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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die Psychologie der Kinderstube

sondern eine theoretische und zugleich nützliche Beschäftigung mit der Fu߬
bekleidung aller Völker und Zeiten, schwerlich aber bei weitergehender Spe¬
zialisierung eine Wissenschaft, die sich nur noch etwa mit den Schuhschnallen
allein beschäftige und dennoch nutzbringend genannt werden könne. Sollten
sich, wie ich beinahe annehmen muß, von einer derartigen Wissenschaft meine
Leser keine Vorstellung mehr machen können, so würde ihre Geduld vollends
versagen gegenüber der Zerlegbarkeit der Kinderpshchologie in zahlreiche Gruppen,
von denen jede einzelne wieder eine ganze Litteratur und viele, wie man glauben
muß, bedeutende Spezialforscher und Kenner hat. Ein Überblick über das
Ganze in allgemein verständlicher Form kann darum erwünscht sein, namentlich
wenn er aus einem klassischen Lande der Kinderforschung kommt und von
einem Manne gegeben wird, der, wie uns der Übersetzer sagt, eine Autorität
in dem Fache ist. Zunächst liegen die Untersuchungen über die Kindheit
von dem englischen Professor James Sullh, übersetzt von or. I. Stimpff,
Lehrer am Schullehrerseminar in Bamberg (Leipzig, Wunderlich) vor (ein
Handbuch der Psychologie sür Lehrer, von demselben Verfasser, wird, ebenfalls
in Übersetzung, folgen). Die ersten acht Abschnitte des Buches behandeln die
Altersstufe der Phantasie, das Aufdämmern der Vernunft, das Denken, das
erste Sprechen, die Furcht, die Elemente der kindlichen Moral und das Ver¬
halten gegenüber dem fremden Willen bei der ersten Erziehung; die letzten
zwei beschäftigen sich mit den ersten Versuchen der Kinder im Zeichnen, ihnen
sind viele Facsimiles von Kinderzeichnungen beigegeben. Dieser Teil bietet
jedenfalls ein größeres Interesse als der erste, über den nicht viel zu sagen
ist. Bei beiden aber liegt das Interessante viel mehr, als in den Ergebnissen,
in der eigentümlichen Form der Darstellung.

Wenn die hier über die Kinder mitgeteilten Dinge einfach als Erzählungen
von bescheidnen Vorgängen aus dem Kinderleben zusammengestellt wären, so
würde wahrscheinlich niemand begreifen, warum so etwas herausgegeben würde.
Es giebt nicht nur sehr viel hübschere Kindergeschichten, gemütvollere, spa߬
haftere, merkwürdigere, fondern jeder einzelne von uns hat auch ohne Frage
solche erlebt, wie sie sich hier nicht finden, und andrerseits könnte man bei
dem besten Willen auch nicht eine ans dem Buche heraussuchen, bei der der
Leser ausrufen würde: Wie nett! was er doch gewiß manchmal gethan hat,
wenn er sich dergleichen mündlich erzählen ließ oder selbst erlebte. Ihr Wert
besteht also darin, daß sie wissenschaftlich zuverlässiges Material sind, d. h.
wahr und mit allen Nebenumstünden urkundlich verbürgt. So und so viel
Jahre und Monate war das Kind, es hatte eine Kindsmagd oder zwei, es
wohnte auf einem Landsitz oder in der Stadt, war für sein Alter groß oder
klein, hatte das oder das Temperament usw. Durch so gründlichen Ernst
wird jeder Vorwitz, der da etwas komisches erwarten möchte, an der Schwelle
abgeschoben: das ist Wissenschaft, kein Vergnügen. Höchstens hat der Eng-


Die Psychologie der Kinderstube

sondern eine theoretische und zugleich nützliche Beschäftigung mit der Fu߬
bekleidung aller Völker und Zeiten, schwerlich aber bei weitergehender Spe¬
zialisierung eine Wissenschaft, die sich nur noch etwa mit den Schuhschnallen
allein beschäftige und dennoch nutzbringend genannt werden könne. Sollten
sich, wie ich beinahe annehmen muß, von einer derartigen Wissenschaft meine
Leser keine Vorstellung mehr machen können, so würde ihre Geduld vollends
versagen gegenüber der Zerlegbarkeit der Kinderpshchologie in zahlreiche Gruppen,
von denen jede einzelne wieder eine ganze Litteratur und viele, wie man glauben
muß, bedeutende Spezialforscher und Kenner hat. Ein Überblick über das
Ganze in allgemein verständlicher Form kann darum erwünscht sein, namentlich
wenn er aus einem klassischen Lande der Kinderforschung kommt und von
einem Manne gegeben wird, der, wie uns der Übersetzer sagt, eine Autorität
in dem Fache ist. Zunächst liegen die Untersuchungen über die Kindheit
von dem englischen Professor James Sullh, übersetzt von or. I. Stimpff,
Lehrer am Schullehrerseminar in Bamberg (Leipzig, Wunderlich) vor (ein
Handbuch der Psychologie sür Lehrer, von demselben Verfasser, wird, ebenfalls
in Übersetzung, folgen). Die ersten acht Abschnitte des Buches behandeln die
Altersstufe der Phantasie, das Aufdämmern der Vernunft, das Denken, das
erste Sprechen, die Furcht, die Elemente der kindlichen Moral und das Ver¬
halten gegenüber dem fremden Willen bei der ersten Erziehung; die letzten
zwei beschäftigen sich mit den ersten Versuchen der Kinder im Zeichnen, ihnen
sind viele Facsimiles von Kinderzeichnungen beigegeben. Dieser Teil bietet
jedenfalls ein größeres Interesse als der erste, über den nicht viel zu sagen
ist. Bei beiden aber liegt das Interessante viel mehr, als in den Ergebnissen,
in der eigentümlichen Form der Darstellung.

