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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die Psychologie der Ainderstube

als die äußerliche Nachahmung einer exakten Untersuchung. Die Engländer
haben im allgemeinen eine gute Gabe, in populärer Darstellung Dinge klar
zu machen, die keineswegs von ihnen zuerst ausgesprochen worden sind. So
kommt es, daß man bei uns vielfach aus Herbert Spencer lernt, was man
bei Schiller oder Wilhelm von Humboldt genau ebenso hätte finden können.
Dies sollte doch vorsichtig machen und vor einer Überschätzung bewahren, wie
sie der Übersetzer in Bezug auf das vorliegende Buch kundgiebt, das mit
Nichten diese Auszeichnung verdient.

Wir wollen das an den beiden letzten Abschnitten zeigen, die vom
Zeichnen der kleinen Kinder handeln, und die ihres Gegenstandes wegen noch
das meiste Interesse beanspruchen. Der Verfasser giebt hier eine große Menge
von Einzelfällen, die er höchst ausführlich erläutert, um daraus Schlußfolge¬
rungen zu gewinnen, die, soweit sie richtig erscheinen, keinen, der über diese
Dinge nachgedacht hat, überraschen werden, weil sie für ihn selbstverständlich
sind. Das betrifft das ganze Kapitel: Erklärung der Thatsachen, von S. 358
an. Es ist darum ganz unangebracht, daß der Verfasser immer von "seiner"
Beobachtung oder Erklärung spricht. Ein großer Teil seiner Auffassungen ist
außerdem sichtlich verkehrt. Die Art, wie Kinder zeichnen, und die primitive
Kunst der Naturvölker kommen, wie man längst weiß, in den Hauptsachen
überein. Beide zeigen uns, daß das Aufpassen auf die Natur verhältnismäßig
spät eintritt, daß die Kunst zunächst eine Art Sprache, ein Beschreiben, ein
Ausdrücken durch Zeichen, ein symbolisiren ist, daß der Befriedigung des
Künstlers von seiner Leistung ein Entgegenkommen seines genügsamen Publikums
entspricht, und daß sich auf diese Weise eine "Konvention" bildet, deren Grund¬
züge überall dieselben sind. Die Zeichnungen der Wilden sind, wenn wir beide
Gebiete im ganzen nehmen, vollkommner als die der Kinder, weil bei ihnen
die Tradition fester und reicher ist; der Wilde treibt diese Kunst sein Leben
lang, das Kind verharrt nur einige Jahre auf dieser Stufe. Woher kommt
es übrigens, daß unter allen Völkern (von den Kinderzeichnungen sehe ich
dabei ab) Tierbilder eher gelingen, d. h. früher verhältnismäßig naturwahr
sind, als Menschenbilder? Weil der Unterschied der Typen hier die Natur¬
beobachtung früher wecken mußte. Wer nun, wie der Verfasser, ein solches
Gebiet förderlich bebauen will, der darf nicht vergessen, daß alles Detail
sowohl für die Intelligenz des Menschen als für die sinnliche Wahrnehmung
nur bis zu einer gewissen Grenze Wert hat. Darum stellt ja die Kunst immer
nur einen Typus dar, in dem zahlreiche Einzelheiten eines Naturgegenstandes
gar nicht mehr zum Ausdruck kommen können; darum sammelt eine Wissen¬
schaft nicht alle Fälle oder Thatsachen, sondern nur soviel, wie sie für ihre
Schlußfolgerungen braucht. Die Menge der Thatsachen, die in diesen Kinder¬
zeichnungen denk Leser vorgeführt wird, und die ihm den Eindruck einer
experimentell geführten und darum in ihren Ergebnissen unanfechtbaren Unter-


Die Psychologie der Ainderstube

als die äußerliche Nachahmung einer exakten Untersuchung. Die Engländer
haben im allgemeinen eine gute Gabe, in populärer Darstellung Dinge klar
zu machen, die keineswegs von ihnen zuerst ausgesprochen worden sind. So
kommt es, daß man bei uns vielfach aus Herbert Spencer lernt, was man
bei Schiller oder Wilhelm von Humboldt genau ebenso hätte finden können.
Dies sollte doch vorsichtig machen und vor einer Überschätzung bewahren, wie
sie der Übersetzer in Bezug auf das vorliegende Buch kundgiebt, das mit
Nichten diese Auszeichnung verdient.

