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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

würde er nicht entfernt imstande gewesen sein, damit den Ansprüchen zu ge¬
nügen, die heute an jeden Ingenieur gestellt werden.

Über den Standpunkt der technischen Wissenschaften bei den Alten geben
uns ihre Schriften ausführlich Auskunft. Um 500 v. Chr. wird der pytha¬
goreische Lehrsatz entdeckt, um 300 v. Chr. fördern Euklid und die Alexandriner
die Matemathik durch Bereicherung mit verschiednen Lehrsätzen, um 250 v. Chr.
ergründet Archimedes das Gesetz des Hebels, des Kens, der verdrängten
Wassermenge, erfindet den Flaschenzug u. a. in. Ob aber alle diese Kenntnisse
damals von den Technikern in vollem Umfange nutzbar gemacht wurden, muß
dahingestellt bleiben. Was von einem Baumeister aus der Zeit Cäsars ver¬
langt wurde, berichtet uns Vitruv: er hat uns in seinem Buche von der Bau¬
kunst ein wahres Examenregister darüber hinterlassen. Der Baumeister soll
nicht nur Theoretiker, sondern auch Praktiker sein, um nicht nur entwerfen,
sondern auch seinen Gedanken dem Arbeiter begreiflich machen zu können. Er
soll ferner littsiAtus sein, xeriws Arapluoes, sruäiws gsoinstrili, oxti<zg8 non
iguarus, inLtruczws aritulU6tie.it, llistorms oompIursL uoverit, xlülosoxllos clili-
Zsutsr g-iMvörit,, musicum seivsrit, msäieiug.s 11011 sit iMg-ruf, rvspousii
M'is vousultorum uovsrit, Ä8dro1ogiog.u^ (zosliezus rMouss <zossuit>38 lig-vsat.
So erhebend alle diese Anforderungen für das Bewußtsein eines heutigen Bau¬
meisters klingen mögen, so niederschlagend wirkt es, wenn man die Gründe
dafür liest: der Architekt soll Geometrie verstehen, um auf der Baustelle den
Grundriß anlegen zu können; bei uns verlangt man das vom Polier. Er
soll in der Optik Bescheid wissen, um ein Gebäude nach den Himmelslichtern
richten, der Arithmetik kundig, um die Kosten berechnen zu können. Er soll
die Geschichte kennen, um erzählen zu können, wie die Frauen der Stadt Caryä
von den Athenern in die Sklaverei geschleppt und zum Andenken an dieses
Ereignis weibliche Statuen als Säulen unter Tempelgebälke gestellt worden
seien. Er soll Philosoph sein, um -- nicht von Unternehmern Geschenke an¬
zunehmen; Musiker, um beim Laden der Ballisten an dein Klänge der Spcmu-
taue die Gleichmäßigkeit der Spannung beurteilen zu können; Rechtskundiger,
um Streitigkeiten schlichten, Mediziner, um gesunde Baustellen wählen. Astrolog,
um das Horoskop stellen zu können. Es könnte einem schwül bei alledem
werden; doch ist die Auffassung Vitruvs, der die erforderlichen Kenntnisse
eines römischen Baumeisters vollständig besaß, eben bezeichnend für die Stellung
eines solchen gegenüber der Wissenschaft; und was die Bautechnik zu seiner
Zeit leistete, geht aus seinem Buche, das dein Imperator Cäsar gewidmet ist,
zur Genüge hervor. Bezeichnend für seinen Standpunkt gegenüber der Mathe¬
matik ist es, wenn er dem Imperator ausführlich auseinandersetzt, was ein
Kubus sei. An Meßinstrumenten erwähnt Vitruv die Wasserwage, die er ein¬
gehend beschreibt. Die Maschinen, d. h. Hilssmaschinen, teilt er ein in Hebe¬
maschinen, Zugmaschinen und Windmaschinen. Unter den Hebemaschinen be-


Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

würde er nicht entfernt imstande gewesen sein, damit den Ansprüchen zu ge¬
nügen, die heute an jeden Ingenieur gestellt werden.

