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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

ihre Ergänzung." Man muß diese Anschauungen noch etwas erweitern und zu¬
gleich bestimmter fassen, um sie auf die Litteraturgeschichte anwenden zu können.
Erfahrungsgemäß giebt es ja in der Litteratur wie in der Geschichte und im
Leben keinen Anfang und kein Ende, aber jede Persönlichkeit ist ein Anfang
und ein Ende, und ferner sind doch aus Persönlichkeiten bestehende Entwicklungs¬
reihen festzustellen, die einen Anfang und ein Ende haben oder doch zu haben
scheinen. Nur muß man nicht meinen, daß solche Entwicklungsreihen stets
mit einem kleinen Talent begonnen, auf das größere folgen, bis die Reihe in
ein Genie ausläuft, an das sich dann wieder der Größe nach abnehmende
Talente schließen; so einfach geht es in der menschlichen Entwicklungsgeschichte
nicht zu. Es kann recht wohl an der Spitze einer Entwicklung eine verhältnis¬
mäßig große Persönlichkeit stehen, von der nach verschiednen Richtungen Talente
ausgehen, die Übergänge können durch Talente bezeichnet werden, die an Be¬
deutung sehr verschieden sind, das gipfelnde Genie kann auch seinerseits, obgleich
sein Werk abgeschlossen erscheint, wieder vorwärts deuten und eine Ergänzung
fordern, nicht im einzelnen, aber der Gesamtheit nach. Im allgemeinen ist
jedoch die aufsteigende wie die absteigende Entwicklung auf dem Gebiete der
Kunst, ja der gesamten menschlichen Thätigkeit festzuhalten, nur daß die ganze
Entwicklungsreihe nie den bekannten Perlenkränzen gleicht, sondern höhere und
niedre Typen gemischt sind. Jeremicis Gotthelf wäre also ein Anfang, wenn
ihm auch schon eine Entwicklung volkstümlicher Schriftstellerei in Deutschland
vorhergeht, aber er ist nichts weniger als ein beschränktes Talent, sondern
eine universale Erscheinung, in der eine ganze Reihe verschiedenartiger Er¬
scheinungen späterer Zeit, ich will nicht sagen wurzelt, aber doch angedeutet
und zum Teil vorweggenommen ist, ohne daß bisher das gipfelnde Genie
hervorgetreten wäre. Nicht nur der dogmatische Naturalismus Zolas, der
bestimmte moralische Zwecke verfolgt, ist bei Gotthelf zu finden, sondern auch
der natürliche der großen russischen Schriftsteller, der das, was wir "Erd-
geruch" nennen, in die Litteraturwerke hineinträgt; das politisch Tendenziöse
der (ältern) Dramen Ibsens und seine etwas karrikirten Parteimänner fehlen
bei Gotthelf ebenso wenig wie der soziale Geist der neuern Deutschen, der sich
mit besondrer Vorliebe auf die Armeleutbilder geworfen hat. Und diese ver¬
schiednen Bestandteile sind nicht etwa bloß im Keime, embryonisch, sondern mehr
oder minder ausgebildet da. Wenn Gotthelf dennoch, alles in allem genommen,
keinen Gipfel unsrer oder gar der Weltliteratur bedeutet, so hat das seine
ganz besondern Gründe.

Über seinen Lebensgang ist nicht viel zu sagen. Albert Vitzius stammte aus
einer alten Berner Familie, deren Mitglieder jahrhundertelang Ämter bei dem
aristokratischen Regiment des Kantons bekleidet hatten, seine unmittelbaren
Vorfahren waren Pfarrer. Sowohl die aristokratische wie die geistliche Ab¬
stammung ist für die Erklärung seines Wesens wichtig. Seine ersten Kinder-


Jeremias Gotthelf

ihre Ergänzung." Man muß diese Anschauungen noch etwas erweitern und zu¬
gleich bestimmter fassen, um sie auf die Litteraturgeschichte anwenden zu können.
Erfahrungsgemäß giebt es ja in der Litteratur wie in der Geschichte und im
Leben keinen Anfang und kein Ende, aber jede Persönlichkeit ist ein Anfang
und ein Ende, und ferner sind doch aus Persönlichkeiten bestehende Entwicklungs¬
reihen festzustellen, die einen Anfang und ein Ende haben oder doch zu haben
scheinen. Nur muß man nicht meinen, daß solche Entwicklungsreihen stets
mit einem kleinen Talent begonnen, auf das größere folgen, bis die Reihe in
ein Genie ausläuft, an das sich dann wieder der Größe nach abnehmende
Talente schließen; so einfach geht es in der menschlichen Entwicklungsgeschichte
nicht zu. Es kann recht wohl an der Spitze einer Entwicklung eine verhältnis¬
mäßig große Persönlichkeit stehen, von der nach verschiednen Richtungen Talente
ausgehen, die Übergänge können durch Talente bezeichnet werden, die an Be¬
deutung sehr verschieden sind, das gipfelnde Genie kann auch seinerseits, obgleich
sein Werk abgeschlossen erscheint, wieder vorwärts deuten und eine Ergänzung
fordern, nicht im einzelnen, aber der Gesamtheit nach. Im allgemeinen ist
jedoch die aufsteigende wie die absteigende Entwicklung auf dem Gebiete der
Kunst, ja der gesamten menschlichen Thätigkeit festzuhalten, nur daß die ganze
Entwicklungsreihe nie den bekannten Perlenkränzen gleicht, sondern höhere und
niedre Typen gemischt sind. Jeremicis Gotthelf wäre also ein Anfang, wenn
ihm auch schon eine Entwicklung volkstümlicher Schriftstellerei in Deutschland
vorhergeht, aber er ist nichts weniger als ein beschränktes Talent, sondern
eine universale Erscheinung, in der eine ganze Reihe verschiedenartiger Er¬
scheinungen späterer Zeit, ich will nicht sagen wurzelt, aber doch angedeutet
und zum Teil vorweggenommen ist, ohne daß bisher das gipfelnde Genie
hervorgetreten wäre. Nicht nur der dogmatische Naturalismus Zolas, der
bestimmte moralische Zwecke verfolgt, ist bei Gotthelf zu finden, sondern auch
der natürliche der großen russischen Schriftsteller, der das, was wir „Erd-
geruch" nennen, in die Litteraturwerke hineinträgt; das politisch Tendenziöse
der (ältern) Dramen Ibsens und seine etwas karrikirten Parteimänner fehlen
bei Gotthelf ebenso wenig wie der soziale Geist der neuern Deutschen, der sich
mit besondrer Vorliebe auf die Armeleutbilder geworfen hat. Und diese ver¬
schiednen Bestandteile sind nicht etwa bloß im Keime, embryonisch, sondern mehr
oder minder ausgebildet da. Wenn Gotthelf dennoch, alles in allem genommen,
keinen Gipfel unsrer oder gar der Weltliteratur bedeutet, so hat das seine
ganz besondern Gründe.

