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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

wurde ihnen nichts, das wußten sie, und war die Predigt aus, und der Meister
gab sich noch besonders mit ihnen ab, so geschah es höchstens, um sie zu lieb¬
kosen und zu segnen. Schlief aber der eine oder der andre während der
Predigt, mochte es ein Kind oder ein Erwachsener sein, so war der Heiland
nicht böse darüber, wie ja auch Paulus in Troas den jungen Eutychus ruhig
fortschlafen ließ, bis er zum Fenster hinaussiel. Und wer dächte nicht auch
an Sokrates! War ja doch das, was dieser lehrte, ebenfalls Religion. Hätte
er in regelmäßigen Kursen unterrichtet und sich Geld dafür zahlen lassen, wie
die Herren Sophisten, bei denen die jungen Leute Redekünste lernten, das
Volk zu übertölpeln und vor Gericht ihre Gegner zu schlagen, so wäre es
eben nicht Religion gewesen. So aber, da es nur gelegentlich, auf dem
Markte, in schattigen Wandelgäugen oder beim Trinkgelage unter heitern
Scherzen geschah, und da nur solche daran teil nahmen, die freiwillig und
ganz von selber kamen, nur dem Zuge ihres Herzens nachgehend, da wars
Religion, denn die Seelen der Hörer wandten sich in diesen Gesprächen dem
Ewigen zu. In jener Mädchenklasse, die mir am meisten zu solchen Betrach¬
tungen Anlaß gab, erteilte nach mir ein Lehrer den Religionsunterricht. Der
verfuhr nun ganz regelrecht: "Bleibet ihr hier mit dem Esel" usw., bis jedes
der kleinen Mädchen den Satz fehlerfrei nachgesprochen hatte, und die nicht
acht gab oder nicht nachsprechen wollte oder konnte, kriegte so lange "Tatzen,"
bis es ging "wie geschmiert," und so haben die Mädchen bei dem Herrn "was
ordentliches gelernt." Ja, wie das gemacht wird, das wußte ich ja auch und
hatte es oft genug praktizirt, namentlich beim Einbläuen der unregelmäßigen
Verba in der Lateinstunde; aber sich dazu entschließen, nachdem der jugendliche
Eifer durch vernünftige Überlegung geklärt und abgekühlt ist, sich dazu ent¬
schließen beim Religionsunterricht und bei kleinen, lieben Mädchen -- nein,
das ging eben nicht.

Überhaupt, was soll eigentlich der Religionsunterricht? Was die andern
Fächer sollen, das weiß man. Französisch wird gelehrt, damit die Schüler
französisch sprechen und schreiben können, wenn sie ins Ausland reisen müssen
oder Handelsbriefe ins Ausland zu schicken haben,*) Lateinisch lernen sie,
damit sie die römischen Klassiker lesen können und, wenn sie katholische Geist¬
liche werden, die Kirchensprache verstehen, Mathematik, damit sie Äcker aus-



Über den Zweck denken die Schüler oft schon sehr früh nach. Ein zwölfjähriger
Knabe, Phlegmatikus -- die Phlegmatiker sind die verständigsten -- dem ich Latein einpaukte,
streikte einfach. Er las z. B. mit seiner melodischen Stimme einen Satz herunter, sah mich
dann mit seinen großen unschuldsvollen Augen an und überließ mir das übrige; weder gute
Worte noch Prügel konnten ihn dazu bringen, einen Übersetzungsversuch zu unternehmen.
Im nächsten Jahre kam das Französische dran, und da gings prächtig. Verwundert fragte ich
ihn: Aber warum machst du denn das so hübsch und willst im Latein gar nicht ran? Ja,
sagte er, französisch kann man mal sprechen, aber was soll mir denn das dumme Latein?
Religionsunterricht

wurde ihnen nichts, das wußten sie, und war die Predigt aus, und der Meister
gab sich noch besonders mit ihnen ab, so geschah es höchstens, um sie zu lieb¬
kosen und zu segnen. Schlief aber der eine oder der andre während der
Predigt, mochte es ein Kind oder ein Erwachsener sein, so war der Heiland
nicht böse darüber, wie ja auch Paulus in Troas den jungen Eutychus ruhig
fortschlafen ließ, bis er zum Fenster hinaussiel. Und wer dächte nicht auch
an Sokrates! War ja doch das, was dieser lehrte, ebenfalls Religion. Hätte
er in regelmäßigen Kursen unterrichtet und sich Geld dafür zahlen lassen, wie
die Herren Sophisten, bei denen die jungen Leute Redekünste lernten, das
Volk zu übertölpeln und vor Gericht ihre Gegner zu schlagen, so wäre es
eben nicht Religion gewesen. So aber, da es nur gelegentlich, auf dem
Markte, in schattigen Wandelgäugen oder beim Trinkgelage unter heitern
Scherzen geschah, und da nur solche daran teil nahmen, die freiwillig und
ganz von selber kamen, nur dem Zuge ihres Herzens nachgehend, da wars
Religion, denn die Seelen der Hörer wandten sich in diesen Gesprächen dem
Ewigen zu. In jener Mädchenklasse, die mir am meisten zu solchen Betrach¬
tungen Anlaß gab, erteilte nach mir ein Lehrer den Religionsunterricht. Der
verfuhr nun ganz regelrecht: „Bleibet ihr hier mit dem Esel" usw., bis jedes
der kleinen Mädchen den Satz fehlerfrei nachgesprochen hatte, und die nicht
acht gab oder nicht nachsprechen wollte oder konnte, kriegte so lange „Tatzen,"
bis es ging „wie geschmiert," und so haben die Mädchen bei dem Herrn „was
ordentliches gelernt." Ja, wie das gemacht wird, das wußte ich ja auch und
hatte es oft genug praktizirt, namentlich beim Einbläuen der unregelmäßigen
Verba in der Lateinstunde; aber sich dazu entschließen, nachdem der jugendliche
Eifer durch vernünftige Überlegung geklärt und abgekühlt ist, sich dazu ent¬
schließen beim Religionsunterricht und bei kleinen, lieben Mädchen — nein,
das ging eben nicht.

