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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

oder gar zu abstrakten Glaubenssatz fesseln; etwa über die Thätigkeit der
Schutzengel, oder über die Taufe, nicht etwa über die Notwendigkeit der Taufe
-- bei dem Worte Erbsünde denken sie doch höchstens an Erbsen --, sondern
über die Taufhandlung, aber, wie gesagt, nicht länger als zehn Minuten oder
höchstens eine Viertelstunde. Nun sollte ich aber eine volle Stunde ausfüllen
oder, um nicht zu lügen, volle 55 Minuten, und da muß ich denn gestehen,
daß ich in der letzten Viertelstunde lieber in der Hölle gesessen hätte als bei
diesen Engelchen, die mich ärger peinigten, als es Teufelchen gekonnt hätten.
Wie oft habe ich da gedacht: Was ist doch so eine moderne Staatsordnung
für eine verrückte Einrichtung! Wenn es mir erlaubt wäre, den Kindern
bloß ein Geschichtchen zu erzählen und darüber mit ihnen so lange zu plaudern,
als sie der Gegenstand fesselt, dann, wenn ich merke, daß sie es satt haben,
sie hinauszulassen und eine halbe Stunde auf dem Rasen mit ihnen herum¬
zuspringen, würde davon der Staat oder würde die Kirche einfallen? Oder
würde es unser Herrgott übel nehmen? Man denke sich doch einmal Christum
schulplanmäßigen Religionsunterricht erteilend, oder solchen inspizirend, oder
ins Klassenbuch schreibend: Montag 8 bis 9 Uhr: die Geschichte vom Königischen,
oder: Frage 12 bis 18 des Katechismus, oder Lied 123! Muß ich nicht um
Verzeihung bitten, daß ich einen so lüsterlichen Gedanken auszusprechen wage?
Und was Christo zuzutrauen Gotteslästerung wäre, muß das unbedingt einem
Pfarrer oder Lehrer als das allervernünftigste, allerchristlichste und allerstaats-
erhaltendste zugemutet werden? Wissen wir doch ungefähr, wie der Heiland
Religionsunterricht erteilt hat. Wo er saß, ging und stand, da liefen ihm
die Leute nach und sammelten sich um ihn -- was würde das heute den
Polizeidienern, Schutzmännern und Staatsanwälten für Arbeit machen! --,
und da fing er denn an zu reden, mochte es bei einem Gastmahl sein, oder
im Hofraum eines Hauses, oder in einer der Hallen des Tempels (heut begeht
schon der Laie, der auf dem Kirchhofe sprechen will, eine "Strafthat"), oder auf
einem Hügel, oder in einem Nachen am Gestade. Und da standen, saßen und
lagen nun die Leute um ihn herum, nicht eben in den gewähltester Anzügen
und in nichts weniger als schulmüßiger Haltung, ganz so, wie man es auf
den bekannten Bildern sieht. Der eine hörte andächtig zu, weil ihm die
Predigt gefiel, ein zweiter war zu einfältig, die Worte zu fassen, die an sein
Ohr schlugen, aber die Gestalt und das Antlitz des Meisters fesselten ihn,
und so schaute denn auch er hin und that, als ob er andächtig zuhöre. Ein
dritter paßte auf, um etwas zu erschnappen, was sich zum Denunziren eigne,
ein vierter drückte sich leise hinten herum, ohne Bestrafung wegen Schwänzens
fürchten zu müssen, ein fünfter wartete ungeduldig aufs Ende der Predigt,
weil er bloß gekommen war, sich von dem Wunderarzt sein lahmes Bein
heilen zu lassen, und die Kinder wälzten sich unterdessen im Sande, horchten
manchmal ein wenig hin und spielten dann wieder mit einander. Abgefragt


