Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Religion und Geschichte

gehen waren. Wir wollen heute Kulturgeschichte, Geschichte der herrschenden
Zustände, des Handels und Verkehrs, der Ernährung und Gütererzeugung,
und wollen die Helden auf dem Hintergründe des jeweiligen "Milieu" sehen.
Dennoch bleibt in der Weltgeschichte das Interessante die werdende und sich
entfaltende, unterliegende und sieghafte Menschcnpersönlichkeit. Die Lebens¬
voraussetzungen eines Genius mögen noch so merkwürdig und beziehungsreich
sein, es erklärt sein Aufflammen nicht, sondern der Genius selbst bleibt das
Merkwürdigere, das Wichtige, Vorwärtsbewegcnde. Dieselbe Zeit, die uns die
materialistische Geschichtsbetrachtung gebracht hat, hat uns auch einen Cnrlyle
gegeben, und selbst das Zerrbild einer den Heroen gerecht werdenden Ge¬
schichtsbetrachtung bei Nietzsche hat gegenüber der entgegengesetzten Verzerrung
ihren Wert.

Die geschichtlichen Religionen können jedenfalls ihre Stifter, Helden und
Propheten nicht entbehren. Sie haben alle ihre klassischen Zeiten. Es kann
keine Rede davon sein, daß von ihrem Ursprung her bis heute ein stetiger
Fortschritt stattgefunden habe, sondern ihre Kraft und Gesundheit beruht auf
dem lebendigen Zusammenhang mit ihren Ursprüngen, mit den Personen, die
sie als etwas wirklich Neues in die Welt eingeführt haben. Wird dieser Zu¬
sammenhang nicht gewahrt, so siecht die alte Religion hin, und es erwacht die
Sehnsucht nach einer neuen.

Gerade diesen klassischen Zeiten gegenüber erhebt sich nun aber als scheinbar
todbringender Feind die historische Kritik. Sie ist nichts andres als die mit
allen Mitteln kontrollirte Erkenntnis der Vergangenheit. Wie wir eine solche
Kontrolle heute auf keinem Wissensgebiet entbehren können, so erkennen wir
auch das Recht der kritischen Durchforschung jeder geschichtlichen Überlieferung
rückhaltlos an. Wie nun, wenn die Kritik diese Überlieferung an Punkten
einfach auflöst, wo gerade das ausnehmende Interesse einer geschichtlichen
Religion beginnt? Wie, wenn z. B. Jesus Christus von der kritischen For¬
schung ebenso als Sage oder Mythus erfunden würde, wie ihr das mit der
Gestalt des Wilhelm Tell gelungen ist? Was Hütte das für Folgen für den
Bestand des Christentums und für die Überzeugung des einzelnen gläubigen
Christen?

Vor dieser Frage stehen Tausende in unsrer Zeit, ängstlich und scheu.
Ihr ruhiger ins Auge zu sehen, dazu mag folgende Erwägung helfen. Die
Religion ist jedenfalls gegenüber der Forschung die selbständige, lebendige
Größe. Sie ist, was der lebendige Baum gegenüber der Naturwissenschaft
und ihrer Entwicklungstheorie ist. Ist die Religion wirklich gesund und
lebendig, so wird ihr keine kritische Forschung den Todesstoß geben. Gerät
die Wissenschaft mit dem Pulsirenden Leben in Konflikt, so wird das Leben
immer das Feld behaupten. Die Wissenschaft zehrt vom Leben, nicht um¬
gekehrt. Und die Kritik hat insonderheit dem Lebendigen zu dienen. Sie ist


Religion und Geschichte

gehen waren. Wir wollen heute Kulturgeschichte, Geschichte der herrschenden
Zustände, des Handels und Verkehrs, der Ernährung und Gütererzeugung,
und wollen die Helden auf dem Hintergründe des jeweiligen „Milieu" sehen.
Dennoch bleibt in der Weltgeschichte das Interessante die werdende und sich
entfaltende, unterliegende und sieghafte Menschcnpersönlichkeit. Die Lebens¬
voraussetzungen eines Genius mögen noch so merkwürdig und beziehungsreich
sein, es erklärt sein Aufflammen nicht, sondern der Genius selbst bleibt das
Merkwürdigere, das Wichtige, Vorwärtsbewegcnde. Dieselbe Zeit, die uns die
materialistische Geschichtsbetrachtung gebracht hat, hat uns auch einen Cnrlyle
gegeben, und selbst das Zerrbild einer den Heroen gerecht werdenden Ge¬
schichtsbetrachtung bei Nietzsche hat gegenüber der entgegengesetzten Verzerrung
ihren Wert.

