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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

die allerinnigste, und ihre Zerstörung daher das allergrößte Verbrechen. Das
leuchtet sicher den Kindern ein; sie verstehen es ganz gut, daß es ein großes
Unglück und die Zerrüttung der Familie bedeutet, wenn der Vater mit einem
andern Weibe vertrauter und freundschaftlicher verkehrt als mit der Mutter,
oder diese mit einem andern Manne; sie verstehen also auch ganz gut, was
Ehebruch ist, denn eben darin besteht er und ist schon vollendet, auch wenn
gar keine "Unkeuschheit" vorkommt. Über diese müssen ja die jungen Leute
ebenfalls unterrichtet werden, aber das ist Sache eines ärztlichen Ratgebers,
den der Vater oder die Mutter vertreten können. Freilich fehlt es meistens
in unsrer heutigen Gesellschaft an einem solchen, und so mag ja eine Be¬
lehrung über diese Dinge im Katechismusunterricht oder im Beichtstuhl not¬
wendig sein, wie aus andern Gründen eine über das fünfte, siebente und achte
Gebot; aber, wie gesagt, wenn man über die Sache nachgedacht hat, überläßt
man das Geschäft lieber einem andern. Übrigens ließen sich alle diese Unter¬
weisungen recht gut in andre Unterrichtsfächer einfügen, z. B. was mit dem
sechsten Gebot zusammenhängt in die Naturgeschichte.

Mit alledem habe ich aber die Hauptschwierigkeit noch gar nicht berührt,
die darin liegt, daß diese bürgerliche Moral, die der Geistliche in der Schule
einpauken soll, gar nicht die Moral des Evangeliums ist, sofern man überhaupt
von einer solchen sprechen darf, denn Christus wollte einen neuen Geist mit¬
teilen, der keiner besondern Gebote und Verbote, keiner Sittenvorschriften und
keiner Pflichtenlehre bedarf. Wenn es sich bloß darum gehandelt hätte, ein¬
zuschärfen, daß man nicht stehlen, nicht verleumden, den Eltern und den
Obrigkeiten gehorchen, niemand totschlagen und sich mit des Nächsten Ehefrau
nicht einlassen soll -- wahrhaftig, das hätte sich für Gott gelohnt, zu diesem
Zwecke Mensch zu werden und am Kreuze zu sterben! Alle diese Dinge sind
von jeher in jeder geordneten Gesellschaft erzwungen worden, soweit sie er¬
zwingbar sind, und soweit sie das nicht sind, fehlt es eben auch in der christ¬
lichen Gesellschaft daran. Die Pharisäer waren moralische Mustermenschen
und außerdem noch in der Sabbathheiligung der heutigen Berliner Polizei
weit über, und trotzdem hat ihnen Christus die Hölle angedroht und statt
ihrer die öffentlichen Sünder und Sünderinnen berufen; war er doch gerade ge¬
kommen, zu verkündigen, daß wir nicht ins Himmelreich eingehen können, wenn
unsre Gerechtigkeit nicht besser sei als die der Schriftgelehrten und Pharisäer.
Wir wollen uns nicht in eine Untersuchung des wahren und tiefsten Sinnes
der Jesuslehre einlassen, haben ihn doch die Theologen und Philosophen bis
auf den heutigen Tag noch nicht ergründet; aber gegen die Ansicht, daß er in
der gewöhnlichen bürgerlichen Moral liege, war Luthers Lebenskampf gerichtet,
und einige Punkte, in denen sich Jesu Moral, sofern von einer solchen ge¬
sprochen werden darf, von der gewöhnlichen unterscheidet, lassen sich deutlich
erkennen. Die zwei wichtigsten sind, daß Christus das Streben nach irdischen


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die allerinnigste, und ihre Zerstörung daher das allergrößte Verbrechen. Das
leuchtet sicher den Kindern ein; sie verstehen es ganz gut, daß es ein großes
Unglück und die Zerrüttung der Familie bedeutet, wenn der Vater mit einem
andern Weibe vertrauter und freundschaftlicher verkehrt als mit der Mutter,
oder diese mit einem andern Manne; sie verstehen also auch ganz gut, was
Ehebruch ist, denn eben darin besteht er und ist schon vollendet, auch wenn
gar keine „Unkeuschheit" vorkommt. Über diese müssen ja die jungen Leute
ebenfalls unterrichtet werden, aber das ist Sache eines ärztlichen Ratgebers,
den der Vater oder die Mutter vertreten können. Freilich fehlt es meistens
in unsrer heutigen Gesellschaft an einem solchen, und so mag ja eine Be¬
lehrung über diese Dinge im Katechismusunterricht oder im Beichtstuhl not¬
wendig sein, wie aus andern Gründen eine über das fünfte, siebente und achte
Gebot; aber, wie gesagt, wenn man über die Sache nachgedacht hat, überläßt
man das Geschäft lieber einem andern. Übrigens ließen sich alle diese Unter¬
weisungen recht gut in andre Unterrichtsfächer einfügen, z. B. was mit dem
sechsten Gebot zusammenhängt in die Naturgeschichte.

Mit alledem habe ich aber die Hauptschwierigkeit noch gar nicht berührt,
die darin liegt, daß diese bürgerliche Moral, die der Geistliche in der Schule
einpauken soll, gar nicht die Moral des Evangeliums ist, sofern man überhaupt
von einer solchen sprechen darf, denn Christus wollte einen neuen Geist mit¬
teilen, der keiner besondern Gebote und Verbote, keiner Sittenvorschriften und
keiner Pflichtenlehre bedarf. Wenn es sich bloß darum gehandelt hätte, ein¬
zuschärfen, daß man nicht stehlen, nicht verleumden, den Eltern und den
Obrigkeiten gehorchen, niemand totschlagen und sich mit des Nächsten Ehefrau
nicht einlassen soll — wahrhaftig, das hätte sich für Gott gelohnt, zu diesem
Zwecke Mensch zu werden und am Kreuze zu sterben! Alle diese Dinge sind
von jeher in jeder geordneten Gesellschaft erzwungen worden, soweit sie er¬
zwingbar sind, und soweit sie das nicht sind, fehlt es eben auch in der christ¬
lichen Gesellschaft daran. Die Pharisäer waren moralische Mustermenschen
und außerdem noch in der Sabbathheiligung der heutigen Berliner Polizei
weit über, und trotzdem hat ihnen Christus die Hölle angedroht und statt
ihrer die öffentlichen Sünder und Sünderinnen berufen; war er doch gerade ge¬
kommen, zu verkündigen, daß wir nicht ins Himmelreich eingehen können, wenn
unsre Gerechtigkeit nicht besser sei als die der Schriftgelehrten und Pharisäer.
Wir wollen uns nicht in eine Untersuchung des wahren und tiefsten Sinnes
der Jesuslehre einlassen, haben ihn doch die Theologen und Philosophen bis
auf den heutigen Tag noch nicht ergründet; aber gegen die Ansicht, daß er in
der gewöhnlichen bürgerlichen Moral liege, war Luthers Lebenskampf gerichtet,
und einige Punkte, in denen sich Jesu Moral, sofern von einer solchen ge¬
sprochen werden darf, von der gewöhnlichen unterscheidet, lassen sich deutlich
erkennen. Die zwei wichtigsten sind, daß Christus das Streben nach irdischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/270>, abgerufen am 29.12.2024.