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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

des Rades eine in die Augen fallende Marke anbringen, dann die Umdrehungen
des Rades zählen und mit dem Umfange multipliziren. In ähnlicher Weise
sollen auch Seereisen gemessen werden. Es wird vom Schiff aus in das
Wasser ein Schaufelrad gehängt, das durch die Fahrt in drehende Bewegung
gesetzt wird. Wenn man dann den Umfang des Rades mißt, die Zahl der
Umdrehungen zählt und beides mit einander multiplizirt, so erhält man die
Länge des zurückgelegten Wegs.

Nach allem stand aber doch die Technik damals noch auf einem recht
tiefen Standpunkt. So vermessen es sein würde, den Alten Kenntnisse in den
rechnenden Wissenschaften abzusprechen, so reichten diese doch nicht entfernt aus,
technische Aufgaben in unserm Sinne zu lösen, waren wohl auch den Bau¬
meistern nicht bekannt genng, um als Wissenschaft zur Anwendung gebracht
zu werden, so große Künstler auch diese Baumeister oft waren. Ihr technisches
Verdienst bestand eben darin, daß sie sich bei ihren Unternehmungen in mehr
oder weniger erfinderischer Weise mit empirischen Mitteln halfen.

Nicht viel besser war es um die Anwendung der Wissenschaft in der Bau¬
kunst des Mittelalters bestellt; ihr Fortschritt hat sogar vom Altertum bis
zu der Zeit der Renaissance eine große Lücke aufzuweisen.

Die Meister des Mittelalters waren einfache Handwerker, auch wenn sie
die herrlichen Kathedralen der romanischen und gothischen Bauweise schufen,
die die Nachwelt in Stannen versetzen. Was sie ganz in der Weise des Hand¬
werks als Wissenschaft geheimnisvoll in ihren Bauhütten pflegten und auf be¬
vorzugte Schüler vererbten, war nichts weiter als handwerksmäßige Vorschriften,
einen Gewölbstein richtig auszutragen, aus willkürlich gewählten Mittelpunkten
und Radien die Maßwerkfülluugeu der gothischen Fenster zusammenzusetzen und
dergleichen mehr. Wahre Wissenschaft verbirgt sich aber niemals hinter Ge¬
heimnissen. Die geheime Lehre der Bauhütten verhielt sich zu der rechnenden
Wissenschaft unsrer Zeit ungefähr wie der Alchymie zur heutigen Naturwissen¬
schaft und Medizin.

Erst das Zeitalter der Reformation, oder wie man jetzt lieber sagt, die
Renaissance begann den Fortschritt der Wissenschaft für die Technik nutzbar zu
machen. Nun erst bestrebte man sich, die Technik aus der Handwerksroutine
zu befreien und auf wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Namentlich in
Italien, wo die Künstler und Techniker nicht nur aus Haudwerkskreisen hervor¬
gingen, wie in andern Ländern, sing man an, die gewonnenen Kenntnisse
der Wissenschaft auf das Gebiet der Technik und der Kunst zu übertragen.
Ich brauche unter den Baumeistern Italiens nur Alberti und Vasari zu nennen,
die gleichzeitig als Gelehrte thätig waren; ich brauche nur zu erwähnen, daß
es Leonardo da Vinci war, der die Lehre von der Perspektive ergründete und
zur Wissenschaft ausbildete. Und doch waren es wohl erst einzelne Meister,
deren Anschauungsweise sich einer wissenschaftlichen Auffassung näherte. Ich


Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

des Rades eine in die Augen fallende Marke anbringen, dann die Umdrehungen
des Rades zählen und mit dem Umfange multipliziren. In ähnlicher Weise
sollen auch Seereisen gemessen werden. Es wird vom Schiff aus in das
Wasser ein Schaufelrad gehängt, das durch die Fahrt in drehende Bewegung
gesetzt wird. Wenn man dann den Umfang des Rades mißt, die Zahl der
Umdrehungen zählt und beides mit einander multiplizirt, so erhält man die
Länge des zurückgelegten Wegs.

Nach allem stand aber doch die Technik damals noch auf einem recht
tiefen Standpunkt. So vermessen es sein würde, den Alten Kenntnisse in den
rechnenden Wissenschaften abzusprechen, so reichten diese doch nicht entfernt aus,
technische Aufgaben in unserm Sinne zu lösen, waren wohl auch den Bau¬
meistern nicht bekannt genng, um als Wissenschaft zur Anwendung gebracht
zu werden, so große Künstler auch diese Baumeister oft waren. Ihr technisches
Verdienst bestand eben darin, daß sie sich bei ihren Unternehmungen in mehr
oder weniger erfinderischer Weise mit empirischen Mitteln halfen.

Nicht viel besser war es um die Anwendung der Wissenschaft in der Bau¬
kunst des Mittelalters bestellt; ihr Fortschritt hat sogar vom Altertum bis
zu der Zeit der Renaissance eine große Lücke aufzuweisen.