Die geschichtlichen Religionen können jedenfalls ihre Stifter, Helden und
Propheten nicht entbehren. Sie haben alle ihre klassischen Zeiten. Es kann
keine Rede davon sein, daß von ihrem Ursprung her bis heute ein stetiger
Fortschritt stattgefunden habe, sondern ihre Kraft und Gesundheit beruht auf
dem lebendigen Zusammenhang mit ihren Ursprüngen, mit den Personen, die
sie als etwas wirklich Neues in die Welt eingeführt haben. Wird dieser Zu¬
sammenhang nicht gewahrt, so siecht die alte Religion hin, und es erwacht die
Sehnsucht nach einer neuen.

Gerade diesen klassischen Zeiten gegenüber erhebt sich nun aber als scheinbar
todbringender Feind die historische Kritik. Sie ist nichts andres als die mit
allen Mitteln kontrollirte Erkenntnis der Vergangenheit. Wie wir eine solche
Kontrolle heute auf keinem Wissensgebiet entbehren können, so erkennen wir
auch das Recht der kritischen Durchforschung jeder geschichtlichen Überlieferung
rückhaltlos an. Wie nun, wenn die Kritik diese Überlieferung an Punkten
einfach auflöst, wo gerade das ausnehmende Interesse einer geschichtlichen
Religion beginnt? Wie, wenn z. B. Jesus Christus von der kritischen For¬
schung ebenso als Sage oder Mythus erfunden würde, wie ihr das mit der
Gestalt des Wilhelm Tell gelungen ist? Was Hütte das für Folgen für den
Bestand des Christentums und für die Überzeugung des einzelnen gläubigen
Christen?

Vor dieser Frage stehen Tausende in unsrer Zeit, ängstlich und scheu.
Ihr ruhiger ins Auge zu sehen, dazu mag folgende Erwägung helfen. Die
Religion ist jedenfalls gegenüber der Forschung die selbständige, lebendige
Größe. Sie ist, was der lebendige Baum gegenüber der Naturwissenschaft
und ihrer Entwicklungstheorie ist. Ist die Religion wirklich gesund und
lebendig, so wird ihr keine kritische Forschung den Todesstoß geben. Gerät
die Wissenschaft mit dem Pulsirenden Leben in Konflikt, so wird das Leben
immer das Feld behaupten. Die Wissenschaft zehrt vom Leben, nicht um¬
gekehrt. Und die Kritik hat insonderheit dem Lebendigen zu dienen. Sie ist


