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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Lazzaroni

und dem Straßenleben entzog, sie beschäftigte, pflegte und erzog, erwuchs bald
eine dreiklassige Volksschule, und jetzt soll das Werk durch eine höhere Bürger¬
schule gekrönt werden. Es ist ein herzerfreuender Anblick: diese saubere, glatt¬
gescheitelte Kinderschar, diese Menge kluger und schöner Kindcrgesichter, die
man da aus dem entstellenden Schmutz Neapels hcrausgcwaschen hat. Freudig
und willig gewöhnen sie sich an Thätigkeit, Ordnung und Sauberkeit, die
Größern besorgen die Reinigung, das Waschen, Kochen und Nähen, und die
Lehrerinnen sind größtenteils schon ehemalige Schülerinnen der Anstalt.

Die Bemühungen der modernen Regierung, die Nation materiell durch
Steigerung der Verkehrsmittel, industrielle Unternehmungen und dergleichen zu
heben, haben nur geringen Erfolg. Eine tüchtige Volksschule und Volkserziehung
muß in die Seelen neuer Geschlechter neue Anschauungen von Menschen¬
würde und Menschenpflichten pflanzen. Erst wenn solche Anschauungen aus
der Tiefe des Volkes heraus nach Verwirklichung und Bethätigung ringen
werden, erst dann wird ein thätiger Mittelstand heranwachsen und das
Lazzaronitum einschränken. Erst dann wird der Schlendrian weichen, der jetzt
den nationalen Hoffnungen und Bestrebungen der Bessern die Spitze abbricht,
der den Industriebetrieb lahmt, der den Ackerbau noch immer mit den primi¬
tiven Mitteln der Vorzeit betreibt, der den Wein nicht auf Fässer ziehen und
lagern lernt, der weite fruchtbare Landstrecken der Malaria und der Versumpfung
überläßt. Auf den modernen öffentlichen Denkmälern prangt noch immer in
großen Lettern das 8euiitu8 xoxuIuZauo L,cuug,nu8. Der Gebrauch dieser
stolzen Worte kokettirt mit dem Ruhme einer Vergangenheit, von deren poli¬
tischer Macht Italien nichts ererbt hat. Dieses Zehren von der Vergangenheit
ist aber auch tragisch, wenn man nicht erkennt, daß jene Worte schon vor
zwei Jahrtausenden eine Posse waren, und daß das Lazzaronitum eine Erb¬
schaft des stolzen Nömertums ist. Dieses Übel ist nur zu heilen durch
einen völligen Bruch mit der Vergangenheit und durch eine Reform mit allen
Hebeln der heutigen Kultur. Italien muß lernen alle die brachliegenden
Schätze des Landes und alle brachliegenden Kräfte des Volkes im Wettkampf
der Nationen einzusetzen. Seine politischen Erfolge haben dem Volke zum
erstenmal zum Bewußtsein gebracht, welche Kraft in ihm verborgen schlummert.
Auf die Kraftentfaltung in jenen Siegestagen stützt sich die Hoffnung der
Besten und ihr Glaube an eine schönere Zukunft Italiens.




Grenzboten III 1897!(i
Lazzaroni

und dem Straßenleben entzog, sie beschäftigte, pflegte und erzog, erwuchs bald
eine dreiklassige Volksschule, und jetzt soll das Werk durch eine höhere Bürger¬
schule gekrönt werden. Es ist ein herzerfreuender Anblick: diese saubere, glatt¬
gescheitelte Kinderschar, diese Menge kluger und schöner Kindcrgesichter, die
man da aus dem entstellenden Schmutz Neapels hcrausgcwaschen hat. Freudig
und willig gewöhnen sie sich an Thätigkeit, Ordnung und Sauberkeit, die
Größern besorgen die Reinigung, das Waschen, Kochen und Nähen, und die
Lehrerinnen sind größtenteils schon ehemalige Schülerinnen der Anstalt.

