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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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wendigen Korrelation mit einander; ein kleiner Magen fordert einen Nachen,
der ihm Fleischnahrung zuzuführen vermag, und da sich ein großes Tier nur
durch Tötung andrer, entsprechend großer Tiere Fleisch verschaffen kann, so
muß es leise gehende Sohlen zum Veschleicheu und muskulöse Beine zum Be-
springen der Beutetiere haben. Andrerseits erfordern Kauwerkzeuge, die für
Gras eingerichtet sind, einen umfangreichen Verdauungsapparat zur Aufnahme
und Bewältigung großer Massen dieses wenig konzentrirten Nahrungsmittels.
Wie schön hat Goethe in der "Metamorphose der Tiere" die Wechselbeziehung
zwischen Gehirn und Gebiß dargestellt und das Lebensgesetz ausgesprochen,
nach dem sich der tierische Organismus unter den Einflüssen der Außenwelt
aufbaut! Dergleichen Wechselbeziehungen drängen sich von selbst auf, und
man versteht auch, wie, Magen-, Kau-und Gehwerkzeuge als schon vorhanden
vorausgesetzt, uicht allein jede solche Eigentümlichkeit durch Naturzüchtung
verstärkt werden kann, sondern auch die Verstärkung einer jeden die aller ent¬
sprechenden zur Folge haben muß. Aber Pigmentansammlung an einer Haut¬
stelle bedeutet der Erfahrung nach keineswegs eine solche Harmonicstörung im
Organismus, daß sie andre Änderungen, zunächst weitere Pigmentausammlnngen
an entsprechenden Stellen, hervorrufen müßte. Ein rotes oder braunes Mal
auf der linken Wange fordert keins auf der rechten, und noch weniger weitere
Malpaare auf den übrigen Leibabschnitten, die den Ringen der Raupe ent¬
sprechen; auch giebt es ja viele ganz unregelmäßig gefleckte Tiere. Und warum
hat Weismann nicht lieber statt der Entstehung der Raupenfärbung die der
weit ausfälligern und schönern Färbung und Zeichnung der Schmetterlinge
untersucht? Von diesen sagt er selbst (Studien I, 5 bis 6), daß Schutz-
sarben nur auf der Unterseite ihrer Flügel einen Sinn haben, weil sie sich
nur sitzend, mit aufgeklappten Flügeln, einigermaßen verbergen können, flatternd
aber auf jeden Fall gesehen werden. Nun tragen sie aber ihre farbigen und
schönen Zeichnungen gerade auf der Oberseite. Wie soll man sich also diesen
Schmuck entstanden denken? Bleibt da nicht die teleologische Erklärungsweise
die einfachste und natürlichste? Die Natur hat den Zweck, den Menschenseelen
die Entstehung zu ermöglichen und gleichzeitig sie mit einem Inhalt zu erfülle"
(die Ansammlung dieses Inhalts ist eben die Entstehung der Menschenseele).
Zum Seeleninhalt gehören einerseits die ästhetischen Empfindungen, weshalb
die Naturgestalten mannichfaltig und vorwiegend schön sein müssen, andrerseits
die Erforschung und Erkenntnis des ursächlichen Zusammenhangs der Er¬
scheinungen. Beiden Zwecken dienen die Schmetterlinge in hohem Grade,
indem sie einerseits eine Fülle von Schönheit darbieten und dem Menschen
vielleicht die erste Anregung zum Ormmentenzeichnen gegeben haben, andrer¬
seits eben durch ihre wunderbare Gestalt und Schönheit und den noch wunder¬
barem Ablauf ihres Lebens in drei, eigentlich vier von einander so grund-
verschiednen Entwicklungsstufen den Menschen zum Nachdenken und Forschen


wendigen Korrelation mit einander; ein kleiner Magen fordert einen Nachen,
der ihm Fleischnahrung zuzuführen vermag, und da sich ein großes Tier nur
durch Tötung andrer, entsprechend großer Tiere Fleisch verschaffen kann, so
muß es leise gehende Sohlen zum Veschleicheu und muskulöse Beine zum Be-
springen der Beutetiere haben. Andrerseits erfordern Kauwerkzeuge, die für
Gras eingerichtet sind, einen umfangreichen Verdauungsapparat zur Aufnahme
und Bewältigung großer Massen dieses wenig konzentrirten Nahrungsmittels.
Wie schön hat Goethe in der „Metamorphose der Tiere" die Wechselbeziehung
zwischen Gehirn und Gebiß dargestellt und das Lebensgesetz ausgesprochen,
nach dem sich der tierische Organismus unter den Einflüssen der Außenwelt
aufbaut! Dergleichen Wechselbeziehungen drängen sich von selbst auf, und
man versteht auch, wie, Magen-, Kau-und Gehwerkzeuge als schon vorhanden
vorausgesetzt, uicht allein jede solche Eigentümlichkeit durch Naturzüchtung
verstärkt werden kann, sondern auch die Verstärkung einer jeden die aller ent¬
sprechenden zur Folge haben muß. Aber Pigmentansammlung an einer Haut¬
stelle bedeutet der Erfahrung nach keineswegs eine solche Harmonicstörung im
Organismus, daß sie andre Änderungen, zunächst weitere Pigmentausammlnngen
an entsprechenden Stellen, hervorrufen müßte. Ein rotes oder braunes Mal
auf der linken Wange fordert keins auf der rechten, und noch weniger weitere
Malpaare auf den übrigen Leibabschnitten, die den Ringen der Raupe ent¬
sprechen; auch giebt es ja viele ganz unregelmäßig gefleckte Tiere. Und warum
hat Weismann nicht lieber statt der Entstehung der Raupenfärbung die der
weit ausfälligern und schönern Färbung und Zeichnung der Schmetterlinge
untersucht? Von diesen sagt er selbst (Studien I, 5 bis 6), daß Schutz-
sarben nur auf der Unterseite ihrer Flügel einen Sinn haben, weil sie sich
nur sitzend, mit aufgeklappten Flügeln, einigermaßen verbergen können, flatternd
aber auf jeden Fall gesehen werden. Nun tragen sie aber ihre farbigen und
schönen Zeichnungen gerade auf der Oberseite. Wie soll man sich also diesen
Schmuck entstanden denken? Bleibt da nicht die teleologische Erklärungsweise
die einfachste und natürlichste? Die Natur hat den Zweck, den Menschenseelen
die Entstehung zu ermöglichen und gleichzeitig sie mit einem Inhalt zu erfülle«
(die Ansammlung dieses Inhalts ist eben die Entstehung der Menschenseele).
