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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die belgische Frage

und Vlamlünder befehden sich mit allen Waffen des Zorns und des Spotts.
Die Sozialisten gewinnen täglich an Einfluß, und hinter ihnen erhebt sich die
neue, aber noch furchtbarere Gruppe der Anarchisten. Sie hat schon einen
französischen Sammelplatz in der Univsrsitö Muvells zu Brüssel, die vor
kurzem im Gegensatz zur Uviversitö tubis gegründet worden ist, und ein
bedeutendes vlämisches Organ: Van LtraeKs. Wie sich im Mittel¬
alter die Klcmwarts und Leliaards gegenüberstanden, so heute die feindlichen
Brüder: die Vlämischgesinnten und die "Frcmschdollen." Dazu kommt neuer¬
dings der Einfluß des Großniederlandertums und der altdeutsche Gedanke.
Er ist vielleicht noch am unpopulärsten; aber er wird sicher Fortschritte
machen, schon durch den wachsenden Einfluß der Reichsdeutschen, die sich in
Belgien aufhalten, und die es vor kurzem endlich zu einer eignen "Deutschen
Zeitung" gebracht haben, die in Brüssel erscheint.

Man sieht, es ist reichlich Stoff vorhanden zu dem, was man in der
Diplomatensprache eine "Frage" nennt. Eine "Frage" entsteht überall, wo
Volksschichten in Streit geraten, der allmählich Nachbarvölker in Mitleiden¬
schaft zieht. Natürlich handelt es sich dabei hauptsächlich um Streitigkeiten
über die Rechte der Sprache. In solchem Falle pflegen sich die Stamm¬
verwandten des wirklich oder angeblich unterdrückten Bruderstammes anzu¬
nehmen und unter Umständen mit Waffengewalt einzugreifen. So haben es
die Russen in Bulgarien gemacht, die Deutschen in Schleswig-Holstein; auch
in Österreich bereitet sich allmählich eine solche Frage vor, und die dünische
Frage ist infolge des hartnäckigen Widerstands der Nordschleswiger noch immer
nicht gelöst; die Polen aber bilden eine bestündige Verlegenheit für die Re¬
gierung. Es fragt sich, ob sich in einem so kleinen Gemeinwesen, wie der
belgische Staat ist, alle diese Gegensätze friedlich werden ausgleichen lassen.
Bis jetzt haben die Belgier wenig politische Weisheit gezeigt. Bei dem Parla¬
mentarismus, der auf der Demokratie beruht, pflegen persönliche Rücksichten
und Parteirücksichten vorzuwalten und höhere Anschauungen zu verhindern.
Mundfertige Advokaten aber sind nicht die Männer, ein Land mit Weisheit
zu regieren. Der König, der wahrscheinlich der beste Politiker seines ganzen
Landes ist, sieht sicherlich mit großem Schmerze die Verwirrung. Wenn es
wahr ist, was der Figaro neulich meldete, daß er mit dem General Brassine,
dem bekannten Verteidiger der allgemeinen Wehrpflicht, nur deshalb nach Kiel
gereist sei, um ein Bündnis mit dem deutschen Kaiser zu verabreden, so würde
das jedenfalls von großer politischer Weisheit zeugen. Denn eine Anlehnung
an ein konservativeres Staatswesen wäre für Belgien wie ein starker Anker
auf unruhigem Meer. Die einzelnen Gruppen gehen natürlich, durch ihren
Parteistandpunkt verführt, leicht zu weit. Einseitigkeit aber schadet dem poli¬
tischen Fortschritt. So ist es der Fehler der Flaminganten, daß sie nur sich
selbst kennen und nicht begreifen wollen, daß sie nicht allein auf der Welt


Die belgische Frage

und Vlamlünder befehden sich mit allen Waffen des Zorns und des Spotts.
Die Sozialisten gewinnen täglich an Einfluß, und hinter ihnen erhebt sich die
neue, aber noch furchtbarere Gruppe der Anarchisten. Sie hat schon einen
französischen Sammelplatz in der Univsrsitö Muvells zu Brüssel, die vor
kurzem im Gegensatz zur Uviversitö tubis gegründet worden ist, und ein
bedeutendes vlämisches Organ: Van LtraeKs. Wie sich im Mittel¬
alter die Klcmwarts und Leliaards gegenüberstanden, so heute die feindlichen
Brüder: die Vlämischgesinnten und die „Frcmschdollen." Dazu kommt neuer¬
dings der Einfluß des Großniederlandertums und der altdeutsche Gedanke.
Er ist vielleicht noch am unpopulärsten; aber er wird sicher Fortschritte
machen, schon durch den wachsenden Einfluß der Reichsdeutschen, die sich in
Belgien aufhalten, und die es vor kurzem endlich zu einer eignen „Deutschen
Zeitung" gebracht haben, die in Brüssel erscheint.

