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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die Psychologie der Rinderstube

suchung geben soll, scheint dem Verfasser den Blick für das Wesentliche ge¬
trübt zu haben, das ihm auf diese Weise vielfach gar nicht zum deutlichen
Bewußtsein gekommen ist. Wie konnte er z. B. Worte darüber machen, daß
Kinder die Profile von Menschen und Tieren von rechts nach links gerichtet
zu zeichnen pflegen? Das ist doch so natürlich, wie daß, wenn jemand mit
der rechten Hand mit Strichen schraffirt, diese Striche immer eine bestimmte
Richtung haben: sie weichen oben nach rechts, unten nach links aus dem Lot;
wer mit der linken Hand schraffirt, wie Lionardo da Vinci, dessen Striche
neigen sich in entgegengesetzter Richtung. Oder wie kann er wunderbar finden,
daß ein Kind manchmal bei einem Hause außer der Vorderwand nach rechts
und links die beiden Seiten angiebt und nicht mehr die Rückwand? Wo sollte
es denn die vierte Seite anbringen? S. 349 spricht er bei schematischen
Strichzeichnungen von Menschen und Tieren über die Gleichgiltigkeit in Bezug
auf die Zahl der Beine; ein Vogel hat drei, eine Katze zwei, ein unbestimmter
Vierfüßler zehn Striche uuter sich. Da die betreffenden Kinder, das eine fast
vier, das andre sechs Jahre alt sind, so können sie doch sehen und auch zählen.
Was kann man denn aus diesem Verfahren lernen? Daß Kinder Schrullen
haben wie große Leute? Oder daß sie manchmal albern sind und große Leute
foppen, wenn diese ihr Thun beachten? Hat der Verfasser noch nie gehört,
daß ganz kleine Kinder bei ihren ersten Sprechversuchen förmlich ausgelassen
werden, wenn sie merken, daß sie ihre Umgebung durch ihr Kauderwelsch be¬
lustigen? Aber der Verfasser sucht so tief wie möglich. Wenn in diesen Strich¬
zeichnungen die Hand durch ein Büschel von Strichen angegeben ist von ver-
schiedner Zahl, so zählt er: vier, fünf, zehn und schließt daraus: "Es scheint
die Idee zu bestehen, daß eine Vielheit sich verzweigender Finger dargestellt
werden soll," was ja wohl selbstverständlich ist, aber nun: "und die Vielheit
scheint hier drei oder mehrere zu bedeuten" (S. 329). Ist der Leser dadurch
klüger oder -- geworden? Bekanntlich Stricheln Kinder ein menschliches Ge¬
sicht zunächst in der Vorderansicht, erst nach einiger Zeit und nach einer Über¬
gangsform, in der ein aus dem runden Kopf seitwärts vorspringendes Dreieck
die Nase bedeuten soll, gehen sie zu einer Art Profilzeichuung über. "Wie ich
glaube, ist ein triftiger Grund für die Behauptung vorhanden, daß sie ganz
unabhängig von jeder Belehrung ihren eignen Weg zu einer neuen Darstellungs¬
weise finden," heißt es S. 333. Hier wäre die Angabe des triftigen Grundes
von einiger Wichtigkeit gewesen, denn andre Beobachter werden wohl geneigt
sein, anzunehmen, daß dem Beispiel hier eine viel größere Bedeutung zukommt
und sogar die direkte Belehrung (Kinder können ja doch sprechen) viel häufiger
ist, als der Verfasser denkt. Nachahmung dessen, was andre thun, ist die erste
Schule. So sehen die Kinder auch bei dieser Beschäftigung auf einander. Von
dem Einfluß des Vorbildes macht sich auch der Erwachsene, der Künstler,
wenn er nur der Natur zu folgen meint, niemals ganz los, die Ausdrucksformen,


