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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Vererbung

zur Erklärung der Thatsachen bedürfen. "Auf den ersten Blick sieht es nun
freilich ganz so aus, und es scheint Tollkühnheit, auch ohne sie auskommen zu
wollen. . . . Wie sollten wir die Instinkte als "vererbte Gewohnheiten" be¬
greifen können, ohne die Häufung ihrer Anfangsstufen durch Vererbung der
im Einzelleben eingeübten Gewohnheiten anzunehmen? Ich will nun den Versuch
wagen, zu zeigen, daß wir doch auch durch diese Fälle -- soweit sie wenigstens
in ihrem Thatbestand klar und unzweifelhaft vorliegen -- nicht zur Annahme
der Vererbung erworbner Charaktere gezwungen werden." Im Vorwort zu
dem Aufsatze über die Zahl der Nichtungskörper und über ihre Bedeutung für
die Vererbung schreibt Weismann (V 399): "Gewiß kann es sich auch hier
nur um den Versuch einer Erklärung handeln, um eine Hypothese, nicht um
das unanfechtbare Resultat des mathematischen Kalküls." Ferner: "Die ganze
Frage der Kernumwandlung ist in Bezug auf die Einzelheiten bei den männ¬
lichen Keimzellen noch nicht spruchreif" (V 454). "Sobald die Thatsachen
uns zwingen -- und wie mir scheint, thun sie das --, die Annahme einer
Vererbung erworbner Eigenschaften zu verwerfen, so bleibt zur Erklärung der
Artumwcmdlnng nur noch ein Prinzip übrig: die direkte Keimesabänderung,*)
mag man sich nun diese wie immer zu stände gekommen und wie immer zu
zweckmäßigen Resultaten geleitet denken. Sicherlich wird nun dadurch unsre
Aufgabe, den Hergang dieser Umwandlungen zu begreifen, nicht erleichtert,
vielmehr ganz erheblich erschwert" (V 468). Auf Seite 470 meint er, eigent¬
lich liege uicht ihm die Beweislast ob, sondern seinen Gegnern. "Daß auch
erworbne Eigenschaften vererbt werden, ist der Satz, den sie verteidigen und
den sie zu erweisen hätten, denn daß er bisher fbis 1888^ als eine selbstver¬
ständliche Wahrheit von sast allen angenommen und nur von ganz wenigen,
wie His, Dn Bois-Reymond und Pflüger in Zweifel gezogen wurde, kann
doch den Sachverhalt nicht umkehren und die Hypothese von der Vererbung
erworbner Eigenschaften zur Thatsache erheben." Wer den Sachverhalt umkehrt,
das ist Weismann, indem er eine des Beweises bedürftige Hypothese nennt,
was seine Gegner in der Natur als Thatsache wahrgenommen zu haben glauben.
Nachdem er nachgewiesen hat, daß die Fälle einer Vererbung erlittener Ver¬
letzungen, die seine Gegner angeführt hatten, die Prüfung nicht bestünden,
schließt er die Abhandlung darüber mit einer Betrachtung, worin es heißt
(V 545): "Ich brauche nicht besonders zu sagen, daß mit einer unnachsicht-
licher Verwerfung einer Vererbung von Verletzungen keineswegs nun auch die
Frage nach der Vererbung erworbner Eigenschaften überhaupt schon entschieden
ist. Wenn auch ich selbst mich immer mehr in der Ansicht bestärkt finde, daß
eine solche nicht existirt, und daß wir die Erscheinungen, die uns die Umwand¬
lung der Arten darbieten ^darbietet?!, ohne die Hilfe dieser Hypothese zu er-



Hier spielt Weismann mit Worten. Wenn ein äußerer Einfluß, der den Körper eines
Tieres ändert, auch seine Keimsubstanz abändert, die die Änderung auf die Nachkommen über¬
trägt, so ist das ja eben die Vererbung erworbner Eigenschaften.
