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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Zur Polenfrage

mußten, weil die Arbeit drängte, und keine Magd zu haben war. Warum
sollte denn der Posten für die Tochter des Tagelöhners zu schlecht sein, der
für die Tochter des Bauern gut genug ist?

Unser Schluß ist also der: nicht weil die Polen billiger sind, werden
sie geholt, sondern weil die einheimischen Arbeiter kostspieliger und seltner ge¬
worden sind. Das ist ja an und für sich ein erfreuliches Zeichen. Es be¬
weist, daß lohnende Arbeitsgelegenheit für die Deutschen im Inlande und Aus¬
lande reichlich vorhanden gewesen ist. Es wird ihnen somit wohl nicht
schlechter gegangen sein als in frühern Zeiten. Aber über die unangenehmen
Folgen, die Teilnahme der Slawen an der deutschen Arbeitsgelegenheit, an
dem Ertrag der deutschen Erde, sollte man sich doch Gedanken machen.

Der Verfasser des genannten Aufsatzes hat noch eine zweite Ursache der
Polnischen Wanderung angeführt, den im Sommer gesteigerten Bedarf an
landwirtschaftlichen Arbeitern. Der Landwirt ist kapitalistischer Unternehmer
geworden. Das ist nicht seine Schuld, im Gegenteil, es ist seine Pflicht.
Er hat sich nicht um sozialpolitische Folgen zu kümmern, sondern er soll vor
vilen seinen Geldverpflichtungen nachkommen. Heute, wo er schlecht steht, soll
er sich vor allem vorm Bankrott retten. Mensch, bezahle deine Schulden!
das ist bürgerliche Moral. Er drischt und pflügt also womöglich mit
Maschinen und sucht die Arbeit so zu verteilen, wie sie ihm am billigsten ist.
Dazu braucht er aber im Sommer mehr als noch einmal so viel Arbeiter als
im Winter. In der Nähe großer Städte sind die natürlich leicht zu haben.
Dort kann man aus der Menschenmasse schon reichlich schöpfen, ehe sie ebbt.
Wo Hausindustrie ist, da ist auch am Orte der Bedarf zu decken. Aber wo
Gut an Gut liegt -- und solches Land muß es auch geben, wenn die Riesen¬
städte leben wollen --, da ist es ebenso selbstverständlich, daß dieser enorm
gesteigerte Bedarf nicht gedeckt werden kann. Wie soll es denn die Bevölkerung
machen, wenn sie sich mit einemmale verdoppeln soll? Hätten wir nicht die
Freizügigkeit, so würde die Bevölkerung annähernd ans der doppelten Höhe
bleiben müssen. Die Herren müßten notgedrungen ihre Leute durch den
Winter bringen, sonst hätten sie ja im Sommer nicht genug. Hütten wir
nicht den Überfluß an Arbeitsgelegenheit in den Städten, so würden auch die
freien Arbeiter bei ihren Brotherren bleiben müssen. So aber ziehen sie weg,
und sind sie einmal weg. so haben sie keine Veranlassung, wiederzukommen;")



*) Es findet allerdings mich eine Rückwanderung von den Städten muss Land statt. Meist
sind es vierzehnjährige Knaben, namentlich Waisenkinder, die auf weite Entfernungen, von einer
Provinz in die andre, als Pferdejungen uns die Güter oder als Lehrjungen zu kleinen Schmieden
und Müllern verhandelt werden, was zuweilen zu ihrem körperlichen Wohl ausfällt. Aber auch
erwachsene junge Leute, Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter gehe" im Sommer sozusagen zur
Wanderschaft aufs Land ohne Vermittlung. Meist sind es nicht die besten Leute, wie man sich
denken kann, sie sind schon deshalb weniger wert, weil sie nichts von der Landwirtschaft verstehen.
Grenzboten III 1897 -
Zur Polenfrage

mußten, weil die Arbeit drängte, und keine Magd zu haben war. Warum
sollte denn der Posten für die Tochter des Tagelöhners zu schlecht sein, der
für die Tochter des Bauern gut genug ist?

Unser Schluß ist also der: nicht weil die Polen billiger sind, werden
sie geholt, sondern weil die einheimischen Arbeiter kostspieliger und seltner ge¬
worden sind. Das ist ja an und für sich ein erfreuliches Zeichen. Es be¬
weist, daß lohnende Arbeitsgelegenheit für die Deutschen im Inlande und Aus¬
lande reichlich vorhanden gewesen ist. Es wird ihnen somit wohl nicht
schlechter gegangen sein als in frühern Zeiten. Aber über die unangenehmen
Folgen, die Teilnahme der Slawen an der deutschen Arbeitsgelegenheit, an
dem Ertrag der deutschen Erde, sollte man sich doch Gedanken machen.

