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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Lin Grundübel unsrer Strafrechtspflege

Lachens nicht enthalten; denn fünf Jahre Ehrverlust bedeuten für einen solchen
Menschen, der gar keine Ehre zu verlieren hat, dasselbe, als wenn man einen
Ochsen ins Horn kneipt. Fünf Jahre Gefängnis und ein Jahr Ehrverlust
würden einen ganz andern Eindruck machen. Dagegen wird man mit Wehmut
erfüllt beim Anblick eines gutmütigen, kreuzbraver Tölpels. Er hat vor einem
Jahre zur Winterzeit, wo im Kohlenhafen viel zu thun war, sechsunddreißig
Stunden hintereinander gearbeitet. Auf dem Heimweg betritt er mit einem
Mitarbeiter eine Bierwirtschaft. Beim ersten Glase schläft er vor Übermüdung
ein. Der Wirt, ein Mensch, der nicht in dem besten Rufe steht, schüttet dem
eingeschlafnen Gast ein Glas kaltes Wasser in den Nacken. Erschrocken führt
dieser auf, schlägt um sich und ergreift ein auf dem Tische liegendes Messer,
mit dem er den Wirt zweimal leicht verletzt. Das Urteil lautet auf zwei
Jahre und vierzehn Tage Gefängnis. Dieser arme Teufel, der ohne Ver¬
teidiger vor Gericht stand, der so auf den Mund gefallen war, daß er, obwohl
ein Hüne von Gestalt, vor Thränen unfähig war, ein Wort zu reden, war
froh, als die Gerichtsverhandlung zu Ende war. Er Hütte das Urteil unter¬
schrieben, auch wenn es aus drei und noch mehr Jahre gelautet Hütte. Als
ob jede Körperverletzung eine Roheit sein müßte! Der Messerheld, der ge¬
wöhnlich im Gefolge des Zuhültertums in den Großstädten auftritt, ist gewiß
ein hinterlistiger, meuchlerischer und gemeingefährlicher Verbrecher, der kein
Mitleid verdient. Dieses Gesindel, das gewöhnlich eine ganze Reihe von
Strafen wegen Roheit, Hausfriedensbruch, Widerstand gegen die Obrigkeit usw.
verbüßt, ist ein feiges, entartetes Volk. Unter Arbeitern und Bauernjungen
dagegen, die zum erstenmale wegen Körperverletzung bestraf: werden, begegnen
einem vielfach ganz ehrliche Burschen, die man durchaus nicht mit den Messer¬
helden auf eine Stufe stellen darf. Vielfach hat diese Leute verletztes Rechts-
gefühl zur Rache getrieben. Das ist ja nicht der legale Weg, Genugthuung
zu erlangen, aber als ultima rMo wird ein gesundes Volk, namentlich wenn
der gerichtliche Weg vielfach durch ungeheure Gerichtskosten verrammelt ist,
immer wieder solche Wege beschreiben; das wird sich nie ganz aus der Welt
schaffen lassen. Infolgedessen sieht auch das Volk die Körperverletzung vielfach
nicht als etwas Ehrenrühriges an, ebenso wie in weiten Volkskreisen, die
das Leben noch mit ein paar gesunden Augen ansehen, die Prügelstrafe und
die Todesstrafe als eine unbedingte Notwendigkeit empfunden wird. Die
Entfremdung unsrer heutigen Juristerei von dem Rechtsgefühl des Volkes
offenbart sich in nichts mehr als in der angekünstelten Entrüstung über die
Prügelstrafe, in der Bewegung gegen die Todesstrafe, von der Fürst Bismarck
einmal mit Recht gesagt hat, daß sie nur in der Bequemlichkeit ihren Grund
habe, kein Todesurteil aussprechen zu müssen und damit diese hohe Verant¬
wortung von sich abwülzen zu können. Dem deutschen Doktrinarismus ist
es gelungen, die Prügelstrafe aus dem Neichsstrafgesetzbuche als richterliche