Überhaupt, was soll eigentlich der Religionsunterricht? Was die andern
Fächer sollen, das weiß man. Französisch wird gelehrt, damit die Schüler
französisch sprechen und schreiben können, wenn sie ins Ausland reisen müssen
oder Handelsbriefe ins Ausland zu schicken haben,*) Lateinisch lernen sie,
damit sie die römischen Klassiker lesen können und, wenn sie katholische Geist¬
liche werden, die Kirchensprache verstehen, Mathematik, damit sie Äcker aus-



Über den Zweck denken die Schüler oft schon sehr früh nach. Ein zwölfjähriger
Knabe, Phlegmatikus — die Phlegmatiker sind die verständigsten — dem ich Latein einpaukte,
streikte einfach. Er las z. B. mit seiner melodischen Stimme einen Satz herunter, sah mich
dann mit seinen großen unschuldsvollen Augen an und überließ mir das übrige; weder gute
Worte noch Prügel konnten ihn dazu bringen, einen Übersetzungsversuch zu unternehmen.
Im nächsten Jahre kam das Französische dran, und da gings prächtig. Verwundert fragte ich
ihn: Aber warum machst du denn das so hübsch und willst im Latein gar nicht ran? Ja,
sagte er, französisch kann man mal sprechen, aber was soll mir denn das dumme Latein?
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[0164] Religionsunterricht wurde ihnen nichts, das wußten sie, und war die Predigt aus, und der Meister gab sich noch besonders mit ihnen ab, so geschah es höchstens, um sie zu lieb¬ kosen und zu segnen. Schlief aber der eine oder der andre während der Predigt, mochte es ein Kind oder ein Erwachsener sein, so war der Heiland nicht böse darüber, wie ja auch Paulus in Troas den jungen Eutychus ruhig fortschlafen ließ, bis er zum Fenster hinaussiel. Und wer dächte nicht auch an Sokrates! War ja doch das, was dieser lehrte, ebenfalls Religion. Hätte er in regelmäßigen Kursen unterrichtet und sich Geld dafür zahlen lassen, wie die Herren Sophisten, bei denen die jungen Leute Redekünste lernten, das Volk zu übertölpeln und vor Gericht ihre Gegner zu schlagen, so wäre es eben nicht Religion gewesen. So aber, da es nur gelegentlich, auf dem Markte, in schattigen Wandelgäugen oder beim Trinkgelage unter heitern Scherzen geschah, und da nur solche daran teil nahmen, die freiwillig und ganz von selber kamen, nur dem Zuge ihres Herzens nachgehend, da wars Religion, denn die Seelen der Hörer wandten sich in diesen Gesprächen dem Ewigen zu. In jener Mädchenklasse, die mir am meisten zu solchen Betrach¬ tungen Anlaß gab, erteilte nach mir ein Lehrer den Religionsunterricht. Der verfuhr nun ganz regelrecht: „Bleibet ihr hier mit dem Esel" usw., bis jedes der kleinen Mädchen den Satz fehlerfrei nachgesprochen hatte, und die nicht acht gab oder nicht nachsprechen wollte oder konnte, kriegte so lange „Tatzen," bis es ging „wie geschmiert," und so haben die Mädchen bei dem Herrn „was ordentliches gelernt." Ja, wie das gemacht wird, das wußte ich ja auch und hatte es oft genug praktizirt, namentlich beim Einbläuen der unregelmäßigen Verba in der Lateinstunde; aber sich dazu entschließen, nachdem der jugendliche Eifer durch vernünftige Überlegung geklärt und abgekühlt ist, sich dazu ent¬ schließen beim Religionsunterricht und bei kleinen, lieben Mädchen — nein, das ging eben nicht. Überhaupt, was soll eigentlich der Religionsunterricht? Was die andern Fächer sollen, das weiß man. Französisch wird gelehrt, damit die Schüler französisch sprechen und schreiben können, wenn sie ins Ausland reisen müssen oder Handelsbriefe ins Ausland zu schicken haben,*) Lateinisch lernen sie, damit sie die römischen Klassiker lesen können und, wenn sie katholische Geist¬ liche werden, die Kirchensprache verstehen, Mathematik, damit sie Äcker aus- Über den Zweck denken die Schüler oft schon sehr früh nach. Ein zwölfjähriger Knabe, Phlegmatikus — die Phlegmatiker sind die verständigsten — dem ich Latein einpaukte, streikte einfach. Er las z. B. mit seiner melodischen Stimme einen Satz herunter, sah mich dann mit seinen großen unschuldsvollen Augen an und überließ mir das übrige; weder gute Worte noch Prügel konnten ihn dazu bringen, einen Übersetzungsversuch zu unternehmen. Im nächsten Jahre kam das Französische dran, und da gings prächtig. Verwundert fragte ich ihn: Aber warum machst du denn das so hübsch und willst im Latein gar nicht ran? Ja, sagte er, französisch kann man mal sprechen, aber was soll mir denn das dumme Latein?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/164>, abgerufen am 24.07.2024.