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0630" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225558"/>
          <fw type="header" place="top"> Religion und Geschichte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1961" prev="#ID_1960"> gehen waren. Wir wollen heute Kulturgeschichte, Geschichte der herrschenden<lb/>
Zustände, des Handels und Verkehrs, der Ernährung und Gütererzeugung,<lb/>
und wollen die Helden auf dem Hintergründe des jeweiligen &#x201E;Milieu" sehen.<lb/>
Dennoch bleibt in der Weltgeschichte das Interessante die werdende und sich<lb/>
entfaltende, unterliegende und sieghafte Menschcnpersönlichkeit. Die Lebens¬<lb/>
voraussetzungen eines Genius mögen noch so merkwürdig und beziehungsreich<lb/>
sein, es erklärt sein Aufflammen nicht, sondern der Genius selbst bleibt das<lb/>
Merkwürdigere, das Wichtige, Vorwärtsbewegcnde. Dieselbe Zeit, die uns die<lb/>
materialistische Geschichtsbetrachtung gebracht hat, hat uns auch einen Cnrlyle<lb/>
gegeben, und selbst das Zerrbild einer den Heroen gerecht werdenden Ge¬<lb/>
schichtsbetrachtung bei Nietzsche hat gegenüber der entgegengesetzten Verzerrung<lb/>
ihren Wert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1962"> Die geschichtlichen Religionen können jedenfalls ihre Stifter, Helden und<lb/>
Propheten nicht entbehren. Sie haben alle ihre klassischen Zeiten. Es kann<lb/>
keine Rede davon sein, daß von ihrem Ursprung her bis heute ein stetiger<lb/>
Fortschritt stattgefunden habe, sondern ihre Kraft und Gesundheit beruht auf<lb/>
dem lebendigen Zusammenhang mit ihren Ursprüngen, mit den Personen, die<lb/>
sie als etwas wirklich Neues in die Welt eingeführt haben. Wird dieser Zu¬<lb/>
sammenhang nicht gewahrt, so siecht die alte Religion hin, und es erwacht die<lb/>
Sehnsucht nach einer neuen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1963"> Gerade diesen klassischen Zeiten gegenüber erhebt sich nun aber als scheinbar<lb/>
todbringender Feind die historische Kritik. Sie ist nichts andres als die mit<lb/>
allen Mitteln kontrollirte Erkenntnis der Vergangenheit. Wie wir eine solche<lb/>
Kontrolle heute auf keinem Wissensgebiet entbehren können, so erkennen wir<lb/>
auch das Recht der kritischen Durchforschung jeder geschichtlichen Überlieferung<lb/>
rückhaltlos an. Wie nun, wenn die Kritik diese Überlieferung an Punkten<lb/>
einfach auflöst, wo gerade das ausnehmende Interesse einer geschichtlichen<lb/>
Religion beginnt? Wie, wenn z. B. Jesus Christus von der kritischen For¬<lb/>
schung ebenso als Sage oder Mythus erfunden würde, wie ihr das mit der<lb/>
Gestalt des Wilhelm Tell gelungen ist? Was Hütte das für Folgen für den<lb/>
Bestand des Christentums und für die Überzeugung des einzelnen gläubigen<lb/>
Christen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1964" next="#ID_1965"> Vor dieser Frage stehen Tausende in unsrer Zeit, ängstlich und scheu.<lb/>
Ihr ruhiger ins Auge zu sehen, dazu mag folgende Erwägung helfen. Die<lb/>
Religion ist jedenfalls gegenüber der Forschung die selbständige, lebendige<lb/>
Größe. Sie ist, was der lebendige Baum gegenüber der Naturwissenschaft<lb/>
und ihrer Entwicklungstheorie ist. Ist die Religion wirklich gesund und<lb/>
lebendig, so wird ihr keine kritische Forschung den Todesstoß geben. Gerät<lb/>
die Wissenschaft mit dem Pulsirenden Leben in Konflikt, so wird das Leben<lb/>
immer das Feld behaupten. Die Wissenschaft zehrt vom Leben, nicht um¬<lb/>
gekehrt.  Und die Kritik hat insonderheit dem Lebendigen zu dienen.  Sie ist</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0630] Religion und Geschichte gehen waren. Wir wollen heute Kulturgeschichte, Geschichte der herrschenden Zustände, des Handels und Verkehrs, der Ernährung und Gütererzeugung, und wollen die Helden auf dem Hintergründe des jeweiligen „Milieu" sehen. Dennoch bleibt in der Weltgeschichte das Interessante die werdende und sich entfaltende, unterliegende und sieghafte Menschcnpersönlichkeit. Die Lebens¬ voraussetzungen eines Genius mögen noch so merkwürdig und beziehungsreich sein, es erklärt sein Aufflammen nicht, sondern der Genius selbst bleibt das Merkwürdigere, das Wichtige, Vorwärtsbewegcnde. Dieselbe Zeit, die uns die materialistische Geschichtsbetrachtung gebracht hat, hat uns auch einen Cnrlyle gegeben, und selbst das Zerrbild einer den Heroen gerecht werdenden Ge¬ schichtsbetrachtung bei Nietzsche hat gegenüber der entgegengesetzten Verzerrung ihren Wert. Die geschichtlichen Religionen können jedenfalls ihre Stifter, Helden und Propheten nicht entbehren. Sie haben alle ihre klassischen Zeiten. Es kann keine Rede davon sein, daß von ihrem Ursprung her bis heute ein stetiger Fortschritt stattgefunden habe, sondern ihre Kraft und Gesundheit beruht auf dem lebendigen Zusammenhang mit ihren Ursprüngen, mit den Personen, die sie als etwas wirklich Neues in die Welt eingeführt haben. Wird dieser Zu¬ sammenhang nicht gewahrt, so siecht die alte Religion hin, und es erwacht die Sehnsucht nach einer neuen. Gerade diesen klassischen Zeiten gegenüber erhebt sich nun aber als scheinbar todbringender Feind die historische Kritik. Sie ist nichts andres als die mit allen Mitteln kontrollirte Erkenntnis der Vergangenheit. Wie wir eine solche Kontrolle heute auf keinem Wissensgebiet entbehren können, so erkennen wir auch das Recht der kritischen Durchforschung jeder geschichtlichen Überlieferung rückhaltlos an. Wie nun, wenn die Kritik diese Überlieferung an Punkten einfach auflöst, wo gerade das ausnehmende Interesse einer geschichtlichen Religion beginnt? Wie, wenn z. B. Jesus Christus von der kritischen For¬ schung ebenso als Sage oder Mythus erfunden würde, wie ihr das mit der Gestalt des Wilhelm Tell gelungen ist? Was Hütte das für Folgen für den Bestand des Christentums und für die Überzeugung des einzelnen gläubigen Christen? Vor dieser Frage stehen Tausende in unsrer Zeit, ängstlich und scheu. Ihr ruhiger ins Auge zu sehen, dazu mag folgende Erwägung helfen. Die Religion ist jedenfalls gegenüber der Forschung die selbständige, lebendige Größe. Sie ist, was der lebendige Baum gegenüber der Naturwissenschaft und ihrer Entwicklungstheorie ist. Ist die Religion wirklich gesund und lebendig, so wird ihr keine kritische Forschung den Todesstoß geben. Gerät die Wissenschaft mit dem Pulsirenden Leben in Konflikt, so wird das Leben immer das Feld behaupten. Die Wissenschaft zehrt vom Leben, nicht um¬ gekehrt. Und die Kritik hat insonderheit dem Lebendigen zu dienen. Sie ist

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/630
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/630>, abgerufen am 23.07.2024.