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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Dichter und Kritiker

genug für einen Redakteur. Denn wir finden noch manches, was den Musen
im Wege steht, und was unbedingt hätte wegbleiben müssen. So die ganz
inhaltlosen Aphorismen S. 11 und S. 182 die trivialen Verse desselben Ver¬
fassers, dessen Name aus Schonung verschwiegen sein mag. Wer von sich
sprechen will, dessen Ich muß doch etwas auszudrücken haben. Sodann:
Jugend ist kein Fehler, aber wer sich am zweiten November in seinen Haus¬
garten stellt an das Grab eines vor vierzehn Tagen gestorbnen Hundes, darüber
einen sentimentalen Aufsatz schreibt und das Ganze "Allerseelen, ein Tagebuch¬
blatt" nennt, der braucht wenigstens nicht zu sagen, daß er schon siebenund¬
zwanzig Jahre alt ist, noch sich vor der Namensunterschrift mit Dr. zu be¬
zeichnen. Denn das klingt fast unglaublich, wenn der Herausgeber nicht die
Freundlichkeit gehabt Hütte, es zum Druck zuzulassen. Ebenso wenig ist ein¬
zusehen, wie sich zwei langstielige Abhandlungen eines vielleicht schon etwas
ältern Doktors: "Die heroische Weltanschauung," öde Kompilationen ans be¬
kannten philosophischen Büchern, in einen Musenalmanach verirren konnten.

Nun ist die Aussicht frei, und nachdem unser Buch etwa um ein Drittel
dünner geworden ist, können wir aus dem Übrigen zu lernen suchen, was es
uns als Zeugnis seiner Zeit kundthut. Wir haben vor uns lyrische Gedichte,
gereimte und solche in freien Versmaßen, Prvscmufsätze und dramatische Szenen.
Es sind meist einzelne Proben, nach denen wir uns das Ganze vorstellen sollen,
aber anders war es nicht zu machen, wenn Beiträge von vielen und vielerlei
gegeben werden sollten, und daß der Band für den ersten Eindruck recht bunt¬
scheckig ausgefallen ist, war nicht wohl zu vermeiden. Am wenigsten wert
sind die lyrischen Gedichte. "Lyrische Gedichte, sagt Otto Gildemeister einmal,
sind nur dann erträglich, wenn sie den Gipfel der Vollendung erreichen, bei
keiner andern Kunstform ist dies in solchem Grade der Fall." Das soll natür¬
lich heißen: erträglich für andre, die sie gedruckt lesen sollen, und die sie ebenso
gut, vielleicht sogar besser selbst hätten machen können. Goethes bekannte
Äußerungen sollte man eigentlich nicht immer noch zu wiederholen brauchen.
Deutsche Verse kann jetzt jeder Deutsche machen; die Sprache dichtet für ihn.
Unter allen Gedichten, die in diesem Almanach gedruckt sind, ist auch nicht ein
einziges wirkliches Lied, nichts, was man sich gesungen oder im Volksmund
weiter lebend denken könnte. Wie hölzern und unoriginell, aus lauter be¬
kannten Reminiscenzen zusammengeleimt, ist z. B. ein nach Gesinnung recht¬
schaffnes und wohlgereimtes (Mark Brandenburg), dessen Eude lautet:

Das wird schwerlich geschehen. Übrigens werden hier durchweg ganz zufällige
Eindrücke und Gedankensplitter in Reime gebracht oder, noch häufiger, in freie


Dichter und Kritiker

genug für einen Redakteur. Denn wir finden noch manches, was den Musen
im Wege steht, und was unbedingt hätte wegbleiben müssen. So die ganz
inhaltlosen Aphorismen S. 11 und S. 182 die trivialen Verse desselben Ver¬
fassers, dessen Name aus Schonung verschwiegen sein mag. Wer von sich
sprechen will, dessen Ich muß doch etwas auszudrücken haben. Sodann:
Jugend ist kein Fehler, aber wer sich am zweiten November in seinen Haus¬
garten stellt an das Grab eines vor vierzehn Tagen gestorbnen Hundes, darüber
einen sentimentalen Aufsatz schreibt und das Ganze „Allerseelen, ein Tagebuch¬
blatt" nennt, der braucht wenigstens nicht zu sagen, daß er schon siebenund¬
zwanzig Jahre alt ist, noch sich vor der Namensunterschrift mit Dr. zu be¬
zeichnen. Denn das klingt fast unglaublich, wenn der Herausgeber nicht die
Freundlichkeit gehabt Hütte, es zum Druck zuzulassen. Ebenso wenig ist ein¬
zusehen, wie sich zwei langstielige Abhandlungen eines vielleicht schon etwas
ältern Doktors: „Die heroische Weltanschauung," öde Kompilationen ans be¬
kannten philosophischen Büchern, in einen Musenalmanach verirren konnten.

