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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Ein Grundübel unsrer Strafrechtspflege

Strafe zu entfernen. Wenn dann solche Gesellen im Gefängnis erscheinen, die
nur aus Bosheit und Gemeinheit öffentliche Anlagen, Ruhebänke usw. mit
Kot beschmutzen, junge Bäume umknicken, Denkmäler oder Neubauten mit einer
ätzenden Flüssigkeit begießen oder wie jüngst in Frankfurt a. M. am Denkmal
Kaiser Karls des Großen die Hand herunterhauen (wofür sie wirklich ein
ganzes Jahr Gefängnis erhalten haben sollen!), dann ergreift den Beamten
das Gefühl: Für dich, elender Knjon, ist das Gefängnis ein viel zu guter Ort,
du müßtest Prügel haben, daß du an den Wänden hinauftanztest! Aber diese
Energie geht unsrer Rechtspflege immer mehr verloren. Tcicitus sagt: in
xsssimli, vivit,g.t>6 x1v.rim.a<z IsZös. Die Fähigkeit, ein formgerechtes, allen
Feinheiten der Strafprozeßordnung entsprechendes Urteil zu verfassen, bietet
noch lange nicht die Bürgschaft, daß solche Urteile auch dem schlichten Rechts-
bewußtsein des Volkes Genüge leisten. Eine Rechtspflege, die imstande ist,
einen achtzehnjährigen Handwerksburschen zum erstenmale zwanzig Tage ins
Gefängnis zu sperren, dagegen ein Mädchen, das sich preisgegeben hat und
zum erstenmale mit der Sittenpolizei in Konflikt kommt, mit einem Tag Haft
bestraft, beweist damit, daß sie das Volksleben schlechterdings nicht kennt.
Ein Handwerksbursche. der beim Handwerk vorspricht, braucht noch lange nicht
ehrlos zu sein. Die öffentliche Dirne aber ist unter allen Umständen ehrlos
und hat in der Regel, ehe sie mit dem Richter Bekanntschaft macht, vorher
schon wochenlang, ja oft schon jahrelang von ihrem ehrlosen Treiben gelebt.
Vor einiger Zeit hörte ich, daß ein Gendarm einem fechtenden Handwerks¬
burschen die Papiere geprüft, ihm aus seiner Tasche ein Geldstück gegeben
und ihn dann vor das Dorf geführt habe, wo er ihn mit einem sanften
Fußtritt den Weg zur nächsten Stadt gezeigt habe, wo er Arbeit finden würde.
Das war ein vernünftiger Kriminalpolitiker.

Geradezu absurd ist die gesamte heutige Rechtspflege gegen die Dirnen.
Wird ein Mädchen unter Sittenkvntrolle gestellt, und der Richter kommt in die
Lage, ein solches Mädchen zum erstenmal bestrafen zu müssen, dann soll man
sich nicht mit lächerlichen Haftstrafen von einem oder zwei Tagen begnügen.
Würden die Mädchen gleich so bestraft, daß ihnen die Augen übergingen,
würde ihnen das Leben so sauer gemacht, daß ihnen gleich nach der ersten
Bestrafung der Aufenthalt in der Stadt verboten würde, daß sie sofort in die
Heimat zu den Eltern und Vormündern zurückgebracht würden, wo sie erst
dann wieder die Erlaubnis sich zu vermieten bekommen dürften, wenn sie eine
Arbeitsstelle in einer Familie oder einer Fabrik nachweisen könnten, die nicht
auf Täuschung der Polizei hinaufliefe, gegen die überhaupt kein Einwand
erhoben werden könnte, dann hätte die Rechtsprechung gegen diese Dirnen
einen Sinn. Eine solche Rechtspflege fordert allerdings Pädagogen und keine
Bureaukraten, aber von einer solchen Rechtspflege dürfte man sich entschieden
bessere Früchte versprechen als von der heutigen. Gegen den Vergleich der