Man sieht, es ist reichlich Stoff vorhanden zu dem, was man in der
Diplomatensprache eine „Frage" nennt. Eine „Frage" entsteht überall, wo
Volksschichten in Streit geraten, der allmählich Nachbarvölker in Mitleiden¬
schaft zieht. Natürlich handelt es sich dabei hauptsächlich um Streitigkeiten
über die Rechte der Sprache. In solchem Falle pflegen sich die Stamm¬
verwandten des wirklich oder angeblich unterdrückten Bruderstammes anzu¬
nehmen und unter Umständen mit Waffengewalt einzugreifen. So haben es
die Russen in Bulgarien gemacht, die Deutschen in Schleswig-Holstein; auch
in Österreich bereitet sich allmählich eine solche Frage vor, und die dünische
Frage ist infolge des hartnäckigen Widerstands der Nordschleswiger noch immer
nicht gelöst; die Polen aber bilden eine bestündige Verlegenheit für die Re¬
gierung. Es fragt sich, ob sich in einem so kleinen Gemeinwesen, wie der
belgische Staat ist, alle diese Gegensätze friedlich werden ausgleichen lassen.
Bis jetzt haben die Belgier wenig politische Weisheit gezeigt. Bei dem Parla¬
mentarismus, der auf der Demokratie beruht, pflegen persönliche Rücksichten
und Parteirücksichten vorzuwalten und höhere Anschauungen zu verhindern.
Mundfertige Advokaten aber sind nicht die Männer, ein Land mit Weisheit
zu regieren. Der König, der wahrscheinlich der beste Politiker seines ganzen
Landes ist, sieht sicherlich mit großem Schmerze die Verwirrung. Wenn es
wahr ist, was der Figaro neulich meldete, daß er mit dem General Brassine,
dem bekannten Verteidiger der allgemeinen Wehrpflicht, nur deshalb nach Kiel
gereist sei, um ein Bündnis mit dem deutschen Kaiser zu verabreden, so würde
das jedenfalls von großer politischer Weisheit zeugen. Denn eine Anlehnung
an ein konservativeres Staatswesen wäre für Belgien wie ein starker Anker
auf unruhigem Meer. Die einzelnen Gruppen gehen natürlich, durch ihren
Parteistandpunkt verführt, leicht zu weit. Einseitigkeit aber schadet dem poli¬
tischen Fortschritt. So ist es der Fehler der Flaminganten, daß sie nur sich
selbst kennen und nicht begreifen wollen, daß sie nicht allein auf der Welt


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[0206] Die belgische Frage und Vlamlünder befehden sich mit allen Waffen des Zorns und des Spotts. Die Sozialisten gewinnen täglich an Einfluß, und hinter ihnen erhebt sich die neue, aber noch furchtbarere Gruppe der Anarchisten. Sie hat schon einen französischen Sammelplatz in der Univsrsitö Muvells zu Brüssel, die vor kurzem im Gegensatz zur Uviversitö tubis gegründet worden ist, und ein bedeutendes vlämisches Organ: Van LtraeKs. Wie sich im Mittel¬ alter die Klcmwarts und Leliaards gegenüberstanden, so heute die feindlichen Brüder: die Vlämischgesinnten und die „Frcmschdollen." Dazu kommt neuer¬ dings der Einfluß des Großniederlandertums und der altdeutsche Gedanke. Er ist vielleicht noch am unpopulärsten; aber er wird sicher Fortschritte machen, schon durch den wachsenden Einfluß der Reichsdeutschen, die sich in Belgien aufhalten, und die es vor kurzem endlich zu einer eignen „Deutschen Zeitung" gebracht haben, die in Brüssel erscheint. Man sieht, es ist reichlich Stoff vorhanden zu dem, was man in der Diplomatensprache eine „Frage" nennt. Eine „Frage" entsteht überall, wo Volksschichten in Streit geraten, der allmählich Nachbarvölker in Mitleiden¬ schaft zieht. Natürlich handelt es sich dabei hauptsächlich um Streitigkeiten über die Rechte der Sprache. In solchem Falle pflegen sich die Stamm¬ verwandten des wirklich oder angeblich unterdrückten Bruderstammes anzu¬ nehmen und unter Umständen mit Waffengewalt einzugreifen. So haben es die Russen in Bulgarien gemacht, die Deutschen in Schleswig-Holstein; auch in Österreich bereitet sich allmählich eine solche Frage vor, und die dünische Frage ist infolge des hartnäckigen Widerstands der Nordschleswiger noch immer nicht gelöst; die Polen aber bilden eine bestündige Verlegenheit für die Re¬ gierung. Es fragt sich, ob sich in einem so kleinen Gemeinwesen, wie der belgische Staat ist, alle diese Gegensätze friedlich werden ausgleichen lassen. Bis jetzt haben die Belgier wenig politische Weisheit gezeigt. Bei dem Parla¬ mentarismus, der auf der Demokratie beruht, pflegen persönliche Rücksichten und Parteirücksichten vorzuwalten und höhere Anschauungen zu verhindern. Mundfertige Advokaten aber sind nicht die Männer, ein Land mit Weisheit zu regieren. Der König, der wahrscheinlich der beste Politiker seines ganzen Landes ist, sieht sicherlich mit großem Schmerze die Verwirrung. Wenn es wahr ist, was der Figaro neulich meldete, daß er mit dem General Brassine, dem bekannten Verteidiger der allgemeinen Wehrpflicht, nur deshalb nach Kiel gereist sei, um ein Bündnis mit dem deutschen Kaiser zu verabreden, so würde das jedenfalls von großer politischer Weisheit zeugen. Denn eine Anlehnung an ein konservativeres Staatswesen wäre für Belgien wie ein starker Anker auf unruhigem Meer. Die einzelnen Gruppen gehen natürlich, durch ihren Parteistandpunkt verführt, leicht zu weit. Einseitigkeit aber schadet dem poli¬ tischen Fortschritt. So ist es der Fehler der Flaminganten, daß sie nur sich selbst kennen und nicht begreifen wollen, daß sie nicht allein auf der Welt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/206>, abgerufen am 24.07.2024.