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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Der Schwund des Ehrgefühls

gurgelnden Wassers nicht in Erstaunen setzen läßt, weil er weiß, wie gerade
das armseligste Rinnsal sich bemüht, in den Stromlauf zu gelangen. Das
gilt von geistiger Größe und noch mehr von sittlicher, es gilt auf allen Ge¬
bieten, in der Politik, in der Wissenschaft und Kunst.

Wirklich große Naturen, im besten Sinne national gesinnte Deutsche,
wahre Menschenfreunde halten sich heutzutage abseits vom öffentlichen Leben,
Männer sowohl wie Frauen. Für ihre Ideale, für ihre Bestrebungen würde
die Masse ja nur das Hohngelächter der vollständigen Begriffs- und Ver-
ständnislosigkeit haben. Es fehlt ihnen nicht an Mut, aber es wäre ja ein
vollständig nutzloses Beginnen, in das trübe, verschlammte Wasser jenes
Stromes jetzt reine Quellen leiten zu wollen. Hier heißt es abwarten.

Überall, wo man hinblickt, in der Litteratur, in einem großen Teil der
Presse, auf den Bühnen unsrer Schauspielhäuser, in öffentlichen Reden, be¬
sonders in solchen, die an die große Masse der Unznfriednen gerichtet sind,
finden wir eine gemeinsame, bis zum Haß gesteigerte Abneigung gegen alles
wirklich Vornehme, Abgesonderte, Hohe, eine fast fieberhafte Sucht, zu ver¬
kleinern, ein planmäßig genährtes Mißtrauen gegen wirkliche Rechtschaffenheit.
Ich verzichte darauf, das mit Beispielen zu belegen. Möge sich jeder selbst
umschauen, und er wird sicher für viele Erscheinungen die richtige Erklärung
finden. Gehört es doch schon in vielen "gebildeten" Kreisen der großen Städte
zum guten Ton, sich für nichts zu begeistern, alles zu "toleriren," keine
scharfen "Antipathien" zu haben und mit cynischen Lächeln über ernste Dinge
hinwegzugleiteu. Bewunderung, Anerkennung von Tugenden oder menschlicher
Größe sind Dinge, die der moderne Pöbel verabscheut, wie der Magenkranke
vor dem Genuß frischen Quellwassers zurückschrickt.

Dieser cmsgesprochne Geist der Verkleinerung ist von der Sozialdemokratie
richtig erkannt worden und wird zweckentsprechend verwertet. Unsrer Zeit und
dem Geschlecht, das darin aufwächst, bar aller Ideale, bar der Vegeistcruugs-
fähigkeit, ohne Zucht, ohne Ehrfurcht, haßerfüllt gegen alles, was Charakter
hat, unfähig, ehrlich zu hassen und zu lieben, ist es schon lange ein Dorn
im Auge, daß sie eine beträchtliche Anzahl von Leuten einhergehen sieht, die
in sittlicher Unantastbarkeit, ohne Gewinnsucht, unbekümmert um das Geschrei
von "Majoritäten," ihre Ideale festhalten, ihre Pflicht thun und von Ehr¬
gefühl sehr seine Begriffe und ganz persönliche Anschauungen haben. Diese
Männer bilden den Kern des deutschen Becuntenstauds, womit nicht gesagt
sein soll, daß nicht auch Leute, die außerhalb dieses Standes stehen, dieselben
Eigenschaften haben könnten. Zu ihnen gehören der Universitätsprofessor und
der Lehrer, der Minister und der Seelsorger, der Richter und der Offizier,
kurz alle die Berufsarten, die thatsächlich den Kern des Bürgertums bilden,
um den sich die Mitglieder der verschiedensten Erwerbszweige gruppiren, teils
dienend, teils sich von ihm geistig leiten lassend. Da sich die Sozialdemokratie


Der Schwund des Ehrgefühls

gurgelnden Wassers nicht in Erstaunen setzen läßt, weil er weiß, wie gerade
das armseligste Rinnsal sich bemüht, in den Stromlauf zu gelangen. Das
gilt von geistiger Größe und noch mehr von sittlicher, es gilt auf allen Ge¬
bieten, in der Politik, in der Wissenschaft und Kunst.

Wirklich große Naturen, im besten Sinne national gesinnte Deutsche,
wahre Menschenfreunde halten sich heutzutage abseits vom öffentlichen Leben,
Männer sowohl wie Frauen. Für ihre Ideale, für ihre Bestrebungen würde
die Masse ja nur das Hohngelächter der vollständigen Begriffs- und Ver-
ständnislosigkeit haben. Es fehlt ihnen nicht an Mut, aber es wäre ja ein
vollständig nutzloses Beginnen, in das trübe, verschlammte Wasser jenes
Stromes jetzt reine Quellen leiten zu wollen. Hier heißt es abwarten.

Überall, wo man hinblickt, in der Litteratur, in einem großen Teil der
Presse, auf den Bühnen unsrer Schauspielhäuser, in öffentlichen Reden, be¬
sonders in solchen, die an die große Masse der Unznfriednen gerichtet sind,
finden wir eine gemeinsame, bis zum Haß gesteigerte Abneigung gegen alles
wirklich Vornehme, Abgesonderte, Hohe, eine fast fieberhafte Sucht, zu ver¬
kleinern, ein planmäßig genährtes Mißtrauen gegen wirkliche Rechtschaffenheit.
Ich verzichte darauf, das mit Beispielen zu belegen. Möge sich jeder selbst
umschauen, und er wird sicher für viele Erscheinungen die richtige Erklärung
finden. Gehört es doch schon in vielen „gebildeten" Kreisen der großen Städte
zum guten Ton, sich für nichts zu begeistern, alles zu „toleriren," keine
scharfen „Antipathien" zu haben und mit cynischen Lächeln über ernste Dinge
hinwegzugleiteu. Bewunderung, Anerkennung von Tugenden oder menschlicher
Größe sind Dinge, die der moderne Pöbel verabscheut, wie der Magenkranke
vor dem Genuß frischen Quellwassers zurückschrickt.