Lin Grundübel unsrer Strafrechtspflege

Lachens nicht enthalten; denn fünf Jahre Ehrverlust bedeuten für einen solchen
Menschen, der gar keine Ehre zu verlieren hat, dasselbe, als wenn man einen
Ochsen ins Horn kneipt. Fünf Jahre Gefängnis und ein Jahr Ehrverlust
würden einen ganz andern Eindruck machen. Dagegen wird man mit Wehmut
erfüllt beim Anblick eines gutmütigen, kreuzbraver Tölpels. Er hat vor einem
Jahre zur Winterzeit, wo im Kohlenhafen viel zu thun war, sechsunddreißig
Stunden hintereinander gearbeitet. Auf dem Heimweg betritt er mit einem
Mitarbeiter eine Bierwirtschaft. Beim ersten Glase schläft er vor Übermüdung
ein. Der Wirt, ein Mensch, der nicht in dem besten Rufe steht, schüttet dem
eingeschlafnen Gast ein Glas kaltes Wasser in den Nacken. Erschrocken führt
dieser auf, schlägt um sich und ergreift ein auf dem Tische liegendes Messer,
mit dem er den Wirt zweimal leicht verletzt. Das Urteil lautet auf zwei
Jahre und vierzehn Tage Gefängnis. Dieser arme Teufel, der ohne Ver¬
teidiger vor Gericht stand, der so auf den Mund gefallen war, daß er, obwohl
ein Hüne von Gestalt, vor Thränen unfähig war, ein Wort zu reden, war
froh, als die Gerichtsverhandlung zu Ende war. Er Hütte das Urteil unter¬
schrieben, auch wenn es aus drei und noch mehr Jahre gelautet Hütte. Als
ob jede Körperverletzung eine Roheit sein müßte! Der Messerheld, der ge¬
wöhnlich im Gefolge des Zuhültertums in den Großstädten auftritt, ist gewiß
ein hinterlistiger, meuchlerischer und gemeingefährlicher Verbrecher, der kein
Mitleid verdient. Dieses Gesindel, das gewöhnlich eine ganze Reihe von
Strafen wegen Roheit, Hausfriedensbruch, Widerstand gegen die Obrigkeit usw.
verbüßt, ist ein feiges, entartetes Volk. Unter Arbeitern und Bauernjungen
dagegen, die zum erstenmale wegen Körperverletzung bestraf: werden, begegnen
einem vielfach ganz ehrliche Burschen, die man durchaus nicht mit den Messer¬
helden auf eine Stufe stellen darf. Vielfach hat diese Leute verletztes Rechts-
gefühl zur Rache getrieben. Das ist ja nicht der legale Weg, Genugthuung
zu erlangen, aber als ultima rMo wird ein gesundes Volk, namentlich wenn
der gerichtliche Weg vielfach durch ungeheure Gerichtskosten verrammelt ist,
immer wieder solche Wege beschreiben; das wird sich nie ganz aus der Welt
schaffen lassen. Infolgedessen sieht auch das Volk die Körperverletzung vielfach
nicht als etwas Ehrenrühriges an, ebenso wie in weiten Volkskreisen, die
das Leben noch mit ein paar gesunden Augen ansehen, die Prügelstrafe und
die Todesstrafe als eine unbedingte Notwendigkeit empfunden wird. Die
Entfremdung unsrer heutigen Juristerei von dem Rechtsgefühl des Volkes
offenbart sich in nichts mehr als in der angekünstelten Entrüstung über die
Prügelstrafe, in der Bewegung gegen die Todesstrafe, von der Fürst Bismarck
einmal mit Recht gesagt hat, daß sie nur in der Bequemlichkeit ihren Grund
habe, kein Todesurteil aussprechen zu müssen und damit diese hohe Verant¬
wortung von sich abwülzen zu können. Dem deutschen Doktrinarismus ist
es gelungen, die Prügelstrafe aus dem Neichsstrafgesetzbuche als richterliche