Nun ist die Aussicht frei, und nachdem unser Buch etwa um ein Drittel
dünner geworden ist, können wir aus dem Übrigen zu lernen suchen, was es
uns als Zeugnis seiner Zeit kundthut. Wir haben vor uns lyrische Gedichte,
gereimte und solche in freien Versmaßen, Prvscmufsätze und dramatische Szenen.
Es sind meist einzelne Proben, nach denen wir uns das Ganze vorstellen sollen,
aber anders war es nicht zu machen, wenn Beiträge von vielen und vielerlei
gegeben werden sollten, und daß der Band für den ersten Eindruck recht bunt¬
scheckig ausgefallen ist, war nicht wohl zu vermeiden. Am wenigsten wert
sind die lyrischen Gedichte. „Lyrische Gedichte, sagt Otto Gildemeister einmal,
sind nur dann erträglich, wenn sie den Gipfel der Vollendung erreichen, bei
keiner andern Kunstform ist dies in solchem Grade der Fall." Das soll natür¬
lich heißen: erträglich für andre, die sie gedruckt lesen sollen, und die sie ebenso
gut, vielleicht sogar besser selbst hätten machen können. Goethes bekannte
Äußerungen sollte man eigentlich nicht immer noch zu wiederholen brauchen.
Deutsche Verse kann jetzt jeder Deutsche machen; die Sprache dichtet für ihn.
Unter allen Gedichten, die in diesem Almanach gedruckt sind, ist auch nicht ein
einziges wirkliches Lied, nichts, was man sich gesungen oder im Volksmund
weiter lebend denken könnte. Wie hölzern und unoriginell, aus lauter be¬
kannten Reminiscenzen zusammengeleimt, ist z. B. ein nach Gesinnung recht¬
schaffnes und wohlgereimtes (Mark Brandenburg), dessen Eude lautet:

Das wird schwerlich geschehen. Übrigens werden hier durchweg ganz zufällige
Eindrücke und Gedankensplitter in Reime gebracht oder, noch häufiger, in freie


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[0144] Dichter und Kritiker genug für einen Redakteur. Denn wir finden noch manches, was den Musen im Wege steht, und was unbedingt hätte wegbleiben müssen. So die ganz inhaltlosen Aphorismen S. 11 und S. 182 die trivialen Verse desselben Ver¬ fassers, dessen Name aus Schonung verschwiegen sein mag. Wer von sich sprechen will, dessen Ich muß doch etwas auszudrücken haben. Sodann: Jugend ist kein Fehler, aber wer sich am zweiten November in seinen Haus¬ garten stellt an das Grab eines vor vierzehn Tagen gestorbnen Hundes, darüber einen sentimentalen Aufsatz schreibt und das Ganze „Allerseelen, ein Tagebuch¬ blatt" nennt, der braucht wenigstens nicht zu sagen, daß er schon siebenund¬ zwanzig Jahre alt ist, noch sich vor der Namensunterschrift mit Dr. zu be¬ zeichnen. Denn das klingt fast unglaublich, wenn der Herausgeber nicht die Freundlichkeit gehabt Hütte, es zum Druck zuzulassen. Ebenso wenig ist ein¬ zusehen, wie sich zwei langstielige Abhandlungen eines vielleicht schon etwas ältern Doktors: „Die heroische Weltanschauung," öde Kompilationen ans be¬ kannten philosophischen Büchern, in einen Musenalmanach verirren konnten. Nun ist die Aussicht frei, und nachdem unser Buch etwa um ein Drittel dünner geworden ist, können wir aus dem Übrigen zu lernen suchen, was es uns als Zeugnis seiner Zeit kundthut. Wir haben vor uns lyrische Gedichte, gereimte und solche in freien Versmaßen, Prvscmufsätze und dramatische Szenen. Es sind meist einzelne Proben, nach denen wir uns das Ganze vorstellen sollen, aber anders war es nicht zu machen, wenn Beiträge von vielen und vielerlei gegeben werden sollten, und daß der Band für den ersten Eindruck recht bunt¬ scheckig ausgefallen ist, war nicht wohl zu vermeiden. Am wenigsten wert sind die lyrischen Gedichte. „Lyrische Gedichte, sagt Otto Gildemeister einmal, sind nur dann erträglich, wenn sie den Gipfel der Vollendung erreichen, bei keiner andern Kunstform ist dies in solchem Grade der Fall." Das soll natür¬ lich heißen: erträglich für andre, die sie gedruckt lesen sollen, und die sie ebenso gut, vielleicht sogar besser selbst hätten machen können. Goethes bekannte Äußerungen sollte man eigentlich nicht immer noch zu wiederholen brauchen. Deutsche Verse kann jetzt jeder Deutsche machen; die Sprache dichtet für ihn. Unter allen Gedichten, die in diesem Almanach gedruckt sind, ist auch nicht ein einziges wirkliches Lied, nichts, was man sich gesungen oder im Volksmund weiter lebend denken könnte. Wie hölzern und unoriginell, aus lauter be¬ kannten Reminiscenzen zusammengeleimt, ist z. B. ein nach Gesinnung recht¬ schaffnes und wohlgereimtes (Mark Brandenburg), dessen Eude lautet: Das wird schwerlich geschehen. Übrigens werden hier durchweg ganz zufällige Eindrücke und Gedankensplitter in Reime gebracht oder, noch häufiger, in freie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/144>, abgerufen am 24.07.2024.