Die Meister des Mittelalters waren einfache Handwerker, auch wenn sie
die herrlichen Kathedralen der romanischen und gothischen Bauweise schufen,
die die Nachwelt in Stannen versetzen. Was sie ganz in der Weise des Hand¬
werks als Wissenschaft geheimnisvoll in ihren Bauhütten pflegten und auf be¬
vorzugte Schüler vererbten, war nichts weiter als handwerksmäßige Vorschriften,
einen Gewölbstein richtig auszutragen, aus willkürlich gewählten Mittelpunkten
und Radien die Maßwerkfülluugeu der gothischen Fenster zusammenzusetzen und
dergleichen mehr. Wahre Wissenschaft verbirgt sich aber niemals hinter Ge¬
heimnissen. Die geheime Lehre der Bauhütten verhielt sich zu der rechnenden
Wissenschaft unsrer Zeit ungefähr wie der Alchymie zur heutigen Naturwissen¬
schaft und Medizin.

Erst das Zeitalter der Reformation, oder wie man jetzt lieber sagt, die
Renaissance begann den Fortschritt der Wissenschaft für die Technik nutzbar zu
machen. Nun erst bestrebte man sich, die Technik aus der Handwerksroutine
zu befreien und auf wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Namentlich in
Italien, wo die Künstler und Techniker nicht nur aus Haudwerkskreisen hervor¬
gingen, wie in andern Ländern, sing man an, die gewonnenen Kenntnisse
der Wissenschaft auf das Gebiet der Technik und der Kunst zu übertragen.
Ich brauche unter den Baumeistern Italiens nur Alberti und Vasari zu nennen,
die gleichzeitig als Gelehrte thätig waren; ich brauche nur zu erwähnen, daß
es Leonardo da Vinci war, der die Lehre von der Perspektive ergründete und
zur Wissenschaft ausbildete. Und doch waren es wohl erst einzelne Meister,
deren Anschauungsweise sich einer wissenschaftlichen Auffassung näherte. Ich


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[0583] Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst des Rades eine in die Augen fallende Marke anbringen, dann die Umdrehungen des Rades zählen und mit dem Umfange multipliziren. In ähnlicher Weise sollen auch Seereisen gemessen werden. Es wird vom Schiff aus in das Wasser ein Schaufelrad gehängt, das durch die Fahrt in drehende Bewegung gesetzt wird. Wenn man dann den Umfang des Rades mißt, die Zahl der Umdrehungen zählt und beides mit einander multiplizirt, so erhält man die Länge des zurückgelegten Wegs. Nach allem stand aber doch die Technik damals noch auf einem recht tiefen Standpunkt. So vermessen es sein würde, den Alten Kenntnisse in den rechnenden Wissenschaften abzusprechen, so reichten diese doch nicht entfernt aus, technische Aufgaben in unserm Sinne zu lösen, waren wohl auch den Bau¬ meistern nicht bekannt genng, um als Wissenschaft zur Anwendung gebracht zu werden, so große Künstler auch diese Baumeister oft waren. Ihr technisches Verdienst bestand eben darin, daß sie sich bei ihren Unternehmungen in mehr oder weniger erfinderischer Weise mit empirischen Mitteln halfen. Nicht viel besser war es um die Anwendung der Wissenschaft in der Bau¬ kunst des Mittelalters bestellt; ihr Fortschritt hat sogar vom Altertum bis zu der Zeit der Renaissance eine große Lücke aufzuweisen. Die Meister des Mittelalters waren einfache Handwerker, auch wenn sie die herrlichen Kathedralen der romanischen und gothischen Bauweise schufen, die die Nachwelt in Stannen versetzen. Was sie ganz in der Weise des Hand¬ werks als Wissenschaft geheimnisvoll in ihren Bauhütten pflegten und auf be¬ vorzugte Schüler vererbten, war nichts weiter als handwerksmäßige Vorschriften, einen Gewölbstein richtig auszutragen, aus willkürlich gewählten Mittelpunkten und Radien die Maßwerkfülluugeu der gothischen Fenster zusammenzusetzen und dergleichen mehr. Wahre Wissenschaft verbirgt sich aber niemals hinter Ge¬ heimnissen. Die geheime Lehre der Bauhütten verhielt sich zu der rechnenden Wissenschaft unsrer Zeit ungefähr wie der Alchymie zur heutigen Naturwissen¬ schaft und Medizin. Erst das Zeitalter der Reformation, oder wie man jetzt lieber sagt, die Renaissance begann den Fortschritt der Wissenschaft für die Technik nutzbar zu machen. Nun erst bestrebte man sich, die Technik aus der Handwerksroutine zu befreien und auf wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Namentlich in Italien, wo die Künstler und Techniker nicht nur aus Haudwerkskreisen hervor¬ gingen, wie in andern Ländern, sing man an, die gewonnenen Kenntnisse der Wissenschaft auf das Gebiet der Technik und der Kunst zu übertragen. Ich brauche unter den Baumeistern Italiens nur Alberti und Vasari zu nennen, die gleichzeitig als Gelehrte thätig waren; ich brauche nur zu erwähnen, daß es Leonardo da Vinci war, der die Lehre von der Perspektive ergründete und zur Wissenschaft ausbildete. Und doch waren es wohl erst einzelne Meister, deren Anschauungsweise sich einer wissenschaftlichen Auffassung näherte. Ich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/583>, abgerufen am 23.07.2024.