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[0264] Lin Grundübel unsrer Strafrechtspflege Lachens nicht enthalten; denn fünf Jahre Ehrverlust bedeuten für einen solchen Menschen, der gar keine Ehre zu verlieren hat, dasselbe, als wenn man einen Ochsen ins Horn kneipt. Fünf Jahre Gefängnis und ein Jahr Ehrverlust würden einen ganz andern Eindruck machen. Dagegen wird man mit Wehmut erfüllt beim Anblick eines gutmütigen, kreuzbraver Tölpels. Er hat vor einem Jahre zur Winterzeit, wo im Kohlenhafen viel zu thun war, sechsunddreißig Stunden hintereinander gearbeitet. Auf dem Heimweg betritt er mit einem Mitarbeiter eine Bierwirtschaft. Beim ersten Glase schläft er vor Übermüdung ein. Der Wirt, ein Mensch, der nicht in dem besten Rufe steht, schüttet dem eingeschlafnen Gast ein Glas kaltes Wasser in den Nacken. Erschrocken führt dieser auf, schlägt um sich und ergreift ein auf dem Tische liegendes Messer, mit dem er den Wirt zweimal leicht verletzt. Das Urteil lautet auf zwei Jahre und vierzehn Tage Gefängnis. Dieser arme Teufel, der ohne Ver¬ teidiger vor Gericht stand, der so auf den Mund gefallen war, daß er, obwohl ein Hüne von Gestalt, vor Thränen unfähig war, ein Wort zu reden, war froh, als die Gerichtsverhandlung zu Ende war. Er Hütte das Urteil unter¬ schrieben, auch wenn es aus drei und noch mehr Jahre gelautet Hütte. Als ob jede Körperverletzung eine Roheit sein müßte! Der Messerheld, der ge¬ wöhnlich im Gefolge des Zuhültertums in den Großstädten auftritt, ist gewiß ein hinterlistiger, meuchlerischer und gemeingefährlicher Verbrecher, der kein Mitleid verdient. Dieses Gesindel, das gewöhnlich eine ganze Reihe von Strafen wegen Roheit, Hausfriedensbruch, Widerstand gegen die Obrigkeit usw. verbüßt, ist ein feiges, entartetes Volk. Unter Arbeitern und Bauernjungen dagegen, die zum erstenmale wegen Körperverletzung bestraf: werden, begegnen einem vielfach ganz ehrliche Burschen, die man durchaus nicht mit den Messer¬ helden auf eine Stufe stellen darf. Vielfach hat diese Leute verletztes Rechts- gefühl zur Rache getrieben. Das ist ja nicht der legale Weg, Genugthuung zu erlangen, aber als ultima rMo wird ein gesundes Volk, namentlich wenn der gerichtliche Weg vielfach durch ungeheure Gerichtskosten verrammelt ist, immer wieder solche Wege beschreiben; das wird sich nie ganz aus der Welt schaffen lassen. Infolgedessen sieht auch das Volk die Körperverletzung vielfach nicht als etwas Ehrenrühriges an, ebenso wie in weiten Volkskreisen, die das Leben noch mit ein paar gesunden Augen ansehen, die Prügelstrafe und die Todesstrafe als eine unbedingte Notwendigkeit empfunden wird. Die Entfremdung unsrer heutigen Juristerei von dem Rechtsgefühl des Volkes offenbart sich in nichts mehr als in der angekünstelten Entrüstung über die Prügelstrafe, in der Bewegung gegen die Todesstrafe, von der Fürst Bismarck einmal mit Recht gesagt hat, daß sie nur in der Bequemlichkeit ihren Grund habe, kein Todesurteil aussprechen zu müssen und damit diese hohe Verant¬ wortung von sich abwülzen zu können. Dem deutschen Doktrinarismus ist es gelungen, die Prügelstrafe aus dem Neichsstrafgesetzbuche als richterliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/264>, abgerufen am 24.07.2024.