern und Bildern
und Schilderungen noch keine ganz ernstliche Kenntnis. Wir sehen das Volk
dort immer nur in dem Abbild, das vielleicht der klarste, überlegenste,
aber doch immer ein fremder Blick geschaut und wiedergegeben hat. Die Töne
sind immer ausgewählt und zum klangvollen Stück zusammengeordnct, nicht
unter Vermeidung von Dissonanzen, aber doch zum harmonisch wirkenden Stück;
die Wirklichkeit bietet die ganze Fülle der Töne oft in wirrem Durcheinander
oder peinlichen Nebeneinander. Die Kunst ist eine wundervolle Leuchte für
die Wirklichkeit, aber sie läßt einen großen Teil in um so tieferen Schatten
liegen.

Nun fehlt es freilich ja auch außerdem den einzelnen Gebildeten nicht an
Gelegenheiten, das Volk kennen zu lernen. Der Arzt lernt es, wenn er nicht
zufällig bloß fürstlicher Leibarzt ist oder eine erlesene Praxis in der vor¬
nehmen Welt hat, kennen nicht bloß in seinen körperlichen Nöten, sondern
auch in einem guten Stück seiner Sinnesart; der Richter lernt es kennen in
seinen Verschuldungen und seinen Zwistigkeiten und damit wieder in einem
umfassenden Stück seines Lebens; der Geistliche blickt auf dem Wege zur
Seelsorge auch hinein in all die Leibessorge; und nun kommen die Lehrer,
die fast niemals bloß die Kinder der Bevorzugten zu unterrichten haben, es
kommen alle die Arbeitgeber, seien es die großen, die Hunderte von Menschen
an Esse oder Webstuhl stellen, oder seien es die gelegentlichen, die bei Hand-


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[0317] Volk und Jugend und Liedern, Vorstellungen und Redewendungen wird allenthalben aufgesucht und mit dem Gefühle zusammengestellt, daß es nicht nur etwas Wichtiges gelte, etwas, das der Mühe wert sei, sondern gewissermaßen etwas Heiliges, durch Echtheit und Tiefgründigkeit Geweihtes. Alle Mundarten werden von der Wissenschaft erforscht, alle Mundarten läßt die Dichtung wiedertönen, ein Er¬ zähler von Volksgeschichten folgt dem andern, um ihn an Treue zu überbieten. Wie lockt das Volksschauspiel, so oft es geboten wird! Wie gefallen die Volkstrachten, wo sie noch bewahrt werden! Wie reichlich wählt die Malerei ihre Gegenstände aus dem Leben des Volkes, und wie sucht sie gerade in unsrer Zeit (wie übrigens ja auch die Dichtung) mit alles durchdringendem Wirklichkeitssinn auch unser Auge besser sehen zu lehren! Und doch ist es die Frage, ob das Verständnis so groß und so verbreitet sei, wie es nach alledem scheinen sollte, und auch, wie man selbst überzeugt sein mag. Als sich vor einigen Jahren ein Kandidat der Theologie auf mehrere Monate zum einfachen Handarbeiter machte, um zwischen Handarbeitern lebend deren wirkliches Fühlen und Denken kennen zu lernen, begründete er seinen Schritt damit, daß wir ja das Volk nicht kennten; er wollte es erst, ungefähr wie die Bewohner serner Gegenden, kennen lernen, gleichsam diesen fremden Weltteil erst persönlich „durchqueren." Ich bin nicht geneigt, diese Unkenntnis wirklich so allgemein anzunehmen. Aber jedenfalls giebt die gesamte Litteratur der Volksgeschichten und der Volksschauspiele nebst Volksliedern und Bildern und Schilderungen noch keine ganz ernstliche Kenntnis. Wir sehen das Volk dort immer nur in dem Abbild, das vielleicht der klarste, überlegenste, aber doch immer ein fremder Blick geschaut und wiedergegeben hat. Die Töne sind immer ausgewählt und zum klangvollen Stück zusammengeordnct, nicht unter Vermeidung von Dissonanzen, aber doch zum harmonisch wirkenden Stück; die Wirklichkeit bietet die ganze Fülle der Töne oft in wirrem Durcheinander oder peinlichen Nebeneinander. Die Kunst ist eine wundervolle Leuchte für die Wirklichkeit, aber sie läßt einen großen Teil in um so tieferen Schatten liegen. Nun fehlt es freilich ja auch außerdem den einzelnen Gebildeten nicht an Gelegenheiten, das Volk kennen zu lernen. Der Arzt lernt es, wenn er nicht zufällig bloß fürstlicher Leibarzt ist oder eine erlesene Praxis in der vor¬ nehmen Welt hat, kennen nicht bloß in seinen körperlichen Nöten, sondern auch in einem guten Stück seiner Sinnesart; der Richter lernt es kennen in seinen Verschuldungen und seinen Zwistigkeiten und damit wieder in einem umfassenden Stück seines Lebens; der Geistliche blickt auf dem Wege zur Seelsorge auch hinein in all die Leibessorge; und nun kommen die Lehrer, die fast niemals bloß die Kinder der Bevorzugten zu unterrichten haben, es kommen alle die Arbeitgeber, seien es die großen, die Hunderte von Menschen an Esse oder Webstuhl stellen, oder seien es die gelegentlichen, die bei Hand-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/317>, abgerufen am 24.07.2024.