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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

Schutzgöttin Athene mit dem Dienste des bürgerlichen Gemeinwesens zusammen¬
fiel. Im Orient hat die Kirche Mohammeds die Völker und die Staaten
verschlungen. Bei den Polen sind heute Katholizismus und Volkstum ebenso
eins, wie einst bei den Schotten und bei den Holländern Kalvinismus, Volk
und Staat eins waren. Im neuen deutschen Reiche hat der Katholizismus
gerade durch den Umstand, daß sich seine Anhänger plötzlich in die Minderheit
versetzt und einer protestantischen Reichsregierung gegenübersahen, mit einem
Schlage außerordentlich an Kraft gewonnen. Denn sofort nistete sich der
Argwohn ein: wir werden nnn auf allen Gebieten zurückgesetzt werden! Das
drängte nun die Katholiken zum festen Zusammenschluß unter einander, und
die Konfession ward zum Bollwerke und Schutzdache bürgerlicher Interessen.
Das begriff man sofort auf der Gegenseite und unternahm einen Sturm auf
das Bollwerk, der es, da er abgeschlagen wurde, nur stärkte. Die evangelische
Kirche, zerklüftet wie sie ist, konnte dem Staate keine ebenso geschlossene und
fest geeinte Bevölkerung zur Verfügung stellen. Aber selbst wenn die Protestanten
auf dem religiös-kirchlichen Gebiete einig wären, hätte die Einheit des Glaubens
ihren Zerfall in feindliche Parteien so wenig verhüten können, wie das die
Glaubenseinheit in den katholischen Ländern vermag. In einer konfessionellen
Minderheit, die sich von der Regierung ausgeschlossen sieht, sind die Vornehmen
genötigt, sich zur Eroberung der Macht oder auch nur zur Erhaltung ihres
Besitzstandes der untern Klassen zu bedienen und sich als deren Beschützer der
Staatsgewalt gegenüber aufzuspielen. Die Vornehmen der herrschenden Kon¬
fession dagegen, die sich schon im Besitze der Macht befinden, bedürfen der
untern Klassen politisch nicht. Daher tritt hier die aus dem natürlichen
Interessengegensätze entspringende Feindschaft mit voller Gewalt hervor, und so
ist denn die Sozialdemokratie die Kirche der protestantischen Massen geworden.

Für die Anschauungen und Begierden, die dieses Getriebe in Bewegung
setzen, ist nun auch das Kind schon recht empfänglich. Wenn man ihm ent¬
weder sagt: Wir sind eine auserwählte Gesellschaft, weit besser, weit vornehmer
als das übrige Gesindel! oder wenn man ihm sagt: Sieh doch, wie gewaltig
und großmüchtig wir sind! Zweihundert Millionen Menschen kommandirt
unser Papst, mehr als der deutsche Kaiser, mehr als der russische Zar! Was
wollen die armseligen Sekten bedeuten, die um uns herum sich vergebens ab¬
mühn, vorwärts zu kommen -- so versteht es sowohl die eine wie die andre
Rede, und sein Eigendünkel wird es sehr rasch zu einem eifrigen Mitgliede --
sei es der englischen Hochkirche oder der römisch-katholischen Kirche machen. In
einem geweckten Knaben erwachen dann anch schon vom zehnten, zwölften Jahre
ab die Disputirlust und die Rechthaberei. Sobald er von dem Unterschiede der
Konfessionen erfährt, bereitet es ihm Vergnügen, beweisen zu hören, daß seine
Konfession der andern gegenüber Recht habe, noch größeres Vergnügen, es
selbst beweisen zu können, etwa einem andersgläubigen Kameraden, und wenn
ein solcher Wortstreit zu schlagenden Argumenten übergeht, wenn man sich


Religionsunterricht

Schutzgöttin Athene mit dem Dienste des bürgerlichen Gemeinwesens zusammen¬
fiel. Im Orient hat die Kirche Mohammeds die Völker und die Staaten
verschlungen. Bei den Polen sind heute Katholizismus und Volkstum ebenso
eins, wie einst bei den Schotten und bei den Holländern Kalvinismus, Volk
und Staat eins waren. Im neuen deutschen Reiche hat der Katholizismus
gerade durch den Umstand, daß sich seine Anhänger plötzlich in die Minderheit
versetzt und einer protestantischen Reichsregierung gegenübersahen, mit einem
Schlage außerordentlich an Kraft gewonnen. Denn sofort nistete sich der
Argwohn ein: wir werden nnn auf allen Gebieten zurückgesetzt werden! Das
drängte nun die Katholiken zum festen Zusammenschluß unter einander, und
die Konfession ward zum Bollwerke und Schutzdache bürgerlicher Interessen.
Das begriff man sofort auf der Gegenseite und unternahm einen Sturm auf
das Bollwerk, der es, da er abgeschlagen wurde, nur stärkte. Die evangelische
Kirche, zerklüftet wie sie ist, konnte dem Staate keine ebenso geschlossene und
fest geeinte Bevölkerung zur Verfügung stellen. Aber selbst wenn die Protestanten
auf dem religiös-kirchlichen Gebiete einig wären, hätte die Einheit des Glaubens
ihren Zerfall in feindliche Parteien so wenig verhüten können, wie das die
Glaubenseinheit in den katholischen Ländern vermag. In einer konfessionellen
Minderheit, die sich von der Regierung ausgeschlossen sieht, sind die Vornehmen
genötigt, sich zur Eroberung der Macht oder auch nur zur Erhaltung ihres
Besitzstandes der untern Klassen zu bedienen und sich als deren Beschützer der
Staatsgewalt gegenüber aufzuspielen. Die Vornehmen der herrschenden Kon¬
fession dagegen, die sich schon im Besitze der Macht befinden, bedürfen der
untern Klassen politisch nicht. Daher tritt hier die aus dem natürlichen
Interessengegensätze entspringende Feindschaft mit voller Gewalt hervor, und so
ist denn die Sozialdemokratie die Kirche der protestantischen Massen geworden.