Vererbung

zur Erklärung der Thatsachen bedürfen. „Auf den ersten Blick sieht es nun
freilich ganz so aus, und es scheint Tollkühnheit, auch ohne sie auskommen zu
wollen. . . . Wie sollten wir die Instinkte als „vererbte Gewohnheiten" be¬
greifen können, ohne die Häufung ihrer Anfangsstufen durch Vererbung der
im Einzelleben eingeübten Gewohnheiten anzunehmen? Ich will nun den Versuch
wagen, zu zeigen, daß wir doch auch durch diese Fälle — soweit sie wenigstens
in ihrem Thatbestand klar und unzweifelhaft vorliegen — nicht zur Annahme
der Vererbung erworbner Charaktere gezwungen werden." Im Vorwort zu
dem Aufsatze über die Zahl der Nichtungskörper und über ihre Bedeutung für
die Vererbung schreibt Weismann (V 399): „Gewiß kann es sich auch hier
nur um den Versuch einer Erklärung handeln, um eine Hypothese, nicht um
das unanfechtbare Resultat des mathematischen Kalküls." Ferner: „Die ganze
Frage der Kernumwandlung ist in Bezug auf die Einzelheiten bei den männ¬
lichen Keimzellen noch nicht spruchreif" (V 454). „Sobald die Thatsachen
uns zwingen — und wie mir scheint, thun sie das —, die Annahme einer
Vererbung erworbner Eigenschaften zu verwerfen, so bleibt zur Erklärung der
Artumwcmdlnng nur noch ein Prinzip übrig: die direkte Keimesabänderung,*)
mag man sich nun diese wie immer zu stände gekommen und wie immer zu
zweckmäßigen Resultaten geleitet denken. Sicherlich wird nun dadurch unsre
Aufgabe, den Hergang dieser Umwandlungen zu begreifen, nicht erleichtert,
vielmehr ganz erheblich erschwert" (V 468). Auf Seite 470 meint er, eigent¬
lich liege uicht ihm die Beweislast ob, sondern seinen Gegnern. „Daß auch
erworbne Eigenschaften vererbt werden, ist der Satz, den sie verteidigen und
den sie zu erweisen hätten, denn daß er bisher fbis 1888^ als eine selbstver¬
ständliche Wahrheit von sast allen angenommen und nur von ganz wenigen,
wie His, Dn Bois-Reymond und Pflüger in Zweifel gezogen wurde, kann
doch den Sachverhalt nicht umkehren und die Hypothese von der Vererbung
erworbner Eigenschaften zur Thatsache erheben." Wer den Sachverhalt umkehrt,
das ist Weismann, indem er eine des Beweises bedürftige Hypothese nennt,
was seine Gegner in der Natur als Thatsache wahrgenommen zu haben glauben.
Nachdem er nachgewiesen hat, daß die Fälle einer Vererbung erlittener Ver¬
letzungen, die seine Gegner angeführt hatten, die Prüfung nicht bestünden,
schließt er die Abhandlung darüber mit einer Betrachtung, worin es heißt
(V 545): „Ich brauche nicht besonders zu sagen, daß mit einer unnachsicht-
licher Verwerfung einer Vererbung von Verletzungen keineswegs nun auch die
Frage nach der Vererbung erworbner Eigenschaften überhaupt schon entschieden
ist. Wenn auch ich selbst mich immer mehr in der Ansicht bestärkt finde, daß
eine solche nicht existirt, und daß wir die Erscheinungen, die uns die Umwand¬
lung der Arten darbieten ^darbietet?!, ohne die Hilfe dieser Hypothese zu er-



Hier spielt Weismann mit Worten. Wenn ein äußerer Einfluß, der den Körper eines
Tieres ändert, auch seine Keimsubstanz abändert, die die Änderung auf die Nachkommen über¬
trägt, so ist das ja eben die Vererbung erworbner Eigenschaften.