Wenn die hier über die Kinder mitgeteilten Dinge einfach als Erzählungen
von bescheidnen Vorgängen aus dem Kinderleben zusammengestellt wären, so
würde wahrscheinlich niemand begreifen, warum so etwas herausgegeben würde.
Es giebt nicht nur sehr viel hübschere Kindergeschichten, gemütvollere, spa߬
haftere, merkwürdigere, fondern jeder einzelne von uns hat auch ohne Frage
solche erlebt, wie sie sich hier nicht finden, und andrerseits könnte man bei
dem besten Willen auch nicht eine ans dem Buche heraussuchen, bei der der
Leser ausrufen würde: Wie nett! was er doch gewiß manchmal gethan hat,
wenn er sich dergleichen mündlich erzählen ließ oder selbst erlebte. Ihr Wert
besteht also darin, daß sie wissenschaftlich zuverlässiges Material sind, d. h.
wahr und mit allen Nebenumstünden urkundlich verbürgt. So und so viel
Jahre und Monate war das Kind, es hatte eine Kindsmagd oder zwei, es
wohnte auf einem Landsitz oder in der Stadt, war für sein Alter groß oder
klein, hatte das oder das Temperament usw. Durch so gründlichen Ernst
wird jeder Vorwitz, der da etwas komisches erwarten möchte, an der Schwelle
abgeschoben: das ist Wissenschaft, kein Vergnügen. Höchstens hat der Eng-


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[0230] Die Psychologie der Kinderstube sondern eine theoretische und zugleich nützliche Beschäftigung mit der Fu߬ bekleidung aller Völker und Zeiten, schwerlich aber bei weitergehender Spe¬ zialisierung eine Wissenschaft, die sich nur noch etwa mit den Schuhschnallen allein beschäftige und dennoch nutzbringend genannt werden könne. Sollten sich, wie ich beinahe annehmen muß, von einer derartigen Wissenschaft meine Leser keine Vorstellung mehr machen können, so würde ihre Geduld vollends versagen gegenüber der Zerlegbarkeit der Kinderpshchologie in zahlreiche Gruppen, von denen jede einzelne wieder eine ganze Litteratur und viele, wie man glauben muß, bedeutende Spezialforscher und Kenner hat. Ein Überblick über das Ganze in allgemein verständlicher Form kann darum erwünscht sein, namentlich wenn er aus einem klassischen Lande der Kinderforschung kommt und von einem Manne gegeben wird, der, wie uns der Übersetzer sagt, eine Autorität in dem Fache ist. Zunächst liegen die Untersuchungen über die Kindheit von dem englischen Professor James Sullh, übersetzt von or. I. Stimpff, Lehrer am Schullehrerseminar in Bamberg (Leipzig, Wunderlich) vor (ein Handbuch der Psychologie sür Lehrer, von demselben Verfasser, wird, ebenfalls in Übersetzung, folgen). Die ersten acht Abschnitte des Buches behandeln die Altersstufe der Phantasie, das Aufdämmern der Vernunft, das Denken, das erste Sprechen, die Furcht, die Elemente der kindlichen Moral und das Ver¬ halten gegenüber dem fremden Willen bei der ersten Erziehung; die letzten zwei beschäftigen sich mit den ersten Versuchen der Kinder im Zeichnen, ihnen sind viele Facsimiles von Kinderzeichnungen beigegeben. Dieser Teil bietet jedenfalls ein größeres Interesse als der erste, über den nicht viel zu sagen ist. Bei beiden aber liegt das Interessante viel mehr, als in den Ergebnissen, in der eigentümlichen Form der Darstellung. Wenn die hier über die Kinder mitgeteilten Dinge einfach als Erzählungen von bescheidnen Vorgängen aus dem Kinderleben zusammengestellt wären, so würde wahrscheinlich niemand begreifen, warum so etwas herausgegeben würde. Es giebt nicht nur sehr viel hübschere Kindergeschichten, gemütvollere, spa߬ haftere, merkwürdigere, fondern jeder einzelne von uns hat auch ohne Frage solche erlebt, wie sie sich hier nicht finden, und andrerseits könnte man bei dem besten Willen auch nicht eine ans dem Buche heraussuchen, bei der der Leser ausrufen würde: Wie nett! was er doch gewiß manchmal gethan hat, wenn er sich dergleichen mündlich erzählen ließ oder selbst erlebte. Ihr Wert besteht also darin, daß sie wissenschaftlich zuverlässiges Material sind, d. h. wahr und mit allen Nebenumstünden urkundlich verbürgt. So und so viel Jahre und Monate war das Kind, es hatte eine Kindsmagd oder zwei, es wohnte auf einem Landsitz oder in der Stadt, war für sein Alter groß oder klein, hatte das oder das Temperament usw. Durch so gründlichen Ernst wird jeder Vorwitz, der da etwas komisches erwarten möchte, an der Schwelle abgeschoben: das ist Wissenschaft, kein Vergnügen. Höchstens hat der Eng-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/230>, abgerufen am 01.07.2024.