Grenzboten III 1897 II
Ein Grundübel unsrer Strafrechtspflege

Strafe zu entfernen. Wenn dann solche Gesellen im Gefängnis erscheinen, die
nur aus Bosheit und Gemeinheit öffentliche Anlagen, Ruhebänke usw. mit
Kot beschmutzen, junge Bäume umknicken, Denkmäler oder Neubauten mit einer
ätzenden Flüssigkeit begießen oder wie jüngst in Frankfurt a. M. am Denkmal
Kaiser Karls des Großen die Hand herunterhauen (wofür sie wirklich ein
ganzes Jahr Gefängnis erhalten haben sollen!), dann ergreift den Beamten
das Gefühl: Für dich, elender Knjon, ist das Gefängnis ein viel zu guter Ort,
du müßtest Prügel haben, daß du an den Wänden hinauftanztest! Aber diese
Energie geht unsrer Rechtspflege immer mehr verloren. Tcicitus sagt: in
xsssimli, vivit,g.t>6 x1v.rim.a<z IsZös. Die Fähigkeit, ein formgerechtes, allen
Feinheiten der Strafprozeßordnung entsprechendes Urteil zu verfassen, bietet
noch lange nicht die Bürgschaft, daß solche Urteile auch dem schlichten Rechts-
bewußtsein des Volkes Genüge leisten. Eine Rechtspflege, die imstande ist,
einen achtzehnjährigen Handwerksburschen zum erstenmale zwanzig Tage ins
Gefängnis zu sperren, dagegen ein Mädchen, das sich preisgegeben hat und
zum erstenmale mit der Sittenpolizei in Konflikt kommt, mit einem Tag Haft
bestraft, beweist damit, daß sie das Volksleben schlechterdings nicht kennt.
Ein Handwerksbursche. der beim Handwerk vorspricht, braucht noch lange nicht
ehrlos zu sein. Die öffentliche Dirne aber ist unter allen Umständen ehrlos
und hat in der Regel, ehe sie mit dem Richter Bekanntschaft macht, vorher
schon wochenlang, ja oft schon jahrelang von ihrem ehrlosen Treiben gelebt.
Vor einiger Zeit hörte ich, daß ein Gendarm einem fechtenden Handwerks¬
burschen die Papiere geprüft, ihm aus seiner Tasche ein Geldstück gegeben
und ihn dann vor das Dorf geführt habe, wo er ihn mit einem sanften
Fußtritt den Weg zur nächsten Stadt gezeigt habe, wo er Arbeit finden würde.
Das war ein vernünftiger Kriminalpolitiker.

Geradezu absurd ist die gesamte heutige Rechtspflege gegen die Dirnen.
Wird ein Mädchen unter Sittenkvntrolle gestellt, und der Richter kommt in die
Lage, ein solches Mädchen zum erstenmal bestrafen zu müssen, dann soll man
sich nicht mit lächerlichen Haftstrafen von einem oder zwei Tagen begnügen.
Würden die Mädchen gleich so bestraft, daß ihnen die Augen übergingen,
würde ihnen das Leben so sauer gemacht, daß ihnen gleich nach der ersten
Bestrafung der Aufenthalt in der Stadt verboten würde, daß sie sofort in die
Heimat zu den Eltern und Vormündern zurückgebracht würden, wo sie erst
dann wieder die Erlaubnis sich zu vermieten bekommen dürften, wenn sie eine
Arbeitsstelle in einer Familie oder einer Fabrik nachweisen könnten, die nicht
auf Täuschung der Polizei hinaufliefe, gegen die überhaupt kein Einwand
erhoben werden könnte, dann hätte die Rechtsprechung gegen diese Dirnen
einen Sinn. Eine solche Rechtspflege fordert allerdings Pädagogen und keine
Bureaukraten, aber von einer solchen Rechtspflege dürfte man sich entschieden
bessere Früchte versprechen als von der heutigen. Gegen den Vergleich der