Der Verfasser des genannten Aufsatzes hat noch eine zweite Ursache der
Polnischen Wanderung angeführt, den im Sommer gesteigerten Bedarf an
landwirtschaftlichen Arbeitern. Der Landwirt ist kapitalistischer Unternehmer
geworden. Das ist nicht seine Schuld, im Gegenteil, es ist seine Pflicht.
Er hat sich nicht um sozialpolitische Folgen zu kümmern, sondern er soll vor
vilen seinen Geldverpflichtungen nachkommen. Heute, wo er schlecht steht, soll
er sich vor allem vorm Bankrott retten. Mensch, bezahle deine Schulden!
das ist bürgerliche Moral. Er drischt und pflügt also womöglich mit
Maschinen und sucht die Arbeit so zu verteilen, wie sie ihm am billigsten ist.
Dazu braucht er aber im Sommer mehr als noch einmal so viel Arbeiter als
im Winter. In der Nähe großer Städte sind die natürlich leicht zu haben.
Dort kann man aus der Menschenmasse schon reichlich schöpfen, ehe sie ebbt.
Wo Hausindustrie ist, da ist auch am Orte der Bedarf zu decken. Aber wo
Gut an Gut liegt — und solches Land muß es auch geben, wenn die Riesen¬
städte leben wollen —, da ist es ebenso selbstverständlich, daß dieser enorm
gesteigerte Bedarf nicht gedeckt werden kann. Wie soll es denn die Bevölkerung
machen, wenn sie sich mit einemmale verdoppeln soll? Hätten wir nicht die
Freizügigkeit, so würde die Bevölkerung annähernd ans der doppelten Höhe
bleiben müssen. Die Herren müßten notgedrungen ihre Leute durch den
Winter bringen, sonst hätten sie ja im Sommer nicht genug. Hütten wir
nicht den Überfluß an Arbeitsgelegenheit in den Städten, so würden auch die
freien Arbeiter bei ihren Brotherren bleiben müssen. So aber ziehen sie weg,
und sind sie einmal weg. so haben sie keine Veranlassung, wiederzukommen;")



*) Es findet allerdings mich eine Rückwanderung von den Städten muss Land statt. Meist
sind es vierzehnjährige Knaben, namentlich Waisenkinder, die auf weite Entfernungen, von einer
Provinz in die andre, als Pferdejungen uns die Güter oder als Lehrjungen zu kleinen Schmieden
und Müllern verhandelt werden, was zuweilen zu ihrem körperlichen Wohl ausfällt. Aber auch
erwachsene junge Leute, Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter gehe» im Sommer sozusagen zur
Wanderschaft aufs Land ohne Vermittlung. Meist sind es nicht die besten Leute, wie man sich
denken kann, sie sind schon deshalb weniger wert, weil sie nichts von der Landwirtschaft verstehen.
Grenzboten III 1897 -
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[0017] Zur Polenfrage mußten, weil die Arbeit drängte, und keine Magd zu haben war. Warum sollte denn der Posten für die Tochter des Tagelöhners zu schlecht sein, der für die Tochter des Bauern gut genug ist? Unser Schluß ist also der: nicht weil die Polen billiger sind, werden sie geholt, sondern weil die einheimischen Arbeiter kostspieliger und seltner ge¬ worden sind. Das ist ja an und für sich ein erfreuliches Zeichen. Es be¬ weist, daß lohnende Arbeitsgelegenheit für die Deutschen im Inlande und Aus¬ lande reichlich vorhanden gewesen ist. Es wird ihnen somit wohl nicht schlechter gegangen sein als in frühern Zeiten. Aber über die unangenehmen Folgen, die Teilnahme der Slawen an der deutschen Arbeitsgelegenheit, an dem Ertrag der deutschen Erde, sollte man sich doch Gedanken machen. Der Verfasser des genannten Aufsatzes hat noch eine zweite Ursache der Polnischen Wanderung angeführt, den im Sommer gesteigerten Bedarf an landwirtschaftlichen Arbeitern. Der Landwirt ist kapitalistischer Unternehmer geworden. Das ist nicht seine Schuld, im Gegenteil, es ist seine Pflicht. Er hat sich nicht um sozialpolitische Folgen zu kümmern, sondern er soll vor vilen seinen Geldverpflichtungen nachkommen. Heute, wo er schlecht steht, soll er sich vor allem vorm Bankrott retten. Mensch, bezahle deine Schulden! das ist bürgerliche Moral. Er drischt und pflügt also womöglich mit Maschinen und sucht die Arbeit so zu verteilen, wie sie ihm am billigsten ist. Dazu braucht er aber im Sommer mehr als noch einmal so viel Arbeiter als im Winter. In der Nähe großer Städte sind die natürlich leicht zu haben. Dort kann man aus der Menschenmasse schon reichlich schöpfen, ehe sie ebbt. Wo Hausindustrie ist, da ist auch am Orte der Bedarf zu decken. Aber wo Gut an Gut liegt — und solches Land muß es auch geben, wenn die Riesen¬ städte leben wollen —, da ist es ebenso selbstverständlich, daß dieser enorm gesteigerte Bedarf nicht gedeckt werden kann. Wie soll es denn die Bevölkerung machen, wenn sie sich mit einemmale verdoppeln soll? Hätten wir nicht die Freizügigkeit, so würde die Bevölkerung annähernd ans der doppelten Höhe bleiben müssen. Die Herren müßten notgedrungen ihre Leute durch den Winter bringen, sonst hätten sie ja im Sommer nicht genug. Hütten wir nicht den Überfluß an Arbeitsgelegenheit in den Städten, so würden auch die freien Arbeiter bei ihren Brotherren bleiben müssen. So aber ziehen sie weg, und sind sie einmal weg. so haben sie keine Veranlassung, wiederzukommen;") *) Es findet allerdings mich eine Rückwanderung von den Städten muss Land statt. Meist sind es vierzehnjährige Knaben, namentlich Waisenkinder, die auf weite Entfernungen, von einer Provinz in die andre, als Pferdejungen uns die Güter oder als Lehrjungen zu kleinen Schmieden und Müllern verhandelt werden, was zuweilen zu ihrem körperlichen Wohl ausfällt. Aber auch erwachsene junge Leute, Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter gehe» im Sommer sozusagen zur Wanderschaft aufs Land ohne Vermittlung. Meist sind es nicht die besten Leute, wie man sich denken kann, sie sind schon deshalb weniger wert, weil sie nichts von der Landwirtschaft verstehen. Grenzboten III 1897 -

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/17>, abgerufen am 28.12.2024.