Für die Anschauungen und Begierden, die dieses Getriebe in Bewegung
setzen, ist nun auch das Kind schon recht empfänglich. Wenn man ihm ent¬
weder sagt: Wir sind eine auserwählte Gesellschaft, weit besser, weit vornehmer
als das übrige Gesindel! oder wenn man ihm sagt: Sieh doch, wie gewaltig
und großmüchtig wir sind! Zweihundert Millionen Menschen kommandirt
unser Papst, mehr als der deutsche Kaiser, mehr als der russische Zar! Was
wollen die armseligen Sekten bedeuten, die um uns herum sich vergebens ab¬
mühn, vorwärts zu kommen — so versteht es sowohl die eine wie die andre
Rede, und sein Eigendünkel wird es sehr rasch zu einem eifrigen Mitgliede —
sei es der englischen Hochkirche oder der römisch-katholischen Kirche machen. In
einem geweckten Knaben erwachen dann anch schon vom zehnten, zwölften Jahre
ab die Disputirlust und die Rechthaberei. Sobald er von dem Unterschiede der
Konfessionen erfährt, bereitet es ihm Vergnügen, beweisen zu hören, daß seine
Konfession der andern gegenüber Recht habe, noch größeres Vergnügen, es
selbst beweisen zu können, etwa einem andersgläubigen Kameraden, und wenn
ein solcher Wortstreit zu schlagenden Argumenten übergeht, wenn man sich


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[0212] Religionsunterricht Schutzgöttin Athene mit dem Dienste des bürgerlichen Gemeinwesens zusammen¬ fiel. Im Orient hat die Kirche Mohammeds die Völker und die Staaten verschlungen. Bei den Polen sind heute Katholizismus und Volkstum ebenso eins, wie einst bei den Schotten und bei den Holländern Kalvinismus, Volk und Staat eins waren. Im neuen deutschen Reiche hat der Katholizismus gerade durch den Umstand, daß sich seine Anhänger plötzlich in die Minderheit versetzt und einer protestantischen Reichsregierung gegenübersahen, mit einem Schlage außerordentlich an Kraft gewonnen. Denn sofort nistete sich der Argwohn ein: wir werden nnn auf allen Gebieten zurückgesetzt werden! Das drängte nun die Katholiken zum festen Zusammenschluß unter einander, und die Konfession ward zum Bollwerke und Schutzdache bürgerlicher Interessen. Das begriff man sofort auf der Gegenseite und unternahm einen Sturm auf das Bollwerk, der es, da er abgeschlagen wurde, nur stärkte. Die evangelische Kirche, zerklüftet wie sie ist, konnte dem Staate keine ebenso geschlossene und fest geeinte Bevölkerung zur Verfügung stellen. Aber selbst wenn die Protestanten auf dem religiös-kirchlichen Gebiete einig wären, hätte die Einheit des Glaubens ihren Zerfall in feindliche Parteien so wenig verhüten können, wie das die Glaubenseinheit in den katholischen Ländern vermag. In einer konfessionellen Minderheit, die sich von der Regierung ausgeschlossen sieht, sind die Vornehmen genötigt, sich zur Eroberung der Macht oder auch nur zur Erhaltung ihres Besitzstandes der untern Klassen zu bedienen und sich als deren Beschützer der Staatsgewalt gegenüber aufzuspielen. Die Vornehmen der herrschenden Kon¬ fession dagegen, die sich schon im Besitze der Macht befinden, bedürfen der untern Klassen politisch nicht. Daher tritt hier die aus dem natürlichen Interessengegensätze entspringende Feindschaft mit voller Gewalt hervor, und so ist denn die Sozialdemokratie die Kirche der protestantischen Massen geworden. Für die Anschauungen und Begierden, die dieses Getriebe in Bewegung setzen, ist nun auch das Kind schon recht empfänglich. Wenn man ihm ent¬ weder sagt: Wir sind eine auserwählte Gesellschaft, weit besser, weit vornehmer als das übrige Gesindel! oder wenn man ihm sagt: Sieh doch, wie gewaltig und großmüchtig wir sind! Zweihundert Millionen Menschen kommandirt unser Papst, mehr als der deutsche Kaiser, mehr als der russische Zar! Was wollen die armseligen Sekten bedeuten, die um uns herum sich vergebens ab¬ mühn, vorwärts zu kommen — so versteht es sowohl die eine wie die andre Rede, und sein Eigendünkel wird es sehr rasch zu einem eifrigen Mitgliede — sei es der englischen Hochkirche oder der römisch-katholischen Kirche machen. In einem geweckten Knaben erwachen dann anch schon vom zehnten, zwölften Jahre ab die Disputirlust und die Rechthaberei. Sobald er von dem Unterschiede der Konfessionen erfährt, bereitet es ihm Vergnügen, beweisen zu hören, daß seine Konfession der andern gegenüber Recht habe, noch größeres Vergnügen, es selbst beweisen zu können, etwa einem andersgläubigen Kameraden, und wenn ein solcher Wortstreit zu schlagenden Argumenten übergeht, wenn man sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/212>, abgerufen am 29.12.2024.