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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die Psychologie der Rinderstube

sicherlich Recht. Wenn nun die Mutter, wie Mütter zu thun pflegen, das
Ereignis weiter getragen hätte, und ihr andre Mütter mit ähnlichen Lebens¬
erfahrungen gefolgt wären, und alles das einem für dergleichen empfänglichen
Hausfreunde zugekommen wäre, so wäre das der natürliche Weg geworden
zum Erscheinen wenn nicht eines Buches, so doch einer gehaltreichen Anfsatz-
studie über die geistige Entwicklung des Kindes in seinen ersten Lebensjahren
Wir haben ja aber wirklich schon ganze Bücher über diese neue Wissenschaft,
die man in England vlülcl Zwclv, in Italien xsioolog'in aan lmmdiiic" nennt,
sogar in dem praktischen Amerika beschäftigt man sich damit: man hat dort
an einer Prvvinzialuniversität (Worcester in Massachusets) ein ganzes Museum
sür Zeichenversuche kleiner Kinder angelegt, die sogenannte Woreestersammlung,
die die Grundlage bilden soll für einen besondern Zweig dieser Wissenschaft,
die die Erforschung des Kunsttriebes der kleinen Kinder zu ihrer Ausgabe
gemacht hat. Einen Ertrag verspricht man sich hiervon nach zwei Seiten.
Einmal soll der Vergleich dieser Anfänge mit den primitiven Zeichnungen der
Naturvölker Aufklärung gewähren über die ersten Stufen der Kunst überhaupt,
und jeder deutsche Professor der Archäologie pflegt ja wohl schon lange in
seinem Unterrichte dergleichen herbeizuziehen. Sodann sucht die Pädagogik
diesen Stoff nutzbar zu machen. Sie baut sich bekanntlich seit längerer Zeit
auf der Psychologie auf, geht aber nun einen Schritt weiter und läßt die
Psyche des Erwachsenen mir im allgemeinen und in Ermanglung eines Bessern
als Unterlage ihrer Methode gelten und findet dann dieses Bessere in der
Seele des Kindes, und je schwerer diese Seele zu verstehen ist, weil sie sich
nur verworren zu äußern pflegt, desto großartiger wird natürlich die Aufgabe
der Wissenschaft. Dichter und Märchenerzähler, Mütter und Kinderfreunde
haben von jeher ihre liebevolle Beobachtung der zarten Pflanze zugewandt.
Das genügt schon lange nicht mehr. Es muß gehörig in Fächer und Unter¬
abteilungen zerlegt und mit einer wissenschaftlichen Terminologie übersponnen
werden, die auch etwas zu denken giebt, damit man es nicht für selbstver¬
ständlich halte, wie Essen und Trinken, sondern einsehe, daß das bekannte
Eins, zwei, drei dazu nötig sei. Spricht doch der Volkspädagoge schon lange
von der auditiven und visuellen Apperzeption seiner Abcschützen, wo der vor¬
nehmste Gelehrte noch immer mit dem hergebrachten Hören und Sehen aus¬
zureichen meint.

Ich habe einmal einen Sarkastiker ausführen hören, man könne auf alles
und jedes die wissenschaftliche Methode anwenden, und jeder kleinste Ausschnitt
ergebe nötigenfalls wieder eine eigne, sich selbst genügende und die Menschen
hinlänglich beschäftigende Wissenschaft. Ja, wenn die Menschen darnach sind,
wandte ich zunächst schüchtern ein, meinte aber nach einigem Besinnen dann
doch entschiedner, daß es zwar wohl z. B. eine Wissenschaft der Schuhe geben
könne, nicht praktisch (denn Schuster hat man ja bekanntlich längst gehabt),


Die Psychologie der Rinderstube

sicherlich Recht. Wenn nun die Mutter, wie Mütter zu thun pflegen, das
Ereignis weiter getragen hätte, und ihr andre Mütter mit ähnlichen Lebens¬
erfahrungen gefolgt wären, und alles das einem für dergleichen empfänglichen
Hausfreunde zugekommen wäre, so wäre das der natürliche Weg geworden
zum Erscheinen wenn nicht eines Buches, so doch einer gehaltreichen Anfsatz-
studie über die geistige Entwicklung des Kindes in seinen ersten Lebensjahren
Wir haben ja aber wirklich schon ganze Bücher über diese neue Wissenschaft,
die man in England vlülcl Zwclv, in Italien xsioolog'in aan lmmdiiic» nennt,
sogar in dem praktischen Amerika beschäftigt man sich damit: man hat dort
an einer Prvvinzialuniversität (Worcester in Massachusets) ein ganzes Museum
sür Zeichenversuche kleiner Kinder angelegt, die sogenannte Woreestersammlung,
die die Grundlage bilden soll für einen besondern Zweig dieser Wissenschaft,
die die Erforschung des Kunsttriebes der kleinen Kinder zu ihrer Ausgabe
gemacht hat. Einen Ertrag verspricht man sich hiervon nach zwei Seiten.
Einmal soll der Vergleich dieser Anfänge mit den primitiven Zeichnungen der
Naturvölker Aufklärung gewähren über die ersten Stufen der Kunst überhaupt,
und jeder deutsche Professor der Archäologie pflegt ja wohl schon lange in
seinem Unterrichte dergleichen herbeizuziehen. Sodann sucht die Pädagogik
diesen Stoff nutzbar zu machen. Sie baut sich bekanntlich seit längerer Zeit
auf der Psychologie auf, geht aber nun einen Schritt weiter und läßt die
Psyche des Erwachsenen mir im allgemeinen und in Ermanglung eines Bessern
als Unterlage ihrer Methode gelten und findet dann dieses Bessere in der
Seele des Kindes, und je schwerer diese Seele zu verstehen ist, weil sie sich
nur verworren zu äußern pflegt, desto großartiger wird natürlich die Aufgabe
der Wissenschaft. Dichter und Märchenerzähler, Mütter und Kinderfreunde
haben von jeher ihre liebevolle Beobachtung der zarten Pflanze zugewandt.
Das genügt schon lange nicht mehr. Es muß gehörig in Fächer und Unter¬
abteilungen zerlegt und mit einer wissenschaftlichen Terminologie übersponnen
werden, die auch etwas zu denken giebt, damit man es nicht für selbstver¬
ständlich halte, wie Essen und Trinken, sondern einsehe, daß das bekannte
Eins, zwei, drei dazu nötig sei. Spricht doch der Volkspädagoge schon lange
von der auditiven und visuellen Apperzeption seiner Abcschützen, wo der vor¬
nehmste Gelehrte noch immer mit dem hergebrachten Hören und Sehen aus¬
zureichen meint.

