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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Vererbung

Wärme, Kälte, Trockenheit oder Feuchtigkeit, Nahrung usw. erleiden, und die
sie durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen, die ursprünglichen Ele¬
mente für die Entstehung der mannichfachen Veränderungen der organischen
Welt und die Entstehung neuer Arten. Ans dem dadurch gelieferten Material
machte dann der Kampf ums Dasein seine Auswahl. Die Veränderungen aber
stellen sich, einerlei auf welche Art, einfach als Folge des Prinzips des
Wachstums dar." Büchner selbst hat vorher den Satz aufgestellt: "Natürliche
Auswahl kann nicht die Ursache, sondern nur die Folge der Veränderungen
oder Alternativen sein, zwischen denen sie auswählt."

Der Streit zwischen den Anhängern Lamarcks und Darwins ist aus der
falschen Grundansicht zu erklären, der sie beide huldigen, daß nämlich die
Natur erklärbar sei, und daß sie rein und vollständig aus dem Zusammen¬
wirken der vermeintlich bekannten mechanischen Kräfte erklärt werden könne,
ohne daß man eine den Prozeß zu einem vorausbestimmten Ziele leitende
Intelligenz anzunehmen brauche. Bei dieser Voraussetzung mußte die schein¬
bare "Launenhaftigkeit" der Vererbungserscheinungen (V 529) freilich Ver¬
wirrung stiften, indem sie sowohl für die Vererbbarkeit erworbner Eigenschaften
wie auch dagegen Beweise liefert. Aber selbstverständlich verfährt die Natur
auch in dieser Hinsicht vollkommen gesetzmäßig. Sie macht von der Ab-
änderuugsfühigkeit der Organismen und von der Vererbbarkeit der Abänderungen
nur da Gebrauch, wo eine neue Gattung von voransbestimmter Form ent¬
stehen soll; ist dann dieses Ziel erreicht, so macht sich die Beharrlichkeit des
Artcharakters geltend, und Abänderungen einzelner Individuen, die den Art¬
charakter durchbrechen, werden von da ab nicht mehr vererbt. Um die Ent¬
stehung der Arten mit einer aus Lamarckischen und Darwinischen Elementen
zusammengesetzten Theorie -- zwar nicht erklären -- aber wenigstens einiger¬
maßen vorstellbar machen zu können, muß man annehmen, daß die Variabilität
und die Vererbung nicht stetig und immer mit derselben Kraft gleichmäßig
wirken, sondern periodisch abwechselnd, sodaß eine Zeit lang die Variabilität
überwiegt, dann aber, wenn der beabsichtigte Typus fertig ist, die Vererbung
ihn festigt und weitere Abänderungen erschwert. Änderungen, die nur Spiel¬
arten zu begründen geeignet siud, können jederzeit vererbt werden, so z. B.
plumpere oder schlankere Formen bei Tieren und Menschen und Färbungen
der Oberhaut oder der Iris. Aber ein sechster Finger an der Menschenhand
wird höchstens ein paar Generationen hindurch vererbt und verschwindet dann
wieder, weil er nur eine den Menschentypus, aus dem sich kein neuer mehr
entwickeln soll, entstellende Monstrosität ist. Aus diesem Grunde versteht es
sich auch ganz von selbst, daß die "erworbne" Eigenschaft der Schwanzlosigkeit
von der Katze nicht vererbt werden kann, und es ist uns unbegreiflich, wie sich
die Gelehrten mit einer solchen Thorheit überhaupt haben herumschlagen
können; glaubt doch sogar Häckel noch daran, daß die Nachkommen einer Katze,


Vererbung

Wärme, Kälte, Trockenheit oder Feuchtigkeit, Nahrung usw. erleiden, und die
sie durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen, die ursprünglichen Ele¬
mente für die Entstehung der mannichfachen Veränderungen der organischen
Welt und die Entstehung neuer Arten. Ans dem dadurch gelieferten Material
machte dann der Kampf ums Dasein seine Auswahl. Die Veränderungen aber
stellen sich, einerlei auf welche Art, einfach als Folge des Prinzips des
Wachstums dar." Büchner selbst hat vorher den Satz aufgestellt: „Natürliche
Auswahl kann nicht die Ursache, sondern nur die Folge der Veränderungen
oder Alternativen sein, zwischen denen sie auswählt."

