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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Vererbung

der der Schwanz abgehackt worden ist, schwanzlos geboren würden. Am
wenigsten ist daran zu denken, daß Verstümmelungen des Menschenleibes ver¬
erbt werden könnten, da selbstverständlich die Natur auf die Erhaltung des
Typus Mensch, der das Ziel der ganzen Entwicklung der organischen Schöpfung
bildet, am allersorglichsten bedacht ist. Wir können uns nun recht gut denken,
daß der Kern der Keimzelle der Punkt ist, von dem aus der Prozeß geleitet
und nach Bedarf bald die eine bald die andre Richtung eingeschlagen wird,
und in diesem Sinne finden wir es sehr schön gesagt, wenn Weismann V 790
diesen Kern ein zugleich konservatives und sortschrittliches Element nennt.

Nach dieser Darstellung der Weismannschen Lehre braucht nicht erst be¬
sonders bewiesen zu werden, daß von jener Nichtvererbbarkeit erworbner Eigen¬
schaften, die von einigen Soziologen zur Begründung einer neuen Gesellschafts-
lehre verwendet wird, bei Weismann überhaupt nicht die Rede ist. Gesundheit,
Kraft, Geschicklichkeit, Fleiß, Rechtschaffenheit, Mäßigkeit sind Eigenschaften,
die den Artcharakter des Menschen nicht durchbrechen, sondern nur reiner dar¬
stellen, und sie können daher recht wohl von solchen Personen, die sie durch
Übung erwerben, auf ihre Nachkommen vererbt werden. Was Weismann
leugnet, das ist die Vererbung von Verstümmelungen, von Kräftigungen einzelner
Muskeln, und von erworbnen Instinkten und Fertigkeiten.'") Im ersten Punkte
hat er zweifellos Recht; ein Bein zu wenig kann und darf der Mensch, wenn
das Genus Mensch erhalten bleiben soll, so wenig vererben, wie ein Bein zu
viel. Im zweiten Falle mag er Recht haben, wenn es sich wirklich bloß um
einen einzigen Muskel oder eine kleine Muskelgruppe handelt, vielleicht die
Muskeln des rechten Armes. Dagegen kann durch Übung erworbne allgemeine
Muskelkraft der Eltern uicht ohne Einfluß auf die Muskeln der Kinder bleiben,
denn sie ist nicht ohne sehr kräftige Ernährung möglich, diese aber vermehrt
nach Weismanns eigner Lehre die Determinanten des Keimes, und es wäre
doch mehr als sonderbar, wenn dabei gerade die Muskeldeterminanten zu kurz
kommen sollten. In welchem Grade die erworbnen Instinkte und Fertigkeiten
vererbbar sind, darüber wird bei der Mannichfaltigkeit und Menge der in
Betracht kommenden Erscheinungen wohl noch lange gestritten werden, und
wir würden uns einer Anmaßung schuldig machen, wenn wir ein entscheidendes
Wort sprechen wollten. Wer hat denn bis jetzt die Fälle gezählt, wo die
Fertigkeit im Klavierspiel vererbt wird und wo nicht, und wer vermöchte
genau anzugeben, was an der vererbten Fertigkeit vom Erblasser erworben ist,
und was er selbst von seinen Ahnen überkommen hat? Daß auch der Sohn
des größten Virtuosen die Kunst des Klavierspiels nicht fertig mit auf die
Welt bringt, sondern sie erst erlernen muß, versteht sich von selbst; aber



Ur, 2 und 3 sind besondre Fälle der Vererbbttrkeit von Veränderungen, die durch
Gebrauch oder Nichtgebrnuch von Organen entstanden sind.
Vererbung

der der Schwanz abgehackt worden ist, schwanzlos geboren würden. Am
wenigsten ist daran zu denken, daß Verstümmelungen des Menschenleibes ver¬
erbt werden könnten, da selbstverständlich die Natur auf die Erhaltung des
Typus Mensch, der das Ziel der ganzen Entwicklung der organischen Schöpfung
bildet, am allersorglichsten bedacht ist. Wir können uns nun recht gut denken,
daß der Kern der Keimzelle der Punkt ist, von dem aus der Prozeß geleitet
und nach Bedarf bald die eine bald die andre Richtung eingeschlagen wird,
und in diesem Sinne finden wir es sehr schön gesagt, wenn Weismann V 790
diesen Kern ein zugleich konservatives und sortschrittliches Element nennt.