Über seinen Lebensgang ist nicht viel zu sagen. Albert Vitzius stammte aus
einer alten Berner Familie, deren Mitglieder jahrhundertelang Ämter bei dem
aristokratischen Regiment des Kantons bekleidet hatten, seine unmittelbaren
Vorfahren waren Pfarrer. Sowohl die aristokratische wie die geistliche Ab¬
stammung ist für die Erklärung seines Wesens wichtig. Seine ersten Kinder-


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[0278] Jeremias Gotthelf ihre Ergänzung." Man muß diese Anschauungen noch etwas erweitern und zu¬ gleich bestimmter fassen, um sie auf die Litteraturgeschichte anwenden zu können. Erfahrungsgemäß giebt es ja in der Litteratur wie in der Geschichte und im Leben keinen Anfang und kein Ende, aber jede Persönlichkeit ist ein Anfang und ein Ende, und ferner sind doch aus Persönlichkeiten bestehende Entwicklungs¬ reihen festzustellen, die einen Anfang und ein Ende haben oder doch zu haben scheinen. Nur muß man nicht meinen, daß solche Entwicklungsreihen stets mit einem kleinen Talent begonnen, auf das größere folgen, bis die Reihe in ein Genie ausläuft, an das sich dann wieder der Größe nach abnehmende Talente schließen; so einfach geht es in der menschlichen Entwicklungsgeschichte nicht zu. Es kann recht wohl an der Spitze einer Entwicklung eine verhältnis¬ mäßig große Persönlichkeit stehen, von der nach verschiednen Richtungen Talente ausgehen, die Übergänge können durch Talente bezeichnet werden, die an Be¬ deutung sehr verschieden sind, das gipfelnde Genie kann auch seinerseits, obgleich sein Werk abgeschlossen erscheint, wieder vorwärts deuten und eine Ergänzung fordern, nicht im einzelnen, aber der Gesamtheit nach. Im allgemeinen ist jedoch die aufsteigende wie die absteigende Entwicklung auf dem Gebiete der Kunst, ja der gesamten menschlichen Thätigkeit festzuhalten, nur daß die ganze Entwicklungsreihe nie den bekannten Perlenkränzen gleicht, sondern höhere und niedre Typen gemischt sind. Jeremicis Gotthelf wäre also ein Anfang, wenn ihm auch schon eine Entwicklung volkstümlicher Schriftstellerei in Deutschland vorhergeht, aber er ist nichts weniger als ein beschränktes Talent, sondern eine universale Erscheinung, in der eine ganze Reihe verschiedenartiger Er¬ scheinungen späterer Zeit, ich will nicht sagen wurzelt, aber doch angedeutet und zum Teil vorweggenommen ist, ohne daß bisher das gipfelnde Genie hervorgetreten wäre. Nicht nur der dogmatische Naturalismus Zolas, der bestimmte moralische Zwecke verfolgt, ist bei Gotthelf zu finden, sondern auch der natürliche der großen russischen Schriftsteller, der das, was wir „Erd- geruch" nennen, in die Litteraturwerke hineinträgt; das politisch Tendenziöse der (ältern) Dramen Ibsens und seine etwas karrikirten Parteimänner fehlen bei Gotthelf ebenso wenig wie der soziale Geist der neuern Deutschen, der sich mit besondrer Vorliebe auf die Armeleutbilder geworfen hat. Und diese ver¬ schiednen Bestandteile sind nicht etwa bloß im Keime, embryonisch, sondern mehr oder minder ausgebildet da. Wenn Gotthelf dennoch, alles in allem genommen, keinen Gipfel unsrer oder gar der Weltliteratur bedeutet, so hat das seine ganz besondern Gründe. Über seinen Lebensgang ist nicht viel zu sagen. Albert Vitzius stammte aus einer alten Berner Familie, deren Mitglieder jahrhundertelang Ämter bei dem aristokratischen Regiment des Kantons bekleidet hatten, seine unmittelbaren Vorfahren waren Pfarrer. Sowohl die aristokratische wie die geistliche Ab¬ stammung ist für die Erklärung seines Wesens wichtig. Seine ersten Kinder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/278>, abgerufen am 24.07.2024.