Ich habe einmal einen Sarkastiker ausführen hören, man könne auf alles
und jedes die wissenschaftliche Methode anwenden, und jeder kleinste Ausschnitt
ergebe nötigenfalls wieder eine eigne, sich selbst genügende und die Menschen
hinlänglich beschäftigende Wissenschaft. Ja, wenn die Menschen darnach sind,
wandte ich zunächst schüchtern ein, meinte aber nach einigem Besinnen dann
doch entschiedner, daß es zwar wohl z. B. eine Wissenschaft der Schuhe geben
könne, nicht praktisch (denn Schuster hat man ja bekanntlich längst gehabt),


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[0229] Die Psychologie der Rinderstube sicherlich Recht. Wenn nun die Mutter, wie Mütter zu thun pflegen, das Ereignis weiter getragen hätte, und ihr andre Mütter mit ähnlichen Lebens¬ erfahrungen gefolgt wären, und alles das einem für dergleichen empfänglichen Hausfreunde zugekommen wäre, so wäre das der natürliche Weg geworden zum Erscheinen wenn nicht eines Buches, so doch einer gehaltreichen Anfsatz- studie über die geistige Entwicklung des Kindes in seinen ersten Lebensjahren Wir haben ja aber wirklich schon ganze Bücher über diese neue Wissenschaft, die man in England vlülcl Zwclv, in Italien xsioolog'in aan lmmdiiic» nennt, sogar in dem praktischen Amerika beschäftigt man sich damit: man hat dort an einer Prvvinzialuniversität (Worcester in Massachusets) ein ganzes Museum sür Zeichenversuche kleiner Kinder angelegt, die sogenannte Woreestersammlung, die die Grundlage bilden soll für einen besondern Zweig dieser Wissenschaft, die die Erforschung des Kunsttriebes der kleinen Kinder zu ihrer Ausgabe gemacht hat. Einen Ertrag verspricht man sich hiervon nach zwei Seiten. Einmal soll der Vergleich dieser Anfänge mit den primitiven Zeichnungen der Naturvölker Aufklärung gewähren über die ersten Stufen der Kunst überhaupt, und jeder deutsche Professor der Archäologie pflegt ja wohl schon lange in seinem Unterrichte dergleichen herbeizuziehen. Sodann sucht die Pädagogik diesen Stoff nutzbar zu machen. Sie baut sich bekanntlich seit längerer Zeit auf der Psychologie auf, geht aber nun einen Schritt weiter und läßt die Psyche des Erwachsenen mir im allgemeinen und in Ermanglung eines Bessern als Unterlage ihrer Methode gelten und findet dann dieses Bessere in der Seele des Kindes, und je schwerer diese Seele zu verstehen ist, weil sie sich nur verworren zu äußern pflegt, desto großartiger wird natürlich die Aufgabe der Wissenschaft. Dichter und Märchenerzähler, Mütter und Kinderfreunde haben von jeher ihre liebevolle Beobachtung der zarten Pflanze zugewandt. Das genügt schon lange nicht mehr. Es muß gehörig in Fächer und Unter¬ abteilungen zerlegt und mit einer wissenschaftlichen Terminologie übersponnen werden, die auch etwas zu denken giebt, damit man es nicht für selbstver¬ ständlich halte, wie Essen und Trinken, sondern einsehe, daß das bekannte Eins, zwei, drei dazu nötig sei. Spricht doch der Volkspädagoge schon lange von der auditiven und visuellen Apperzeption seiner Abcschützen, wo der vor¬ nehmste Gelehrte noch immer mit dem hergebrachten Hören und Sehen aus¬ zureichen meint. Ich habe einmal einen Sarkastiker ausführen hören, man könne auf alles und jedes die wissenschaftliche Methode anwenden, und jeder kleinste Ausschnitt ergebe nötigenfalls wieder eine eigne, sich selbst genügende und die Menschen hinlänglich beschäftigende Wissenschaft. Ja, wenn die Menschen darnach sind, wandte ich zunächst schüchtern ein, meinte aber nach einigem Besinnen dann doch entschiedner, daß es zwar wohl z. B. eine Wissenschaft der Schuhe geben könne, nicht praktisch (denn Schuster hat man ja bekanntlich längst gehabt),

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/229>, abgerufen am 28.12.2024.