Dieser cmsgesprochne Geist der Verkleinerung ist von der Sozialdemokratie
richtig erkannt worden und wird zweckentsprechend verwertet. Unsrer Zeit und
dem Geschlecht, das darin aufwächst, bar aller Ideale, bar der Vegeistcruugs-
fähigkeit, ohne Zucht, ohne Ehrfurcht, haßerfüllt gegen alles, was Charakter
hat, unfähig, ehrlich zu hassen und zu lieben, ist es schon lange ein Dorn
im Auge, daß sie eine beträchtliche Anzahl von Leuten einhergehen sieht, die
in sittlicher Unantastbarkeit, ohne Gewinnsucht, unbekümmert um das Geschrei
von „Majoritäten," ihre Ideale festhalten, ihre Pflicht thun und von Ehr¬
gefühl sehr seine Begriffe und ganz persönliche Anschauungen haben. Diese
Männer bilden den Kern des deutschen Becuntenstauds, womit nicht gesagt
sein soll, daß nicht auch Leute, die außerhalb dieses Standes stehen, dieselben
Eigenschaften haben könnten. Zu ihnen gehören der Universitätsprofessor und
der Lehrer, der Minister und der Seelsorger, der Richter und der Offizier,
kurz alle die Berufsarten, die thatsächlich den Kern des Bürgertums bilden,
um den sich die Mitglieder der verschiedensten Erwerbszweige gruppiren, teils
dienend, teils sich von ihm geistig leiten lassend. Da sich die Sozialdemokratie


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[0608] Der Schwund des Ehrgefühls gurgelnden Wassers nicht in Erstaunen setzen läßt, weil er weiß, wie gerade das armseligste Rinnsal sich bemüht, in den Stromlauf zu gelangen. Das gilt von geistiger Größe und noch mehr von sittlicher, es gilt auf allen Ge¬ bieten, in der Politik, in der Wissenschaft und Kunst. Wirklich große Naturen, im besten Sinne national gesinnte Deutsche, wahre Menschenfreunde halten sich heutzutage abseits vom öffentlichen Leben, Männer sowohl wie Frauen. Für ihre Ideale, für ihre Bestrebungen würde die Masse ja nur das Hohngelächter der vollständigen Begriffs- und Ver- ständnislosigkeit haben. Es fehlt ihnen nicht an Mut, aber es wäre ja ein vollständig nutzloses Beginnen, in das trübe, verschlammte Wasser jenes Stromes jetzt reine Quellen leiten zu wollen. Hier heißt es abwarten. Überall, wo man hinblickt, in der Litteratur, in einem großen Teil der Presse, auf den Bühnen unsrer Schauspielhäuser, in öffentlichen Reden, be¬ sonders in solchen, die an die große Masse der Unznfriednen gerichtet sind, finden wir eine gemeinsame, bis zum Haß gesteigerte Abneigung gegen alles wirklich Vornehme, Abgesonderte, Hohe, eine fast fieberhafte Sucht, zu ver¬ kleinern, ein planmäßig genährtes Mißtrauen gegen wirkliche Rechtschaffenheit. Ich verzichte darauf, das mit Beispielen zu belegen. Möge sich jeder selbst umschauen, und er wird sicher für viele Erscheinungen die richtige Erklärung finden. Gehört es doch schon in vielen „gebildeten" Kreisen der großen Städte zum guten Ton, sich für nichts zu begeistern, alles zu „toleriren," keine scharfen „Antipathien" zu haben und mit cynischen Lächeln über ernste Dinge hinwegzugleiteu. Bewunderung, Anerkennung von Tugenden oder menschlicher Größe sind Dinge, die der moderne Pöbel verabscheut, wie der Magenkranke vor dem Genuß frischen Quellwassers zurückschrickt. Dieser cmsgesprochne Geist der Verkleinerung ist von der Sozialdemokratie richtig erkannt worden und wird zweckentsprechend verwertet. Unsrer Zeit und dem Geschlecht, das darin aufwächst, bar aller Ideale, bar der Vegeistcruugs- fähigkeit, ohne Zucht, ohne Ehrfurcht, haßerfüllt gegen alles, was Charakter hat, unfähig, ehrlich zu hassen und zu lieben, ist es schon lange ein Dorn im Auge, daß sie eine beträchtliche Anzahl von Leuten einhergehen sieht, die in sittlicher Unantastbarkeit, ohne Gewinnsucht, unbekümmert um das Geschrei von „Majoritäten," ihre Ideale festhalten, ihre Pflicht thun und von Ehr¬ gefühl sehr seine Begriffe und ganz persönliche Anschauungen haben. Diese Männer bilden den Kern des deutschen Becuntenstauds, womit nicht gesagt sein soll, daß nicht auch Leute, die außerhalb dieses Standes stehen, dieselben Eigenschaften haben könnten. Zu ihnen gehören der Universitätsprofessor und der Lehrer, der Minister und der Seelsorger, der Richter und der Offizier, kurz alle die Berufsarten, die thatsächlich den Kern des Bürgertums bilden, um den sich die Mitglieder der verschiedensten Erwerbszweige gruppiren, teils dienend, teils sich von ihm geistig leiten lassend. Da sich die Sozialdemokratie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/608>, abgerufen am 23.07.2024.