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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Der Schwund des Ehrgefühls

ganz erkleckliche Portion persönlicher Feigheit und übertriebner Lebensschätzung
zu verbergen. Wenigstens sollte man sich jeden Mann unter dreißig Jahren,
der solche Anschauungen äußert, erst recht genau betrachten, um zu sehen, ob
man es mit einem Phantasten oder einem Pfiffigen Burschen zu thun habe.
Wir haben seit so und soviel Jahrzehnten die allgemeine Wehrpflicht; jeder
macht sich klar, daß er bei einem Kriege nicht hinterm Ofen sitzen bleiben
kann. Tausende von Hosenbewohnern werden ein unbehagliches Schütteln in
diesem Kleidungsstück nicht los, sobald irgendwo das Wort Krieg erschallt.
Nlso anschreien: "Die Waffen nieder!" Ein Gedanke, den auszusprechen bis
jetzt jeder gesunde Mann, aus Furcht vor Mißdeutungen, Bedenken trug, hat
damit einen anständigen Namen bekommen.

Die Sozialisten, die Zerstörer jeder Individualität, diese Leute, die tierische
Instinkte entfesseln müssen -- denn nur an solchen läßt sich die Mehrheit
gängeln --, die alles begrüßen, was die starke Persönlichkeit vernichtet, reichen
den genannten Kultur- und Friedensfreunden die biedre Rechte, aber sie gehen
noch gründlicher zu Werke. Sie verkünden laut und öffentlich, daß Vater¬
landsliebe ein überwundnes Ideal, eine barbarische Auffassung sei. Und selbst
dem schwach Bewilligten glückt dabei folgendes Selbstgespräch: "Ein großartiger
Einfall! Kein Vaterland! Das nimmt mir eine Unzahl von Pflichten ab:
da brauche ich nicht mehr zu dienen, bin frei vom Maurerhandwerk, kein
Mensch kann verlangen, daß ich mir für solche falsche Ideen meine gesunden
Knochen entzweischießen lasse. Pflichten zu übernehmen ist überhaupt un¬
modern! Wer mir solche abnimmt, ist mein Mann! Wer will mir beweisen,
daß ich nur deshalb Bravo rufe, weil ich im Grunde ein feiger Kerl bin.
Die Leute, die es in die Welt hinausschreien, werden ja nicht einmal rot
dabei!" So ungefähr spielt sich der Gedankengang in Tausenden von deutschen
Gehirnen ab.

Hätten wir keine allgemeine Wehrpflicht, so würden die Führer jener Be¬
wegung nie gewagt habe", diesen Gedanken anzusprechen. Aber sie sind gute
Menschenkenner, sie wissen ganz genau, welche Nutzanwendung die breite Masse
aus der Anbetung des allgemeinen Menschcnbrüdertnms ziehen wird. Sie
untergraben den Ehrbegriff eines ganzen Volkes, sie verpöbeln es in seiner
Mannesehre, denn sie wissen wohl, daß ein Volk ohne Vaterlandsliebe eine
Herde Sklaven bilden muß, die keinen eignen Willen mehr haben. Ich glaube,
ein englischer Sozialist dürfte die Vaterlandsliebe nicht öffentlich schmähen,
und mir ist es nicht erinnerlich, daß französische Sozialisten öffentlich von der
Rednertribüne herab gewagt hätten, diesen Gedanken auszusprechen. Die Fran¬
zosen haben zwar auch die allgemeine Wehrpflicht, und ich glaube, daß es
unter ihnen ebenso viele Hosenschlotterer giebt, wie bei uns trntzigen Germanen,
aber die Hiebe, die sie 1870 bekommen haben, halten das Volksbewußtsein in
diesem Punkte wach, und jede Hoffnung auf Revanche aufzugeben, dafür ist
dort keine Mehrheit zu haben.


Der Schwund des Ehrgefühls

ganz erkleckliche Portion persönlicher Feigheit und übertriebner Lebensschätzung
zu verbergen. Wenigstens sollte man sich jeden Mann unter dreißig Jahren,
der solche Anschauungen äußert, erst recht genau betrachten, um zu sehen, ob
man es mit einem Phantasten oder einem Pfiffigen Burschen zu thun habe.
Wir haben seit so und soviel Jahrzehnten die allgemeine Wehrpflicht; jeder
macht sich klar, daß er bei einem Kriege nicht hinterm Ofen sitzen bleiben
kann. Tausende von Hosenbewohnern werden ein unbehagliches Schütteln in
diesem Kleidungsstück nicht los, sobald irgendwo das Wort Krieg erschallt.
Nlso anschreien: „Die Waffen nieder!" Ein Gedanke, den auszusprechen bis
jetzt jeder gesunde Mann, aus Furcht vor Mißdeutungen, Bedenken trug, hat
damit einen anständigen Namen bekommen.

Die Sozialisten, die Zerstörer jeder Individualität, diese Leute, die tierische
Instinkte entfesseln müssen — denn nur an solchen läßt sich die Mehrheit
gängeln —, die alles begrüßen, was die starke Persönlichkeit vernichtet, reichen
den genannten Kultur- und Friedensfreunden die biedre Rechte, aber sie gehen
noch gründlicher zu Werke. Sie verkünden laut und öffentlich, daß Vater¬
landsliebe ein überwundnes Ideal, eine barbarische Auffassung sei. Und selbst
dem schwach Bewilligten glückt dabei folgendes Selbstgespräch: „Ein großartiger
Einfall! Kein Vaterland! Das nimmt mir eine Unzahl von Pflichten ab:
da brauche ich nicht mehr zu dienen, bin frei vom Maurerhandwerk, kein
Mensch kann verlangen, daß ich mir für solche falsche Ideen meine gesunden
Knochen entzweischießen lasse. Pflichten zu übernehmen ist überhaupt un¬
modern! Wer mir solche abnimmt, ist mein Mann! Wer will mir beweisen,
daß ich nur deshalb Bravo rufe, weil ich im Grunde ein feiger Kerl bin.
Die Leute, die es in die Welt hinausschreien, werden ja nicht einmal rot
dabei!" So ungefähr spielt sich der Gedankengang in Tausenden von deutschen
Gehirnen ab.

Hätten wir keine allgemeine Wehrpflicht, so würden die Führer jener Be¬
wegung nie gewagt habe», diesen Gedanken anzusprechen. Aber sie sind gute
Menschenkenner, sie wissen ganz genau, welche Nutzanwendung die breite Masse
aus der Anbetung des allgemeinen Menschcnbrüdertnms ziehen wird. Sie
untergraben den Ehrbegriff eines ganzen Volkes, sie verpöbeln es in seiner
Mannesehre, denn sie wissen wohl, daß ein Volk ohne Vaterlandsliebe eine
Herde Sklaven bilden muß, die keinen eignen Willen mehr haben. Ich glaube,
ein englischer Sozialist dürfte die Vaterlandsliebe nicht öffentlich schmähen,
und mir ist es nicht erinnerlich, daß französische Sozialisten öffentlich von der
Rednertribüne herab gewagt hätten, diesen Gedanken auszusprechen. Die Fran¬
zosen haben zwar auch die allgemeine Wehrpflicht, und ich glaube, daß es
unter ihnen ebenso viele Hosenschlotterer giebt, wie bei uns trntzigen Germanen,
aber die Hiebe, die sie 1870 bekommen haben, halten das Volksbewußtsein in
diesem Punkte wach, und jede Hoffnung auf Revanche aufzugeben, dafür ist
dort keine Mehrheit zu haben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/605>, abgerufen am 23.07.2024.