Über den Standpunkt der technischen Wissenschaften bei den Alten geben
uns ihre Schriften ausführlich Auskunft. Um 500 v. Chr. wird der pytha¬
goreische Lehrsatz entdeckt, um 300 v. Chr. fördern Euklid und die Alexandriner
die Matemathik durch Bereicherung mit verschiednen Lehrsätzen, um 250 v. Chr.
ergründet Archimedes das Gesetz des Hebels, des Kens, der verdrängten
Wassermenge, erfindet den Flaschenzug u. a. in. Ob aber alle diese Kenntnisse
damals von den Technikern in vollem Umfange nutzbar gemacht wurden, muß
dahingestellt bleiben. Was von einem Baumeister aus der Zeit Cäsars ver¬
langt wurde, berichtet uns Vitruv: er hat uns in seinem Buche von der Bau¬
kunst ein wahres Examenregister darüber hinterlassen. Der Baumeister soll
nicht nur Theoretiker, sondern auch Praktiker sein, um nicht nur entwerfen,
sondern auch seinen Gedanken dem Arbeiter begreiflich machen zu können. Er
soll ferner littsiAtus sein, xeriws Arapluoes, sruäiws gsoinstrili, oxti<zg8 non
iguarus, inLtruczws aritulU6tie.it, llistorms oompIursL uoverit, xlülosoxllos clili-
Zsutsr g-iMvörit,, musicum seivsrit, msäieiug.s 11011 sit iMg-ruf, rvspousii
M'is vousultorum uovsrit, Ä8dro1ogiog.u^ (zosliezus rMouss <zossuit>38 lig-vsat.
So erhebend alle diese Anforderungen für das Bewußtsein eines heutigen Bau¬
meisters klingen mögen, so niederschlagend wirkt es, wenn man die Gründe
dafür liest: der Architekt soll Geometrie verstehen, um auf der Baustelle den
Grundriß anlegen zu können; bei uns verlangt man das vom Polier. Er
soll in der Optik Bescheid wissen, um ein Gebäude nach den Himmelslichtern
richten, der Arithmetik kundig, um die Kosten berechnen zu können. Er soll
die Geschichte kennen, um erzählen zu können, wie die Frauen der Stadt Caryä
von den Athenern in die Sklaverei geschleppt und zum Andenken an dieses
Ereignis weibliche Statuen als Säulen unter Tempelgebälke gestellt worden
seien. Er soll Philosoph sein, um — nicht von Unternehmern Geschenke an¬
zunehmen; Musiker, um beim Laden der Ballisten an dein Klänge der Spcmu-
taue die Gleichmäßigkeit der Spannung beurteilen zu können; Rechtskundiger,
um Streitigkeiten schlichten, Mediziner, um gesunde Baustellen wählen. Astrolog,
um das Horoskop stellen zu können. Es könnte einem schwül bei alledem
werden; doch ist die Auffassung Vitruvs, der die erforderlichen Kenntnisse
eines römischen Baumeisters vollständig besaß, eben bezeichnend für die Stellung
eines solchen gegenüber der Wissenschaft; und was die Bautechnik zu seiner
Zeit leistete, geht aus seinem Buche, das dein Imperator Cäsar gewidmet ist,
zur Genüge hervor. Bezeichnend für seinen Standpunkt gegenüber der Mathe¬
matik ist es, wenn er dem Imperator ausführlich auseinandersetzt, was ein
Kubus sei. An Meßinstrumenten erwähnt Vitruv die Wasserwage, die er ein¬
gehend beschreibt. Die Maschinen, d. h. Hilssmaschinen, teilt er ein in Hebe¬
maschinen, Zugmaschinen und Windmaschinen. Unter den Hebemaschinen be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/581>, abgerufen am 23.07.2024.