Wir wollen das an den beiden letzten Abschnitten zeigen, die vom
Zeichnen der kleinen Kinder handeln, und die ihres Gegenstandes wegen noch
das meiste Interesse beanspruchen. Der Verfasser giebt hier eine große Menge
von Einzelfällen, die er höchst ausführlich erläutert, um daraus Schlußfolge¬
rungen zu gewinnen, die, soweit sie richtig erscheinen, keinen, der über diese
Dinge nachgedacht hat, überraschen werden, weil sie für ihn selbstverständlich
sind. Das betrifft das ganze Kapitel: Erklärung der Thatsachen, von S. 358
an. Es ist darum ganz unangebracht, daß der Verfasser immer von „seiner"
Beobachtung oder Erklärung spricht. Ein großer Teil seiner Auffassungen ist
außerdem sichtlich verkehrt. Die Art, wie Kinder zeichnen, und die primitive
Kunst der Naturvölker kommen, wie man längst weiß, in den Hauptsachen
überein. Beide zeigen uns, daß das Aufpassen auf die Natur verhältnismäßig
spät eintritt, daß die Kunst zunächst eine Art Sprache, ein Beschreiben, ein
Ausdrücken durch Zeichen, ein symbolisiren ist, daß der Befriedigung des
Künstlers von seiner Leistung ein Entgegenkommen seines genügsamen Publikums
entspricht, und daß sich auf diese Weise eine „Konvention" bildet, deren Grund¬
züge überall dieselben sind. Die Zeichnungen der Wilden sind, wenn wir beide
Gebiete im ganzen nehmen, vollkommner als die der Kinder, weil bei ihnen
die Tradition fester und reicher ist; der Wilde treibt diese Kunst sein Leben
lang, das Kind verharrt nur einige Jahre auf dieser Stufe. Woher kommt
es übrigens, daß unter allen Völkern (von den Kinderzeichnungen sehe ich
dabei ab) Tierbilder eher gelingen, d. h. früher verhältnismäßig naturwahr
sind, als Menschenbilder? Weil der Unterschied der Typen hier die Natur¬
beobachtung früher wecken mußte. Wer nun, wie der Verfasser, ein solches
Gebiet förderlich bebauen will, der darf nicht vergessen, daß alles Detail
sowohl für die Intelligenz des Menschen als für die sinnliche Wahrnehmung
nur bis zu einer gewissen Grenze Wert hat. Darum stellt ja die Kunst immer
nur einen Typus dar, in dem zahlreiche Einzelheiten eines Naturgegenstandes
gar nicht mehr zum Ausdruck kommen können; darum sammelt eine Wissen¬
schaft nicht alle Fälle oder Thatsachen, sondern nur soviel, wie sie für ihre
Schlußfolgerungen braucht. Die Menge der Thatsachen, die in diesen Kinder¬
zeichnungen denk Leser vorgeführt wird, und die ihm den Eindruck einer
experimentell geführten und darum in ihren Ergebnissen unanfechtbaren Unter-


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[0232] Die Psychologie der Ainderstube als die äußerliche Nachahmung einer exakten Untersuchung. Die Engländer haben im allgemeinen eine gute Gabe, in populärer Darstellung Dinge klar zu machen, die keineswegs von ihnen zuerst ausgesprochen worden sind. So kommt es, daß man bei uns vielfach aus Herbert Spencer lernt, was man bei Schiller oder Wilhelm von Humboldt genau ebenso hätte finden können. Dies sollte doch vorsichtig machen und vor einer Überschätzung bewahren, wie sie der Übersetzer in Bezug auf das vorliegende Buch kundgiebt, das mit Nichten diese Auszeichnung verdient. Wir wollen das an den beiden letzten Abschnitten zeigen, die vom Zeichnen der kleinen Kinder handeln, und die ihres Gegenstandes wegen noch das meiste Interesse beanspruchen. Der Verfasser giebt hier eine große Menge von Einzelfällen, die er höchst ausführlich erläutert, um daraus Schlußfolge¬ rungen zu gewinnen, die, soweit sie richtig erscheinen, keinen, der über diese Dinge nachgedacht hat, überraschen werden, weil sie für ihn selbstverständlich sind. Das betrifft das ganze Kapitel: Erklärung der Thatsachen, von S. 358 an. Es ist darum ganz unangebracht, daß der Verfasser immer von „seiner" Beobachtung oder Erklärung spricht. Ein großer Teil seiner Auffassungen ist außerdem sichtlich verkehrt. Die Art, wie Kinder zeichnen, und die primitive Kunst der Naturvölker kommen, wie man längst weiß, in den Hauptsachen überein. Beide zeigen uns, daß das Aufpassen auf die Natur verhältnismäßig spät eintritt, daß die Kunst zunächst eine Art Sprache, ein Beschreiben, ein Ausdrücken durch Zeichen, ein symbolisiren ist, daß der Befriedigung des Künstlers von seiner Leistung ein Entgegenkommen seines genügsamen Publikums entspricht, und daß sich auf diese Weise eine „Konvention" bildet, deren Grund¬ züge überall dieselben sind. Die Zeichnungen der Wilden sind, wenn wir beide Gebiete im ganzen nehmen, vollkommner als die der Kinder, weil bei ihnen die Tradition fester und reicher ist; der Wilde treibt diese Kunst sein Leben lang, das Kind verharrt nur einige Jahre auf dieser Stufe. Woher kommt es übrigens, daß unter allen Völkern (von den Kinderzeichnungen sehe ich dabei ab) Tierbilder eher gelingen, d. h. früher verhältnismäßig naturwahr sind, als Menschenbilder? Weil der Unterschied der Typen hier die Natur¬ beobachtung früher wecken mußte. Wer nun, wie der Verfasser, ein solches Gebiet förderlich bebauen will, der darf nicht vergessen, daß alles Detail sowohl für die Intelligenz des Menschen als für die sinnliche Wahrnehmung nur bis zu einer gewissen Grenze Wert hat. Darum stellt ja die Kunst immer nur einen Typus dar, in dem zahlreiche Einzelheiten eines Naturgegenstandes gar nicht mehr zum Ausdruck kommen können; darum sammelt eine Wissen¬ schaft nicht alle Fälle oder Thatsachen, sondern nur soviel, wie sie für ihre Schlußfolgerungen braucht. Die Menge der Thatsachen, die in diesen Kinder¬ zeichnungen denk Leser vorgeführt wird, und die ihm den Eindruck einer experimentell geführten und darum in ihren Ergebnissen unanfechtbaren Unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/232>, abgerufen am 24.07.2024.