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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Ieiemias Gotthelf

jähre verbrachte er in Murten, die meiste Zeit seiner Jugend aber in dem
Vauerndorfe Utzenstorf, und so wurde er schon als Knabe in der Welt heimisch,
in der seine Erzählungen spielen. Mit fünfzehn Jahren kam er auf die
Litterarschule nach Bern, zwei Jahre später auf die Berner Akademie, die
mit ihrem sechsjährigen Kursus eine Verbindung der obern Klassen des
Gymnasiums und der Universität bildete. Seine Lieblingsfächer waren Mathe¬
matik und Physik, später auch Geschichte; eines seiner Lieblingsbücher wurden
Herders "Ideen," und der "höhere Nationalismus" Herders ging in seine
Lebensanschauung über. Die Theologie hat er nie als reines Brotstudium
aufgefaßt, sondern in der Predigerstelluug schon früh die Gelegenheit gesehen,
in die menschlichen Gesellschaftsverhältnisse als ein tüchtiges Glied praktisch
eingreifen, schassen und wirken zu können, weswegen er denn auch das Studium
des Menschen, nicht aus Büchern, sondern im Leben für besonders notwendig
für den Theologen erklärte. Bei solcher Geistesrichtung mußte ihm alle
Frömmelei, ja selbst der Übereifer, dein junge Theologen so leicht verfallen,
verhaßt sein. Im Jahre 1820 wurde er Kandidat und sofort Vikar seines
Vaters in Utzenstorf; ein Jahr darauf bezog er aber zur Erweiterung seiner
Studien die Universität Göttingen. Dort hörte er die namhafteste" Professoren,
nicht bloß die Theologen, sondern auch den Historiker Heeren, den Ästhetiker
Bouterwek. An das Göttinger Studienjahr °schloß sich eine größere Reise
durch Deutschland, namentlich durch Preußen und Sachsen, die aber keinen
besondern Einfluß auf ihn gehabt zu haben scheint. Nach der Heimkehr wurde
er zunächst wieder Vikar seines Vater, der 1824 starb, dann in Herzvgen-
buchsee in Oberaargau, darauf 1829 in Bern und 1831 in Lützelflüh im
Emmenthal. 1832 erhielt er dort die Pfarrstelle, die er dann bis an sein
Lebensende verwaltet hat; 1833 verheiratete er sich. Schon als Vikar hatte
er sich viel mit dein Schul- und dem Armenwesen beschäftigt und sich auf
diesem Gebiete die eingehendsten Kenntnisse erworben; als Pfarrer arbeitete
er in derselben Richtung weiter, war Mitglied einer Schulkommission und
eines Vereins für christliche Volksbildung und gründete eine Erziehungsanstalt
für arme Knaben. Aber diese Werkthätigkeit im engern Kreise genügte ihm
auf die Dauer nicht, im Jahre 1836 trat er, zur Überraschung seiner Freunde
und Bekannten, plötzlich als Schriftsteller auf, es erschien sein "Banernspiegel"
oder "Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf," nach deren Helden er sich fortan
als Schriftsteller nannte. Er war damals schon neununddreißig Jahre alt.

Wir haben auch sonst Beispiele, daß zu schriftstellerischer Thätigkeit be¬
rufne Männer erst spät hervorgetreten sind. Rousseau z. B., ein Schweizer
wie Vitzius und ihm an Begabung ähnlich, war siebenunddreißig Jahre alt,
als er seinen berühmten ersten Discours herausgab. Eigentliche Dichter ge¬
langen jedoch höchst selten so spät zur Produktion, wenn sich . auch manche,
wie Heinrich von Kleist und Gottfried Keller, ihrer poetischen Begabung erst


Ieiemias Gotthelf

jähre verbrachte er in Murten, die meiste Zeit seiner Jugend aber in dem
Vauerndorfe Utzenstorf, und so wurde er schon als Knabe in der Welt heimisch,
in der seine Erzählungen spielen. Mit fünfzehn Jahren kam er auf die
Litterarschule nach Bern, zwei Jahre später auf die Berner Akademie, die
mit ihrem sechsjährigen Kursus eine Verbindung der obern Klassen des
Gymnasiums und der Universität bildete. Seine Lieblingsfächer waren Mathe¬
matik und Physik, später auch Geschichte; eines seiner Lieblingsbücher wurden
Herders „Ideen," und der „höhere Nationalismus" Herders ging in seine
Lebensanschauung über. Die Theologie hat er nie als reines Brotstudium
aufgefaßt, sondern in der Predigerstelluug schon früh die Gelegenheit gesehen,
in die menschlichen Gesellschaftsverhältnisse als ein tüchtiges Glied praktisch
eingreifen, schassen und wirken zu können, weswegen er denn auch das Studium
des Menschen, nicht aus Büchern, sondern im Leben für besonders notwendig
für den Theologen erklärte. Bei solcher Geistesrichtung mußte ihm alle
Frömmelei, ja selbst der Übereifer, dein junge Theologen so leicht verfallen,
verhaßt sein. Im Jahre 1820 wurde er Kandidat und sofort Vikar seines
Vaters in Utzenstorf; ein Jahr darauf bezog er aber zur Erweiterung seiner
Studien die Universität Göttingen. Dort hörte er die namhafteste» Professoren,
nicht bloß die Theologen, sondern auch den Historiker Heeren, den Ästhetiker
Bouterwek. An das Göttinger Studienjahr °schloß sich eine größere Reise
durch Deutschland, namentlich durch Preußen und Sachsen, die aber keinen
besondern Einfluß auf ihn gehabt zu haben scheint. Nach der Heimkehr wurde
er zunächst wieder Vikar seines Vater, der 1824 starb, dann in Herzvgen-
buchsee in Oberaargau, darauf 1829 in Bern und 1831 in Lützelflüh im
Emmenthal. 1832 erhielt er dort die Pfarrstelle, die er dann bis an sein
Lebensende verwaltet hat; 1833 verheiratete er sich. Schon als Vikar hatte
er sich viel mit dein Schul- und dem Armenwesen beschäftigt und sich auf
diesem Gebiete die eingehendsten Kenntnisse erworben; als Pfarrer arbeitete
er in derselben Richtung weiter, war Mitglied einer Schulkommission und
eines Vereins für christliche Volksbildung und gründete eine Erziehungsanstalt
für arme Knaben. Aber diese Werkthätigkeit im engern Kreise genügte ihm
auf die Dauer nicht, im Jahre 1836 trat er, zur Überraschung seiner Freunde
und Bekannten, plötzlich als Schriftsteller auf, es erschien sein „Banernspiegel"
oder „Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf," nach deren Helden er sich fortan
als Schriftsteller nannte. Er war damals schon neununddreißig Jahre alt.