Der Streit zwischen den Anhängern Lamarcks und Darwins ist aus der
falschen Grundansicht zu erklären, der sie beide huldigen, daß nämlich die
Natur erklärbar sei, und daß sie rein und vollständig aus dem Zusammen¬
wirken der vermeintlich bekannten mechanischen Kräfte erklärt werden könne,
ohne daß man eine den Prozeß zu einem vorausbestimmten Ziele leitende
Intelligenz anzunehmen brauche. Bei dieser Voraussetzung mußte die schein¬
bare „Launenhaftigkeit" der Vererbungserscheinungen (V 529) freilich Ver¬
wirrung stiften, indem sie sowohl für die Vererbbarkeit erworbner Eigenschaften
wie auch dagegen Beweise liefert. Aber selbstverständlich verfährt die Natur
auch in dieser Hinsicht vollkommen gesetzmäßig. Sie macht von der Ab-
änderuugsfühigkeit der Organismen und von der Vererbbarkeit der Abänderungen
nur da Gebrauch, wo eine neue Gattung von voransbestimmter Form ent¬
stehen soll; ist dann dieses Ziel erreicht, so macht sich die Beharrlichkeit des
Artcharakters geltend, und Abänderungen einzelner Individuen, die den Art¬
charakter durchbrechen, werden von da ab nicht mehr vererbt. Um die Ent¬
stehung der Arten mit einer aus Lamarckischen und Darwinischen Elementen
zusammengesetzten Theorie — zwar nicht erklären — aber wenigstens einiger¬
maßen vorstellbar machen zu können, muß man annehmen, daß die Variabilität
und die Vererbung nicht stetig und immer mit derselben Kraft gleichmäßig
wirken, sondern periodisch abwechselnd, sodaß eine Zeit lang die Variabilität
überwiegt, dann aber, wenn der beabsichtigte Typus fertig ist, die Vererbung
ihn festigt und weitere Abänderungen erschwert. Änderungen, die nur Spiel¬
arten zu begründen geeignet siud, können jederzeit vererbt werden, so z. B.
plumpere oder schlankere Formen bei Tieren und Menschen und Färbungen
der Oberhaut oder der Iris. Aber ein sechster Finger an der Menschenhand
wird höchstens ein paar Generationen hindurch vererbt und verschwindet dann
wieder, weil er nur eine den Menschentypus, aus dem sich kein neuer mehr
entwickeln soll, entstellende Monstrosität ist. Aus diesem Grunde versteht es
sich auch ganz von selbst, daß die „erworbne" Eigenschaft der Schwanzlosigkeit
von der Katze nicht vererbt werden kann, und es ist uns unbegreiflich, wie sich
die Gelehrten mit einer solchen Thorheit überhaupt haben herumschlagen
können; glaubt doch sogar Häckel noch daran, daß die Nachkommen einer Katze,


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[0138] Vererbung Wärme, Kälte, Trockenheit oder Feuchtigkeit, Nahrung usw. erleiden, und die sie durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen, die ursprünglichen Ele¬ mente für die Entstehung der mannichfachen Veränderungen der organischen Welt und die Entstehung neuer Arten. Ans dem dadurch gelieferten Material machte dann der Kampf ums Dasein seine Auswahl. Die Veränderungen aber stellen sich, einerlei auf welche Art, einfach als Folge des Prinzips des Wachstums dar." Büchner selbst hat vorher den Satz aufgestellt: „Natürliche Auswahl kann nicht die Ursache, sondern nur die Folge der Veränderungen oder Alternativen sein, zwischen denen sie auswählt." Der Streit zwischen den Anhängern Lamarcks und Darwins ist aus der falschen Grundansicht zu erklären, der sie beide huldigen, daß nämlich die Natur erklärbar sei, und daß sie rein und vollständig aus dem Zusammen¬ wirken der vermeintlich bekannten mechanischen Kräfte erklärt werden könne, ohne daß man eine den Prozeß zu einem vorausbestimmten Ziele leitende Intelligenz anzunehmen brauche. Bei dieser Voraussetzung mußte die schein¬ bare „Launenhaftigkeit" der Vererbungserscheinungen (V 529) freilich Ver¬ wirrung stiften, indem sie sowohl für die Vererbbarkeit erworbner Eigenschaften wie auch dagegen Beweise liefert. Aber selbstverständlich verfährt die Natur auch in dieser Hinsicht vollkommen gesetzmäßig. Sie macht von der Ab- änderuugsfühigkeit der Organismen und von der Vererbbarkeit der Abänderungen nur da Gebrauch, wo eine neue Gattung von voransbestimmter Form ent¬ stehen soll; ist dann dieses Ziel erreicht, so macht sich die Beharrlichkeit des Artcharakters geltend, und Abänderungen einzelner Individuen, die den Art¬ charakter durchbrechen, werden von da ab nicht mehr vererbt. Um die Ent¬ stehung der Arten mit einer aus Lamarckischen und Darwinischen Elementen zusammengesetzten Theorie — zwar nicht erklären — aber wenigstens einiger¬ maßen vorstellbar machen zu können, muß man annehmen, daß die Variabilität und die Vererbung nicht stetig und immer mit derselben Kraft gleichmäßig wirken, sondern periodisch abwechselnd, sodaß eine Zeit lang die Variabilität überwiegt, dann aber, wenn der beabsichtigte Typus fertig ist, die Vererbung ihn festigt und weitere Abänderungen erschwert. Änderungen, die nur Spiel¬ arten zu begründen geeignet siud, können jederzeit vererbt werden, so z. B. plumpere oder schlankere Formen bei Tieren und Menschen und Färbungen der Oberhaut oder der Iris. Aber ein sechster Finger an der Menschenhand wird höchstens ein paar Generationen hindurch vererbt und verschwindet dann wieder, weil er nur eine den Menschentypus, aus dem sich kein neuer mehr entwickeln soll, entstellende Monstrosität ist. Aus diesem Grunde versteht es sich auch ganz von selbst, daß die „erworbne" Eigenschaft der Schwanzlosigkeit von der Katze nicht vererbt werden kann, und es ist uns unbegreiflich, wie sich die Gelehrten mit einer solchen Thorheit überhaupt haben herumschlagen können; glaubt doch sogar Häckel noch daran, daß die Nachkommen einer Katze,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/138>, abgerufen am 24.07.2024.