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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Lin Gnmdübel unsrer Strafrechtspflege

Strafliste der Bettler, welche Strenge auf der einen, welche Milde auf der
andern Seite! Mit beiden Klassen wird in unsrer heutigen Strafrechtspflege
kurzer Prozeß gemacht, sie werden in prompter Geschäftserledigung, auf die ja
Gotthelf Weiter so großen Wert legt, einen Tag oder ein paar Tage nach der
polizeilichen Ergreifung in summarischen Verfahren abgeurteilt. Die Dirnen,
durch langjährige Erfahrung gerichtskundig, ergreifen, wenn ihnen die Strafe
zu hoch scheint, oder wenn ihnen die Überweisung an die Landespolizei un¬
bequem ist, öfter das Rechtsmittel der Berufung an die Strafkammer, wo es
ihnen durch geschickte Verteidigung öfter gelingt, ihre Strafe zu mindern oder
die Überweisung an die Landespolizei rückgängig zu macheu. Die jungen
Handwerksburschen aber, des gerichtlichen Geschäftsganges unkundig, während
der summarischen Gerichtsverhandlung auch oft sehr wenig redegewandt, ein¬
geschüchtert und beschämt durch den niederschlagenden Eindruck der ersten Ver¬
handlung, unterschreiben vielfach sofort ihr Urteil, nur um aus der Verhand¬
lung hinauszukommen. Nun ist gewiß jeder praktische Gefängnisbeamte ein
Anhänger langer Strafen; denn alle kurzen Strafen hinterlassen von dem
Gefängnis keinen Eindruck, nur lange Strafen üben die ganze, niederdrückende
Wirkung des Gefängnisses aus. Trotzdem können die kurzen Strafen nicht
entbehrt werden, schon deshalb, weil sie den Ersatz sür nicht einzutreibende
Geldstrafen bilden müssen, noch mehr aber, weil gewisse Ordnungsvergehen
eben nur ganz geringe Strafe verdienen. Aber die Frage drängt sich doch
jedem auf: Sind so lange Haftstrafen nötig, um einen arbeitslos gewordnen
Familienvater, der sich eine neue Heimat suchen will, der gewiß nicht aus
Übermut bettelt, gleich zum erstenmale mit dreißig Tagen Haft zu bestrafen,
während eine leichtlebige, ehrlose Dirne, die in dem Zeitraum von neun Jahren
in einer Anstalt allein siebenunddreißig Strafen verbüßt hat, immer wieder
nur mit zwei bis drei Tagen, Wenns hoch kommt, einmal mit vierzehn Tagen
bestraft wird? Diese Dirnen bleiben völlig ungerührt bei solchen Urteilen;
sie gewinnen ihnen nur den Eindruck ab, daß sie in Bausch und Bogen aus¬
gesprochen werden, um die Anzeigen der Schutzleute aktenmäßig zu "erledigen."
Solche Urteile lassen kaum noch einen pädagogischen Hintergedanken ahnen.
Harte erste Haftstrafen aber erzeugen in unverdorbnen Handwerksburschen eine
wahre Wut gegen den Staat. Man kann davon Zeuge werden, wenn man
sich als Gefängnisbeamtcr von solchen sechzehn- bis neunzehnjährigen Bürschchen
erzählen läßt, wie sie zu ihrer ersten Strafe gekommen sind. Mancher Meister,
der in seinen reifern Jahren in Achtung und Ansehen steht, hat auch einmal
auf der Walze eine schwache Stunde gehabt und eine kleine Arreststrafe verbüßt.
Er erinnert sich ihrer später mit Lachen, wie sich mancher vertrocknete Staats-
hämorrhoidarius ohne große Reue daran erinnert, daß er als Primaner oder
sekundärer einmal das Kärzer geziert oder als Student mit der Festung
Bekanntschaft gemacht hat.


Lin Gnmdübel unsrer Strafrechtspflege

Strafliste der Bettler, welche Strenge auf der einen, welche Milde auf der
andern Seite! Mit beiden Klassen wird in unsrer heutigen Strafrechtspflege
kurzer Prozeß gemacht, sie werden in prompter Geschäftserledigung, auf die ja
Gotthelf Weiter so großen Wert legt, einen Tag oder ein paar Tage nach der
polizeilichen Ergreifung in summarischen Verfahren abgeurteilt. Die Dirnen,
durch langjährige Erfahrung gerichtskundig, ergreifen, wenn ihnen die Strafe
zu hoch scheint, oder wenn ihnen die Überweisung an die Landespolizei un¬
bequem ist, öfter das Rechtsmittel der Berufung an die Strafkammer, wo es
ihnen durch geschickte Verteidigung öfter gelingt, ihre Strafe zu mindern oder
die Überweisung an die Landespolizei rückgängig zu macheu. Die jungen
Handwerksburschen aber, des gerichtlichen Geschäftsganges unkundig, während
der summarischen Gerichtsverhandlung auch oft sehr wenig redegewandt, ein¬
geschüchtert und beschämt durch den niederschlagenden Eindruck der ersten Ver¬
handlung, unterschreiben vielfach sofort ihr Urteil, nur um aus der Verhand¬
lung hinauszukommen. Nun ist gewiß jeder praktische Gefängnisbeamte ein
Anhänger langer Strafen; denn alle kurzen Strafen hinterlassen von dem
Gefängnis keinen Eindruck, nur lange Strafen üben die ganze, niederdrückende
Wirkung des Gefängnisses aus. Trotzdem können die kurzen Strafen nicht
entbehrt werden, schon deshalb, weil sie den Ersatz sür nicht einzutreibende
Geldstrafen bilden müssen, noch mehr aber, weil gewisse Ordnungsvergehen
eben nur ganz geringe Strafe verdienen. Aber die Frage drängt sich doch
jedem auf: Sind so lange Haftstrafen nötig, um einen arbeitslos gewordnen
Familienvater, der sich eine neue Heimat suchen will, der gewiß nicht aus
Übermut bettelt, gleich zum erstenmale mit dreißig Tagen Haft zu bestrafen,
während eine leichtlebige, ehrlose Dirne, die in dem Zeitraum von neun Jahren
in einer Anstalt allein siebenunddreißig Strafen verbüßt hat, immer wieder
nur mit zwei bis drei Tagen, Wenns hoch kommt, einmal mit vierzehn Tagen
bestraft wird? Diese Dirnen bleiben völlig ungerührt bei solchen Urteilen;
sie gewinnen ihnen nur den Eindruck ab, daß sie in Bausch und Bogen aus¬
gesprochen werden, um die Anzeigen der Schutzleute aktenmäßig zu „erledigen."
Solche Urteile lassen kaum noch einen pädagogischen Hintergedanken ahnen.
Harte erste Haftstrafen aber erzeugen in unverdorbnen Handwerksburschen eine
wahre Wut gegen den Staat. Man kann davon Zeuge werden, wenn man
sich als Gefängnisbeamtcr von solchen sechzehn- bis neunzehnjährigen Bürschchen
erzählen läßt, wie sie zu ihrer ersten Strafe gekommen sind. Mancher Meister,
der in seinen reifern Jahren in Achtung und Ansehen steht, hat auch einmal
auf der Walze eine schwache Stunde gehabt und eine kleine Arreststrafe verbüßt.
Er erinnert sich ihrer später mit Lachen, wie sich mancher vertrocknete Staats-
hämorrhoidarius ohne große Reue daran erinnert, daß er als Primaner oder
sekundärer einmal das Kärzer geziert oder als Student mit der Festung
Bekanntschaft gemacht hat.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/262>, abgerufen am 29.12.2024.