Zum Seeleninhalt gehören einerseits die ästhetischen Empfindungen, weshalb
die Naturgestalten mannichfaltig und vorwiegend schön sein müssen, andrerseits
die Erforschung und Erkenntnis des ursächlichen Zusammenhangs der Er¬
scheinungen. Beiden Zwecken dienen die Schmetterlinge in hohem Grade,
indem sie einerseits eine Fülle von Schönheit darbieten und dem Menschen
vielleicht die erste Anregung zum Ormmentenzeichnen gegeben haben, andrer¬
seits eben durch ihre wunderbare Gestalt und Schönheit und den noch wunder¬
barem Ablauf ihres Lebens in drei, eigentlich vier von einander so grund-
verschiednen Entwicklungsstufen den Menschen zum Nachdenken und Forschen


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[0568] wendigen Korrelation mit einander; ein kleiner Magen fordert einen Nachen, der ihm Fleischnahrung zuzuführen vermag, und da sich ein großes Tier nur durch Tötung andrer, entsprechend großer Tiere Fleisch verschaffen kann, so muß es leise gehende Sohlen zum Veschleicheu und muskulöse Beine zum Be- springen der Beutetiere haben. Andrerseits erfordern Kauwerkzeuge, die für Gras eingerichtet sind, einen umfangreichen Verdauungsapparat zur Aufnahme und Bewältigung großer Massen dieses wenig konzentrirten Nahrungsmittels. Wie schön hat Goethe in der „Metamorphose der Tiere" die Wechselbeziehung zwischen Gehirn und Gebiß dargestellt und das Lebensgesetz ausgesprochen, nach dem sich der tierische Organismus unter den Einflüssen der Außenwelt aufbaut! Dergleichen Wechselbeziehungen drängen sich von selbst auf, und man versteht auch, wie, Magen-, Kau-und Gehwerkzeuge als schon vorhanden vorausgesetzt, uicht allein jede solche Eigentümlichkeit durch Naturzüchtung verstärkt werden kann, sondern auch die Verstärkung einer jeden die aller ent¬ sprechenden zur Folge haben muß. Aber Pigmentansammlung an einer Haut¬ stelle bedeutet der Erfahrung nach keineswegs eine solche Harmonicstörung im Organismus, daß sie andre Änderungen, zunächst weitere Pigmentausammlnngen an entsprechenden Stellen, hervorrufen müßte. Ein rotes oder braunes Mal auf der linken Wange fordert keins auf der rechten, und noch weniger weitere Malpaare auf den übrigen Leibabschnitten, die den Ringen der Raupe ent¬ sprechen; auch giebt es ja viele ganz unregelmäßig gefleckte Tiere. Und warum hat Weismann nicht lieber statt der Entstehung der Raupenfärbung die der weit ausfälligern und schönern Färbung und Zeichnung der Schmetterlinge untersucht? Von diesen sagt er selbst (Studien I, 5 bis 6), daß Schutz- sarben nur auf der Unterseite ihrer Flügel einen Sinn haben, weil sie sich nur sitzend, mit aufgeklappten Flügeln, einigermaßen verbergen können, flatternd aber auf jeden Fall gesehen werden. Nun tragen sie aber ihre farbigen und schönen Zeichnungen gerade auf der Oberseite. Wie soll man sich also diesen Schmuck entstanden denken? Bleibt da nicht die teleologische Erklärungsweise die einfachste und natürlichste? Die Natur hat den Zweck, den Menschenseelen die Entstehung zu ermöglichen und gleichzeitig sie mit einem Inhalt zu erfülle« (die Ansammlung dieses Inhalts ist eben die Entstehung der Menschenseele). Zum Seeleninhalt gehören einerseits die ästhetischen Empfindungen, weshalb die Naturgestalten mannichfaltig und vorwiegend schön sein müssen, andrerseits die Erforschung und Erkenntnis des ursächlichen Zusammenhangs der Er¬ scheinungen. Beiden Zwecken dienen die Schmetterlinge in hohem Grade, indem sie einerseits eine Fülle von Schönheit darbieten und dem Menschen vielleicht die erste Anregung zum Ormmentenzeichnen gegeben haben, andrer¬ seits eben durch ihre wunderbare Gestalt und Schönheit und den noch wunder¬ barem Ablauf ihres Lebens in drei, eigentlich vier von einander so grund- verschiednen Entwicklungsstufen den Menschen zum Nachdenken und Forschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/568>, abgerufen am 23.07.2024.