Grenzboten III 18"? L9
Die Psychologie der Rinderstube

suchung geben soll, scheint dem Verfasser den Blick für das Wesentliche ge¬
trübt zu haben, das ihm auf diese Weise vielfach gar nicht zum deutlichen
Bewußtsein gekommen ist. Wie konnte er z. B. Worte darüber machen, daß
Kinder die Profile von Menschen und Tieren von rechts nach links gerichtet
zu zeichnen pflegen? Das ist doch so natürlich, wie daß, wenn jemand mit
der rechten Hand mit Strichen schraffirt, diese Striche immer eine bestimmte
Richtung haben: sie weichen oben nach rechts, unten nach links aus dem Lot;
wer mit der linken Hand schraffirt, wie Lionardo da Vinci, dessen Striche
neigen sich in entgegengesetzter Richtung. Oder wie kann er wunderbar finden,
daß ein Kind manchmal bei einem Hause außer der Vorderwand nach rechts
und links die beiden Seiten angiebt und nicht mehr die Rückwand? Wo sollte
es denn die vierte Seite anbringen? S. 349 spricht er bei schematischen
Strichzeichnungen von Menschen und Tieren über die Gleichgiltigkeit in Bezug
auf die Zahl der Beine; ein Vogel hat drei, eine Katze zwei, ein unbestimmter
Vierfüßler zehn Striche uuter sich. Da die betreffenden Kinder, das eine fast
vier, das andre sechs Jahre alt sind, so können sie doch sehen und auch zählen.
Was kann man denn aus diesem Verfahren lernen? Daß Kinder Schrullen
haben wie große Leute? Oder daß sie manchmal albern sind und große Leute
foppen, wenn diese ihr Thun beachten? Hat der Verfasser noch nie gehört,
daß ganz kleine Kinder bei ihren ersten Sprechversuchen förmlich ausgelassen
werden, wenn sie merken, daß sie ihre Umgebung durch ihr Kauderwelsch be¬
lustigen? Aber der Verfasser sucht so tief wie möglich. Wenn in diesen Strich¬
zeichnungen die Hand durch ein Büschel von Strichen angegeben ist von ver-
schiedner Zahl, so zählt er: vier, fünf, zehn und schließt daraus: „Es scheint
die Idee zu bestehen, daß eine Vielheit sich verzweigender Finger dargestellt
werden soll," was ja wohl selbstverständlich ist, aber nun: „und die Vielheit
scheint hier drei oder mehrere zu bedeuten" (S. 329). Ist der Leser dadurch
klüger oder — geworden? Bekanntlich Stricheln Kinder ein menschliches Ge¬
sicht zunächst in der Vorderansicht, erst nach einiger Zeit und nach einer Über¬
gangsform, in der ein aus dem runden Kopf seitwärts vorspringendes Dreieck
die Nase bedeuten soll, gehen sie zu einer Art Profilzeichuung über. „Wie ich
glaube, ist ein triftiger Grund für die Behauptung vorhanden, daß sie ganz
unabhängig von jeder Belehrung ihren eignen Weg zu einer neuen Darstellungs¬
weise finden," heißt es S. 333. Hier wäre die Angabe des triftigen Grundes
von einiger Wichtigkeit gewesen, denn andre Beobachter werden wohl geneigt
sein, anzunehmen, daß dem Beispiel hier eine viel größere Bedeutung zukommt
und sogar die direkte Belehrung (Kinder können ja doch sprechen) viel häufiger
ist, als der Verfasser denkt. Nachahmung dessen, was andre thun, ist die erste
Schule. So sehen die Kinder auch bei dieser Beschäftigung auf einander. Von
dem Einfluß des Vorbildes macht sich auch der Erwachsene, der Künstler,
wenn er nur der Natur zu folgen meint, niemals ganz los, die Ausdrucksformen,


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[0233] Die Psychologie der Rinderstube suchung geben soll, scheint dem Verfasser den Blick für das Wesentliche ge¬ trübt zu haben, das ihm auf diese Weise vielfach gar nicht zum deutlichen Bewußtsein gekommen ist. Wie konnte er z. B. Worte darüber machen, daß Kinder die Profile von Menschen und Tieren von rechts nach links gerichtet zu zeichnen pflegen? Das ist doch so natürlich, wie daß, wenn jemand mit der rechten Hand mit Strichen schraffirt, diese Striche immer eine bestimmte Richtung haben: sie weichen oben nach rechts, unten nach links aus dem Lot; wer mit der linken Hand schraffirt, wie Lionardo da Vinci, dessen Striche neigen sich in entgegengesetzter Richtung. Oder wie kann er wunderbar finden, daß ein Kind manchmal bei einem Hause außer der Vorderwand nach rechts und links die beiden Seiten angiebt und nicht mehr die Rückwand? Wo sollte es denn die vierte Seite anbringen? S. 349 spricht er bei schematischen Strichzeichnungen von Menschen und Tieren über die Gleichgiltigkeit in Bezug auf die Zahl der Beine; ein Vogel hat drei, eine Katze zwei, ein unbestimmter Vierfüßler zehn Striche uuter sich. Da die betreffenden Kinder, das eine fast vier, das andre sechs Jahre alt sind, so können sie doch sehen und auch zählen. Was kann man denn aus diesem Verfahren lernen? Daß Kinder Schrullen haben wie große Leute? Oder daß sie manchmal albern sind und große Leute foppen, wenn diese ihr Thun beachten? Hat der Verfasser noch nie gehört, daß ganz kleine Kinder bei ihren ersten Sprechversuchen förmlich ausgelassen werden, wenn sie merken, daß sie ihre Umgebung durch ihr Kauderwelsch be¬ lustigen? Aber der Verfasser sucht so tief wie möglich. Wenn in diesen Strich¬ zeichnungen die Hand durch ein Büschel von Strichen angegeben ist von ver- schiedner Zahl, so zählt er: vier, fünf, zehn und schließt daraus: „Es scheint die Idee zu bestehen, daß eine Vielheit sich verzweigender Finger dargestellt werden soll," was ja wohl selbstverständlich ist, aber nun: „und die Vielheit scheint hier drei oder mehrere zu bedeuten" (S. 329). Ist der Leser dadurch klüger oder — geworden? Bekanntlich Stricheln Kinder ein menschliches Ge¬ sicht zunächst in der Vorderansicht, erst nach einiger Zeit und nach einer Über¬ gangsform, in der ein aus dem runden Kopf seitwärts vorspringendes Dreieck die Nase bedeuten soll, gehen sie zu einer Art Profilzeichuung über. „Wie ich glaube, ist ein triftiger Grund für die Behauptung vorhanden, daß sie ganz unabhängig von jeder Belehrung ihren eignen Weg zu einer neuen Darstellungs¬ weise finden," heißt es S. 333. Hier wäre die Angabe des triftigen Grundes von einiger Wichtigkeit gewesen, denn andre Beobachter werden wohl geneigt sein, anzunehmen, daß dem Beispiel hier eine viel größere Bedeutung zukommt und sogar die direkte Belehrung (Kinder können ja doch sprechen) viel häufiger ist, als der Verfasser denkt. Nachahmung dessen, was andre thun, ist die erste Schule. So sehen die Kinder auch bei dieser Beschäftigung auf einander. Von dem Einfluß des Vorbildes macht sich auch der Erwachsene, der Künstler, wenn er nur der Natur zu folgen meint, niemals ganz los, die Ausdrucksformen, Grenzboten III 18»? L9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/233>, abgerufen am 29.12.2024.