Wir haben auch sonst Beispiele, daß zu schriftstellerischer Thätigkeit be¬
rufne Männer erst spät hervorgetreten sind. Rousseau z. B., ein Schweizer
wie Vitzius und ihm an Begabung ähnlich, war siebenunddreißig Jahre alt,
als er seinen berühmten ersten Discours herausgab. Eigentliche Dichter ge¬
langen jedoch höchst selten so spät zur Produktion, wenn sich . auch manche,
wie Heinrich von Kleist und Gottfried Keller, ihrer poetischen Begabung erst


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[0279] Ieiemias Gotthelf jähre verbrachte er in Murten, die meiste Zeit seiner Jugend aber in dem Vauerndorfe Utzenstorf, und so wurde er schon als Knabe in der Welt heimisch, in der seine Erzählungen spielen. Mit fünfzehn Jahren kam er auf die Litterarschule nach Bern, zwei Jahre später auf die Berner Akademie, die mit ihrem sechsjährigen Kursus eine Verbindung der obern Klassen des Gymnasiums und der Universität bildete. Seine Lieblingsfächer waren Mathe¬ matik und Physik, später auch Geschichte; eines seiner Lieblingsbücher wurden Herders „Ideen," und der „höhere Nationalismus" Herders ging in seine Lebensanschauung über. Die Theologie hat er nie als reines Brotstudium aufgefaßt, sondern in der Predigerstelluug schon früh die Gelegenheit gesehen, in die menschlichen Gesellschaftsverhältnisse als ein tüchtiges Glied praktisch eingreifen, schassen und wirken zu können, weswegen er denn auch das Studium des Menschen, nicht aus Büchern, sondern im Leben für besonders notwendig für den Theologen erklärte. Bei solcher Geistesrichtung mußte ihm alle Frömmelei, ja selbst der Übereifer, dein junge Theologen so leicht verfallen, verhaßt sein. Im Jahre 1820 wurde er Kandidat und sofort Vikar seines Vaters in Utzenstorf; ein Jahr darauf bezog er aber zur Erweiterung seiner Studien die Universität Göttingen. Dort hörte er die namhafteste» Professoren, nicht bloß die Theologen, sondern auch den Historiker Heeren, den Ästhetiker Bouterwek. An das Göttinger Studienjahr °schloß sich eine größere Reise durch Deutschland, namentlich durch Preußen und Sachsen, die aber keinen besondern Einfluß auf ihn gehabt zu haben scheint. Nach der Heimkehr wurde er zunächst wieder Vikar seines Vater, der 1824 starb, dann in Herzvgen- buchsee in Oberaargau, darauf 1829 in Bern und 1831 in Lützelflüh im Emmenthal. 1832 erhielt er dort die Pfarrstelle, die er dann bis an sein Lebensende verwaltet hat; 1833 verheiratete er sich. Schon als Vikar hatte er sich viel mit dein Schul- und dem Armenwesen beschäftigt und sich auf diesem Gebiete die eingehendsten Kenntnisse erworben; als Pfarrer arbeitete er in derselben Richtung weiter, war Mitglied einer Schulkommission und eines Vereins für christliche Volksbildung und gründete eine Erziehungsanstalt für arme Knaben. Aber diese Werkthätigkeit im engern Kreise genügte ihm auf die Dauer nicht, im Jahre 1836 trat er, zur Überraschung seiner Freunde und Bekannten, plötzlich als Schriftsteller auf, es erschien sein „Banernspiegel" oder „Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf," nach deren Helden er sich fortan als Schriftsteller nannte. Er war damals schon neununddreißig Jahre alt. Wir haben auch sonst Beispiele, daß zu schriftstellerischer Thätigkeit be¬ rufne Männer erst spät hervorgetreten sind. Rousseau z. B., ein Schweizer wie Vitzius und ihm an Begabung ähnlich, war siebenunddreißig Jahre alt, als er seinen berühmten ersten Discours herausgab. Eigentliche Dichter ge¬ langen jedoch höchst selten so spät zur Produktion, wenn sich . auch manche, wie Heinrich von Kleist und Gottfried Keller, ihrer poetischen Begabung erst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/279>, abgerufen am 29.12.2024.