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[0131] Vererbung zur Erklärung der Thatsachen bedürfen. „Auf den ersten Blick sieht es nun freilich ganz so aus, und es scheint Tollkühnheit, auch ohne sie auskommen zu wollen. . . . Wie sollten wir die Instinkte als „vererbte Gewohnheiten" be¬ greifen können, ohne die Häufung ihrer Anfangsstufen durch Vererbung der im Einzelleben eingeübten Gewohnheiten anzunehmen? Ich will nun den Versuch wagen, zu zeigen, daß wir doch auch durch diese Fälle — soweit sie wenigstens in ihrem Thatbestand klar und unzweifelhaft vorliegen — nicht zur Annahme der Vererbung erworbner Charaktere gezwungen werden." Im Vorwort zu dem Aufsatze über die Zahl der Nichtungskörper und über ihre Bedeutung für die Vererbung schreibt Weismann (V 399): „Gewiß kann es sich auch hier nur um den Versuch einer Erklärung handeln, um eine Hypothese, nicht um das unanfechtbare Resultat des mathematischen Kalküls." Ferner: „Die ganze Frage der Kernumwandlung ist in Bezug auf die Einzelheiten bei den männ¬ lichen Keimzellen noch nicht spruchreif" (V 454). „Sobald die Thatsachen uns zwingen — und wie mir scheint, thun sie das —, die Annahme einer Vererbung erworbner Eigenschaften zu verwerfen, so bleibt zur Erklärung der Artumwcmdlnng nur noch ein Prinzip übrig: die direkte Keimesabänderung,*) mag man sich nun diese wie immer zu stände gekommen und wie immer zu zweckmäßigen Resultaten geleitet denken. Sicherlich wird nun dadurch unsre Aufgabe, den Hergang dieser Umwandlungen zu begreifen, nicht erleichtert, vielmehr ganz erheblich erschwert" (V 468). Auf Seite 470 meint er, eigent¬ lich liege uicht ihm die Beweislast ob, sondern seinen Gegnern. „Daß auch erworbne Eigenschaften vererbt werden, ist der Satz, den sie verteidigen und den sie zu erweisen hätten, denn daß er bisher fbis 1888^ als eine selbstver¬ ständliche Wahrheit von sast allen angenommen und nur von ganz wenigen, wie His, Dn Bois-Reymond und Pflüger in Zweifel gezogen wurde, kann doch den Sachverhalt nicht umkehren und die Hypothese von der Vererbung erworbner Eigenschaften zur Thatsache erheben." Wer den Sachverhalt umkehrt, das ist Weismann, indem er eine des Beweises bedürftige Hypothese nennt, was seine Gegner in der Natur als Thatsache wahrgenommen zu haben glauben. Nachdem er nachgewiesen hat, daß die Fälle einer Vererbung erlittener Ver¬ letzungen, die seine Gegner angeführt hatten, die Prüfung nicht bestünden, schließt er die Abhandlung darüber mit einer Betrachtung, worin es heißt (V 545): „Ich brauche nicht besonders zu sagen, daß mit einer unnachsicht- licher Verwerfung einer Vererbung von Verletzungen keineswegs nun auch die Frage nach der Vererbung erworbner Eigenschaften überhaupt schon entschieden ist. Wenn auch ich selbst mich immer mehr in der Ansicht bestärkt finde, daß eine solche nicht existirt, und daß wir die Erscheinungen, die uns die Umwand¬ lung der Arten darbieten ^darbietet?!, ohne die Hilfe dieser Hypothese zu er- Hier spielt Weismann mit Worten. Wenn ein äußerer Einfluß, der den Körper eines Tieres ändert, auch seine Keimsubstanz abändert, die die Änderung auf die Nachkommen über¬ trägt, so ist das ja eben die Vererbung erworbner Eigenschaften.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/131>, abgerufen am 29.06.2024.