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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Religion und Geschichte

das Winzermesser, das den Weinstock reinigen soll, nicht den Weinstock ab¬
schneiden. Lebendige Religion wird zuletzt aus jeder noch so gefährdenden
Kritik Gewinn ziehen.

Nun steht es aber thatsächlich nicht so gefährlich. Die protestantische
Theologie von heute ist ja ihrem Grundzuge nach Geschichtswissenschaft. Das
hat viel Unbequemes für die an der Überlieferung hängende Gemeinde.
Dennoch hat diese vielfach beargwohnte historische, also kritische Theologie
der Gemeinde bereits die größten Dienste gethan. So unwillkommen das
Leben Jesu von Strauß den christlichen Kreisen war, so viel Dank sind sie
ihm schuldig. Wir sind ganz anders in die Kenntnis der Ursprünge des
Christentums und in das Verständnis seines Stifters eingedrungen; ohne die
kritische Arbeit wäre das nicht möglich gewesen.

Eben jetzt sind wir an einem Punkte der wissenschaftlichen Arbeit an¬
gelangt, wo die Überlieferung durch die an ihr geübte Kritik als merkwürdig
gerechtfertigt erscheint. Professor Harnack sagt im Borworte seiner kürzlich
erschienenen "Chronologie der altchristlichen Litteratur bis Eusebius" über den
heutigen Stand der neutestnmentlichen Quellenforschung: "Es hat eine Zeit
gegeben -- ja das große Publikum befindet sich noch in ihr --, in der man
die älteste christliche Litteratur einschließlich des Neuen Testaments als ein
Gewebe von Täuschungen und Fälschungen beurteilen zu müssen meinte. Diese
Zeit ist vorüber. . . . Die älteste Litteratur der Kirche ist in den Hauptpunkten
und in den meisten Einzelheiten, literarhistorisch betrachtet, wahrhaftig und
zuverlässig. Im ganzen Neuen Testament giebt es wahrscheinlich nur eine
einzige Schrift, die als pseudonhm im strengsten Sinne des Wortes zu be¬
zeichnen ist, der zweite Petrusbrief. . . . In der Geschichte, nicht in der
Litteraturkritik, liegen die Probleme der Zukunft."

Man sieht, die historische Kritik wird von unsern Gelehrten nicht im
Dienste einer maßlosen Auflösung geübt. Die Untersuchungen, die sich als
notwendig oder nützlich empfehlen, wollen gemacht sein, und sie werden ge¬
macht in dem Vertrauen, daß die Wahrheit und das Leben von aller ernsten
Wissenschaft Gewinn haben werden.

In dem Maße aber, als die Religion als geschichtliche Erscheinung be¬
griffen wird, muß auch der moderne Mensch zu einer bessern Würdigung der
Religion gelangen. Man wird lernen, was ein jüngerer Theolog so aus¬
drückt: "Die Religionen sind in erster Linie reine Thatsachen und spotten
aller Theorien. Nur sie selber geben die wesentliche Auskunft über sich."

Nicht als ob je sich alles in den Religionen oder mich mir in einer
einzigen als Licht und Wahrheit herausstellen könnte. Bekannt sind die Verse
Goethes:


Religion und Geschichte

das Winzermesser, das den Weinstock reinigen soll, nicht den Weinstock ab¬
schneiden. Lebendige Religion wird zuletzt aus jeder noch so gefährdenden
Kritik Gewinn ziehen.

Nun steht es aber thatsächlich nicht so gefährlich. Die protestantische
Theologie von heute ist ja ihrem Grundzuge nach Geschichtswissenschaft. Das
hat viel Unbequemes für die an der Überlieferung hängende Gemeinde.
Dennoch hat diese vielfach beargwohnte historische, also kritische Theologie
der Gemeinde bereits die größten Dienste gethan. So unwillkommen das
Leben Jesu von Strauß den christlichen Kreisen war, so viel Dank sind sie
ihm schuldig. Wir sind ganz anders in die Kenntnis der Ursprünge des
Christentums und in das Verständnis seines Stifters eingedrungen; ohne die
kritische Arbeit wäre das nicht möglich gewesen.