Nach dieser Darstellung der Weismannschen Lehre braucht nicht erst be¬
sonders bewiesen zu werden, daß von jener Nichtvererbbarkeit erworbner Eigen¬
schaften, die von einigen Soziologen zur Begründung einer neuen Gesellschafts-
lehre verwendet wird, bei Weismann überhaupt nicht die Rede ist. Gesundheit,
Kraft, Geschicklichkeit, Fleiß, Rechtschaffenheit, Mäßigkeit sind Eigenschaften,
die den Artcharakter des Menschen nicht durchbrechen, sondern nur reiner dar¬
stellen, und sie können daher recht wohl von solchen Personen, die sie durch
Übung erwerben, auf ihre Nachkommen vererbt werden. Was Weismann
leugnet, das ist die Vererbung von Verstümmelungen, von Kräftigungen einzelner
Muskeln, und von erworbnen Instinkten und Fertigkeiten.'") Im ersten Punkte
hat er zweifellos Recht; ein Bein zu wenig kann und darf der Mensch, wenn
das Genus Mensch erhalten bleiben soll, so wenig vererben, wie ein Bein zu
viel. Im zweiten Falle mag er Recht haben, wenn es sich wirklich bloß um
einen einzigen Muskel oder eine kleine Muskelgruppe handelt, vielleicht die
Muskeln des rechten Armes. Dagegen kann durch Übung erworbne allgemeine
Muskelkraft der Eltern uicht ohne Einfluß auf die Muskeln der Kinder bleiben,
denn sie ist nicht ohne sehr kräftige Ernährung möglich, diese aber vermehrt
nach Weismanns eigner Lehre die Determinanten des Keimes, und es wäre
doch mehr als sonderbar, wenn dabei gerade die Muskeldeterminanten zu kurz
kommen sollten. In welchem Grade die erworbnen Instinkte und Fertigkeiten
vererbbar sind, darüber wird bei der Mannichfaltigkeit und Menge der in
Betracht kommenden Erscheinungen wohl noch lange gestritten werden, und
wir würden uns einer Anmaßung schuldig machen, wenn wir ein entscheidendes
Wort sprechen wollten. Wer hat denn bis jetzt die Fälle gezählt, wo die
Fertigkeit im Klavierspiel vererbt wird und wo nicht, und wer vermöchte
genau anzugeben, was an der vererbten Fertigkeit vom Erblasser erworben ist,
und was er selbst von seinen Ahnen überkommen hat? Daß auch der Sohn
des größten Virtuosen die Kunst des Klavierspiels nicht fertig mit auf die
Welt bringt, sondern sie erst erlernen muß, versteht sich von selbst; aber



Ur, 2 und 3 sind besondre Fälle der Vererbbttrkeit von Veränderungen, die durch
Gebrauch oder Nichtgebrnuch von Organen entstanden sind.
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[0139] Vererbung der der Schwanz abgehackt worden ist, schwanzlos geboren würden. Am wenigsten ist daran zu denken, daß Verstümmelungen des Menschenleibes ver¬ erbt werden könnten, da selbstverständlich die Natur auf die Erhaltung des Typus Mensch, der das Ziel der ganzen Entwicklung der organischen Schöpfung bildet, am allersorglichsten bedacht ist. Wir können uns nun recht gut denken, daß der Kern der Keimzelle der Punkt ist, von dem aus der Prozeß geleitet und nach Bedarf bald die eine bald die andre Richtung eingeschlagen wird, und in diesem Sinne finden wir es sehr schön gesagt, wenn Weismann V 790 diesen Kern ein zugleich konservatives und sortschrittliches Element nennt. Nach dieser Darstellung der Weismannschen Lehre braucht nicht erst be¬ sonders bewiesen zu werden, daß von jener Nichtvererbbarkeit erworbner Eigen¬ schaften, die von einigen Soziologen zur Begründung einer neuen Gesellschafts- lehre verwendet wird, bei Weismann überhaupt nicht die Rede ist. Gesundheit, Kraft, Geschicklichkeit, Fleiß, Rechtschaffenheit, Mäßigkeit sind Eigenschaften, die den Artcharakter des Menschen nicht durchbrechen, sondern nur reiner dar¬ stellen, und sie können daher recht wohl von solchen Personen, die sie durch Übung erwerben, auf ihre Nachkommen vererbt werden. Was Weismann leugnet, das ist die Vererbung von Verstümmelungen, von Kräftigungen einzelner Muskeln, und von erworbnen Instinkten und Fertigkeiten.'") Im ersten Punkte hat er zweifellos Recht; ein Bein zu wenig kann und darf der Mensch, wenn das Genus Mensch erhalten bleiben soll, so wenig vererben, wie ein Bein zu viel. Im zweiten Falle mag er Recht haben, wenn es sich wirklich bloß um einen einzigen Muskel oder eine kleine Muskelgruppe handelt, vielleicht die Muskeln des rechten Armes. Dagegen kann durch Übung erworbne allgemeine Muskelkraft der Eltern uicht ohne Einfluß auf die Muskeln der Kinder bleiben, denn sie ist nicht ohne sehr kräftige Ernährung möglich, diese aber vermehrt nach Weismanns eigner Lehre die Determinanten des Keimes, und es wäre doch mehr als sonderbar, wenn dabei gerade die Muskeldeterminanten zu kurz kommen sollten. In welchem Grade die erworbnen Instinkte und Fertigkeiten vererbbar sind, darüber wird bei der Mannichfaltigkeit und Menge der in Betracht kommenden Erscheinungen wohl noch lange gestritten werden, und wir würden uns einer Anmaßung schuldig machen, wenn wir ein entscheidendes Wort sprechen wollten. Wer hat denn bis jetzt die Fälle gezählt, wo die Fertigkeit im Klavierspiel vererbt wird und wo nicht, und wer vermöchte genau anzugeben, was an der vererbten Fertigkeit vom Erblasser erworben ist, und was er selbst von seinen Ahnen überkommen hat? Daß auch der Sohn des größten Virtuosen die Kunst des Klavierspiels nicht fertig mit auf die Welt bringt, sondern sie erst erlernen muß, versteht sich von selbst; aber Ur, 2 und 3 sind besondre Fälle der Vererbbttrkeit von Veränderungen, die durch Gebrauch oder Nichtgebrnuch von Organen entstanden sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/139>, abgerufen am 24.07.2024.