Grenzboten III 1897 II
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[0265] Ein Grundübel unsrer Strafrechtspflege Strafe zu entfernen. Wenn dann solche Gesellen im Gefängnis erscheinen, die nur aus Bosheit und Gemeinheit öffentliche Anlagen, Ruhebänke usw. mit Kot beschmutzen, junge Bäume umknicken, Denkmäler oder Neubauten mit einer ätzenden Flüssigkeit begießen oder wie jüngst in Frankfurt a. M. am Denkmal Kaiser Karls des Großen die Hand herunterhauen (wofür sie wirklich ein ganzes Jahr Gefängnis erhalten haben sollen!), dann ergreift den Beamten das Gefühl: Für dich, elender Knjon, ist das Gefängnis ein viel zu guter Ort, du müßtest Prügel haben, daß du an den Wänden hinauftanztest! Aber diese Energie geht unsrer Rechtspflege immer mehr verloren. Tcicitus sagt: in xsssimli, vivit,g.t>6 x1v.rim.a<z IsZös. Die Fähigkeit, ein formgerechtes, allen Feinheiten der Strafprozeßordnung entsprechendes Urteil zu verfassen, bietet noch lange nicht die Bürgschaft, daß solche Urteile auch dem schlichten Rechts- bewußtsein des Volkes Genüge leisten. Eine Rechtspflege, die imstande ist, einen achtzehnjährigen Handwerksburschen zum erstenmale zwanzig Tage ins Gefängnis zu sperren, dagegen ein Mädchen, das sich preisgegeben hat und zum erstenmale mit der Sittenpolizei in Konflikt kommt, mit einem Tag Haft bestraft, beweist damit, daß sie das Volksleben schlechterdings nicht kennt. Ein Handwerksbursche. der beim Handwerk vorspricht, braucht noch lange nicht ehrlos zu sein. Die öffentliche Dirne aber ist unter allen Umständen ehrlos und hat in der Regel, ehe sie mit dem Richter Bekanntschaft macht, vorher schon wochenlang, ja oft schon jahrelang von ihrem ehrlosen Treiben gelebt. Vor einiger Zeit hörte ich, daß ein Gendarm einem fechtenden Handwerks¬ burschen die Papiere geprüft, ihm aus seiner Tasche ein Geldstück gegeben und ihn dann vor das Dorf geführt habe, wo er ihn mit einem sanften Fußtritt den Weg zur nächsten Stadt gezeigt habe, wo er Arbeit finden würde. Das war ein vernünftiger Kriminalpolitiker. Geradezu absurd ist die gesamte heutige Rechtspflege gegen die Dirnen. Wird ein Mädchen unter Sittenkvntrolle gestellt, und der Richter kommt in die Lage, ein solches Mädchen zum erstenmal bestrafen zu müssen, dann soll man sich nicht mit lächerlichen Haftstrafen von einem oder zwei Tagen begnügen. Würden die Mädchen gleich so bestraft, daß ihnen die Augen übergingen, würde ihnen das Leben so sauer gemacht, daß ihnen gleich nach der ersten Bestrafung der Aufenthalt in der Stadt verboten würde, daß sie sofort in die Heimat zu den Eltern und Vormündern zurückgebracht würden, wo sie erst dann wieder die Erlaubnis sich zu vermieten bekommen dürften, wenn sie eine Arbeitsstelle in einer Familie oder einer Fabrik nachweisen könnten, die nicht auf Täuschung der Polizei hinaufliefe, gegen die überhaupt kein Einwand erhoben werden könnte, dann hätte die Rechtsprechung gegen diese Dirnen einen Sinn. Eine solche Rechtspflege fordert allerdings Pädagogen und keine Bureaukraten, aber von einer solchen Rechtspflege dürfte man sich entschieden bessere Früchte versprechen als von der heutigen. Gegen den Vergleich der Grenzboten III 1897 II

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/265>, abgerufen am 29.12.2024.