Eben jetzt sind wir an einem Punkte der wissenschaftlichen Arbeit an¬
gelangt, wo die Überlieferung durch die an ihr geübte Kritik als merkwürdig
gerechtfertigt erscheint. Professor Harnack sagt im Borworte seiner kürzlich
erschienenen „Chronologie der altchristlichen Litteratur bis Eusebius" über den
heutigen Stand der neutestnmentlichen Quellenforschung: „Es hat eine Zeit
gegeben — ja das große Publikum befindet sich noch in ihr —, in der man
die älteste christliche Litteratur einschließlich des Neuen Testaments als ein
Gewebe von Täuschungen und Fälschungen beurteilen zu müssen meinte. Diese
Zeit ist vorüber. . . . Die älteste Litteratur der Kirche ist in den Hauptpunkten
und in den meisten Einzelheiten, literarhistorisch betrachtet, wahrhaftig und
zuverlässig. Im ganzen Neuen Testament giebt es wahrscheinlich nur eine
einzige Schrift, die als pseudonhm im strengsten Sinne des Wortes zu be¬
zeichnen ist, der zweite Petrusbrief. . . . In der Geschichte, nicht in der
Litteraturkritik, liegen die Probleme der Zukunft."

Man sieht, die historische Kritik wird von unsern Gelehrten nicht im
Dienste einer maßlosen Auflösung geübt. Die Untersuchungen, die sich als
notwendig oder nützlich empfehlen, wollen gemacht sein, und sie werden ge¬
macht in dem Vertrauen, daß die Wahrheit und das Leben von aller ernsten
Wissenschaft Gewinn haben werden.

In dem Maße aber, als die Religion als geschichtliche Erscheinung be¬
griffen wird, muß auch der moderne Mensch zu einer bessern Würdigung der
Religion gelangen. Man wird lernen, was ein jüngerer Theolog so aus¬
drückt: „Die Religionen sind in erster Linie reine Thatsachen und spotten
aller Theorien. Nur sie selber geben die wesentliche Auskunft über sich."

Nicht als ob je sich alles in den Religionen oder mich mir in einer
einzigen als Licht und Wahrheit herausstellen könnte. Bekannt sind die Verse
Goethes:


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[0631] Religion und Geschichte das Winzermesser, das den Weinstock reinigen soll, nicht den Weinstock ab¬ schneiden. Lebendige Religion wird zuletzt aus jeder noch so gefährdenden Kritik Gewinn ziehen. Nun steht es aber thatsächlich nicht so gefährlich. Die protestantische Theologie von heute ist ja ihrem Grundzuge nach Geschichtswissenschaft. Das hat viel Unbequemes für die an der Überlieferung hängende Gemeinde. Dennoch hat diese vielfach beargwohnte historische, also kritische Theologie der Gemeinde bereits die größten Dienste gethan. So unwillkommen das Leben Jesu von Strauß den christlichen Kreisen war, so viel Dank sind sie ihm schuldig. Wir sind ganz anders in die Kenntnis der Ursprünge des Christentums und in das Verständnis seines Stifters eingedrungen; ohne die kritische Arbeit wäre das nicht möglich gewesen. Eben jetzt sind wir an einem Punkte der wissenschaftlichen Arbeit an¬ gelangt, wo die Überlieferung durch die an ihr geübte Kritik als merkwürdig gerechtfertigt erscheint. Professor Harnack sagt im Borworte seiner kürzlich erschienenen „Chronologie der altchristlichen Litteratur bis Eusebius" über den heutigen Stand der neutestnmentlichen Quellenforschung: „Es hat eine Zeit gegeben — ja das große Publikum befindet sich noch in ihr —, in der man die älteste christliche Litteratur einschließlich des Neuen Testaments als ein Gewebe von Täuschungen und Fälschungen beurteilen zu müssen meinte. Diese Zeit ist vorüber. . . . Die älteste Litteratur der Kirche ist in den Hauptpunkten und in den meisten Einzelheiten, literarhistorisch betrachtet, wahrhaftig und zuverlässig. Im ganzen Neuen Testament giebt es wahrscheinlich nur eine einzige Schrift, die als pseudonhm im strengsten Sinne des Wortes zu be¬ zeichnen ist, der zweite Petrusbrief. . . . In der Geschichte, nicht in der Litteraturkritik, liegen die Probleme der Zukunft." Man sieht, die historische Kritik wird von unsern Gelehrten nicht im Dienste einer maßlosen Auflösung geübt. Die Untersuchungen, die sich als notwendig oder nützlich empfehlen, wollen gemacht sein, und sie werden ge¬ macht in dem Vertrauen, daß die Wahrheit und das Leben von aller ernsten Wissenschaft Gewinn haben werden. In dem Maße aber, als die Religion als geschichtliche Erscheinung be¬ griffen wird, muß auch der moderne Mensch zu einer bessern Würdigung der Religion gelangen. Man wird lernen, was ein jüngerer Theolog so aus¬ drückt: „Die Religionen sind in erster Linie reine Thatsachen und spotten aller Theorien. Nur sie selber geben die wesentliche Auskunft über sich." Nicht als ob je sich alles in den Religionen oder mich mir in einer einzigen als Licht und Wahrheit herausstellen könnte. Bekannt sind die Verse Goethes:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/631>, abgerufen am 23.07.2024.