Die Bemühungen der modernen Regierung, die Nation materiell durch
Steigerung der Verkehrsmittel, industrielle Unternehmungen und dergleichen zu
heben, haben nur geringen Erfolg. Eine tüchtige Volksschule und Volkserziehung
muß in die Seelen neuer Geschlechter neue Anschauungen von Menschen¬
würde und Menschenpflichten pflanzen. Erst wenn solche Anschauungen aus
der Tiefe des Volkes heraus nach Verwirklichung und Bethätigung ringen
werden, erst dann wird ein thätiger Mittelstand heranwachsen und das
Lazzaronitum einschränken. Erst dann wird der Schlendrian weichen, der jetzt
den nationalen Hoffnungen und Bestrebungen der Bessern die Spitze abbricht,
der den Industriebetrieb lahmt, der den Ackerbau noch immer mit den primi¬
tiven Mitteln der Vorzeit betreibt, der den Wein nicht auf Fässer ziehen und
lagern lernt, der weite fruchtbare Landstrecken der Malaria und der Versumpfung
überläßt. Auf den modernen öffentlichen Denkmälern prangt noch immer in
großen Lettern das 8euiitu8 xoxuIuZauo L,cuug,nu8. Der Gebrauch dieser
stolzen Worte kokettirt mit dem Ruhme einer Vergangenheit, von deren poli¬
tischer Macht Italien nichts ererbt hat. Dieses Zehren von der Vergangenheit
ist aber auch tragisch, wenn man nicht erkennt, daß jene Worte schon vor
zwei Jahrtausenden eine Posse waren, und daß das Lazzaronitum eine Erb¬
schaft des stolzen Nömertums ist. Dieses Übel ist nur zu heilen durch
einen völligen Bruch mit der Vergangenheit und durch eine Reform mit allen
Hebeln der heutigen Kultur. Italien muß lernen alle die brachliegenden
Schätze des Landes und alle brachliegenden Kräfte des Volkes im Wettkampf
der Nationen einzusetzen. Seine politischen Erfolge haben dem Volke zum
erstenmal zum Bewußtsein gebracht, welche Kraft in ihm verborgen schlummert.
Auf die Kraftentfaltung in jenen Siegestagen stützt sich die Hoffnung der
Besten und ihr Glaube an eine schönere Zukunft Italiens.




Grenzboten III 1897!(i
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[0129] Lazzaroni und dem Straßenleben entzog, sie beschäftigte, pflegte und erzog, erwuchs bald eine dreiklassige Volksschule, und jetzt soll das Werk durch eine höhere Bürger¬ schule gekrönt werden. Es ist ein herzerfreuender Anblick: diese saubere, glatt¬ gescheitelte Kinderschar, diese Menge kluger und schöner Kindcrgesichter, die man da aus dem entstellenden Schmutz Neapels hcrausgcwaschen hat. Freudig und willig gewöhnen sie sich an Thätigkeit, Ordnung und Sauberkeit, die Größern besorgen die Reinigung, das Waschen, Kochen und Nähen, und die Lehrerinnen sind größtenteils schon ehemalige Schülerinnen der Anstalt. Die Bemühungen der modernen Regierung, die Nation materiell durch Steigerung der Verkehrsmittel, industrielle Unternehmungen und dergleichen zu heben, haben nur geringen Erfolg. Eine tüchtige Volksschule und Volkserziehung muß in die Seelen neuer Geschlechter neue Anschauungen von Menschen¬ würde und Menschenpflichten pflanzen. Erst wenn solche Anschauungen aus der Tiefe des Volkes heraus nach Verwirklichung und Bethätigung ringen werden, erst dann wird ein thätiger Mittelstand heranwachsen und das Lazzaronitum einschränken. Erst dann wird der Schlendrian weichen, der jetzt den nationalen Hoffnungen und Bestrebungen der Bessern die Spitze abbricht, der den Industriebetrieb lahmt, der den Ackerbau noch immer mit den primi¬ tiven Mitteln der Vorzeit betreibt, der den Wein nicht auf Fässer ziehen und lagern lernt, der weite fruchtbare Landstrecken der Malaria und der Versumpfung überläßt. Auf den modernen öffentlichen Denkmälern prangt noch immer in großen Lettern das 8euiitu8 xoxuIuZauo L,cuug,nu8. Der Gebrauch dieser stolzen Worte kokettirt mit dem Ruhme einer Vergangenheit, von deren poli¬ tischer Macht Italien nichts ererbt hat. Dieses Zehren von der Vergangenheit ist aber auch tragisch, wenn man nicht erkennt, daß jene Worte schon vor zwei Jahrtausenden eine Posse waren, und daß das Lazzaronitum eine Erb¬ schaft des stolzen Nömertums ist. Dieses Übel ist nur zu heilen durch einen völligen Bruch mit der Vergangenheit und durch eine Reform mit allen Hebeln der heutigen Kultur. Italien muß lernen alle die brachliegenden Schätze des Landes und alle brachliegenden Kräfte des Volkes im Wettkampf der Nationen einzusetzen. Seine politischen Erfolge haben dem Volke zum erstenmal zum Bewußtsein gebracht, welche Kraft in ihm verborgen schlummert. Auf die Kraftentfaltung in jenen Siegestagen stützt sich die Hoffnung der Besten und ihr Glaube an eine schönere Zukunft Italiens. Grenzboten III 1897!(i

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/129>, abgerufen am 29.06.2024.