Religionsunterricht

oder gar zu abstrakten Glaubenssatz fesseln; etwa über die Thätigkeit der
Schutzengel, oder über die Taufe, nicht etwa über die Notwendigkeit der Taufe
— bei dem Worte Erbsünde denken sie doch höchstens an Erbsen —, sondern
über die Taufhandlung, aber, wie gesagt, nicht länger als zehn Minuten oder
höchstens eine Viertelstunde. Nun sollte ich aber eine volle Stunde ausfüllen
oder, um nicht zu lügen, volle 55 Minuten, und da muß ich denn gestehen,
daß ich in der letzten Viertelstunde lieber in der Hölle gesessen hätte als bei
diesen Engelchen, die mich ärger peinigten, als es Teufelchen gekonnt hätten.
Wie oft habe ich da gedacht: Was ist doch so eine moderne Staatsordnung
für eine verrückte Einrichtung! Wenn es mir erlaubt wäre, den Kindern
bloß ein Geschichtchen zu erzählen und darüber mit ihnen so lange zu plaudern,
als sie der Gegenstand fesselt, dann, wenn ich merke, daß sie es satt haben,
sie hinauszulassen und eine halbe Stunde auf dem Rasen mit ihnen herum¬
zuspringen, würde davon der Staat oder würde die Kirche einfallen? Oder
würde es unser Herrgott übel nehmen? Man denke sich doch einmal Christum
schulplanmäßigen Religionsunterricht erteilend, oder solchen inspizirend, oder
ins Klassenbuch schreibend: Montag 8 bis 9 Uhr: die Geschichte vom Königischen,
oder: Frage 12 bis 18 des Katechismus, oder Lied 123! Muß ich nicht um
Verzeihung bitten, daß ich einen so lüsterlichen Gedanken auszusprechen wage?
Und was Christo zuzutrauen Gotteslästerung wäre, muß das unbedingt einem
Pfarrer oder Lehrer als das allervernünftigste, allerchristlichste und allerstaats-
erhaltendste zugemutet werden? Wissen wir doch ungefähr, wie der Heiland
Religionsunterricht erteilt hat. Wo er saß, ging und stand, da liefen ihm
die Leute nach und sammelten sich um ihn — was würde das heute den
Polizeidienern, Schutzmännern und Staatsanwälten für Arbeit machen! —,
und da fing er denn an zu reden, mochte es bei einem Gastmahl sein, oder
im Hofraum eines Hauses, oder in einer der Hallen des Tempels (heut begeht
schon der Laie, der auf dem Kirchhofe sprechen will, eine „Strafthat"), oder auf
einem Hügel, oder in einem Nachen am Gestade. Und da standen, saßen und
lagen nun die Leute um ihn herum, nicht eben in den gewähltester Anzügen
und in nichts weniger als schulmüßiger Haltung, ganz so, wie man es auf
den bekannten Bildern sieht. Der eine hörte andächtig zu, weil ihm die
Predigt gefiel, ein zweiter war zu einfältig, die Worte zu fassen, die an sein
Ohr schlugen, aber die Gestalt und das Antlitz des Meisters fesselten ihn,
und so schaute denn auch er hin und that, als ob er andächtig zuhöre. Ein
dritter paßte auf, um etwas zu erschnappen, was sich zum Denunziren eigne,
ein vierter drückte sich leise hinten herum, ohne Bestrafung wegen Schwänzens
fürchten zu müssen, ein fünfter wartete ungeduldig aufs Ende der Predigt,
weil er bloß gekommen war, sich von dem Wunderarzt sein lahmes Bein
heilen zu lassen, und die Kinder wälzten sich unterdessen im Sande, horchten
manchmal ein wenig hin und spielten dann wieder mit einander. Abgefragt


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[0163] Religionsunterricht oder gar zu abstrakten Glaubenssatz fesseln; etwa über die Thätigkeit der Schutzengel, oder über die Taufe, nicht etwa über die Notwendigkeit der Taufe — bei dem Worte Erbsünde denken sie doch höchstens an Erbsen —, sondern über die Taufhandlung, aber, wie gesagt, nicht länger als zehn Minuten oder höchstens eine Viertelstunde. Nun sollte ich aber eine volle Stunde ausfüllen oder, um nicht zu lügen, volle 55 Minuten, und da muß ich denn gestehen, daß ich in der letzten Viertelstunde lieber in der Hölle gesessen hätte als bei diesen Engelchen, die mich ärger peinigten, als es Teufelchen gekonnt hätten. Wie oft habe ich da gedacht: Was ist doch so eine moderne Staatsordnung für eine verrückte Einrichtung! Wenn es mir erlaubt wäre, den Kindern bloß ein Geschichtchen zu erzählen und darüber mit ihnen so lange zu plaudern, als sie der Gegenstand fesselt, dann, wenn ich merke, daß sie es satt haben, sie hinauszulassen und eine halbe Stunde auf dem Rasen mit ihnen herum¬ zuspringen, würde davon der Staat oder würde die Kirche einfallen? Oder würde es unser Herrgott übel nehmen? Man denke sich doch einmal Christum schulplanmäßigen Religionsunterricht erteilend, oder solchen inspizirend, oder ins Klassenbuch schreibend: Montag 8 bis 9 Uhr: die Geschichte vom Königischen, oder: Frage 12 bis 18 des Katechismus, oder Lied 123! Muß ich nicht um Verzeihung bitten, daß ich einen so lüsterlichen Gedanken auszusprechen wage? Und was Christo zuzutrauen Gotteslästerung wäre, muß das unbedingt einem Pfarrer oder Lehrer als das allervernünftigste, allerchristlichste und allerstaats- erhaltendste zugemutet werden? Wissen wir doch ungefähr, wie der Heiland Religionsunterricht erteilt hat. Wo er saß, ging und stand, da liefen ihm die Leute nach und sammelten sich um ihn — was würde das heute den Polizeidienern, Schutzmännern und Staatsanwälten für Arbeit machen! —, und da fing er denn an zu reden, mochte es bei einem Gastmahl sein, oder im Hofraum eines Hauses, oder in einer der Hallen des Tempels (heut begeht schon der Laie, der auf dem Kirchhofe sprechen will, eine „Strafthat"), oder auf einem Hügel, oder in einem Nachen am Gestade. Und da standen, saßen und lagen nun die Leute um ihn herum, nicht eben in den gewähltester Anzügen und in nichts weniger als schulmüßiger Haltung, ganz so, wie man es auf den bekannten Bildern sieht. Der eine hörte andächtig zu, weil ihm die Predigt gefiel, ein zweiter war zu einfältig, die Worte zu fassen, die an sein Ohr schlugen, aber die Gestalt und das Antlitz des Meisters fesselten ihn, und so schaute denn auch er hin und that, als ob er andächtig zuhöre. Ein dritter paßte auf, um etwas zu erschnappen, was sich zum Denunziren eigne, ein vierter drückte sich leise hinten herum, ohne Bestrafung wegen Schwänzens fürchten zu müssen, ein fünfter wartete ungeduldig aufs Ende der Predigt, weil er bloß gekommen war, sich von dem Wunderarzt sein lahmes Bein heilen zu lassen, und die Kinder wälzten sich unterdessen im Sande, horchten manchmal ein wenig hin und spielten dann wieder mit einander. Abgefragt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/163>, abgerufen am 29.12.2024.