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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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vom Neudarwinismus

oder war es nicht vielmehr eine Reihenfolge von geologischen Katastrophen?*)
Hätten diese nicht die Ungeheuer der Vorwelt vernichtet, so würde den höhern
Tieren ihre Klugheit gar nichts genützt haben, sie wären allesamt von jenen
dummen Scheusalen aufgefressen worden. Ebenso wenig würde den heutigen
Tieren ihre Klugheit wider geologische Katastrophen etwas nützen. Was hilft
denn sogar menschlicher Verstand bei einem kleinen Erdbeben? Wer nicht
wegläuft, der ist verloren; und bräche die ganze Erdrinde zusammen, so ginge
eben die ganze Menschheit zu Grunde. Nicht also in den Keimzellen kann die
Klugheit liegen; sie muß wo anders gesucht werden, bei der den Weltprozeß
leitenden Intelligenz, die sich darin gefallen hat, zuerst mit abenteuerlichen und
ungeheuerlichen Gestalten zu spielen, dann diese zu vernichten und Raum zu
schaffen für den Menschen und für eine Tier- und Pflanzenwelt, die zu seinem
Dienste eingerichtet ist, und die er zu bewältigen und zu beherrschen im¬
stande ist.

In den Aufsätzen über Darwin und Buckle haben wir erwähnt, welche
Verlegenheit dem großen Naturforscher die Fälle bereiteten, wo sehr auffällige
Eigenschaften der Tiere, namentlich schöne Färbung und Zeichnung, sowie
gewisse andre Verzierungen, die auf einen ästhetischen Zweck hinweisen, sich
schlechterdings nicht aus der Zuchtwahl erklären lassen, weil sie zum Fort¬
kommen nichts nützen und unter Umständen sogar schädlich sind, wie der
Hauptschmuck des Hirsches, die prachtvollen langen Schwanzfedern der Pfauen
und Paradiesvögel, die schönen Zeichnungen ans den Flügeln der Schmetter¬
linge; namentlich die höchst merkwürdigen arithmetischen Gesetze, nach denen
die Abstände spiralig angeordneter Stengclblätter bemessen sind, haben ihn rein
zur Verzweiflung gebracht, denn gerade solche arithmetische Eigentümlichkeiten
gehören zum Artcharakter, tragen aber zum bessern Fortkommen der Pflanze
schlechterdings nichts bei. Wir wissen nicht, ob schon jemand versucht hat,
solche biologisch gleichgültige Altersunterschiede der Pflanzen biologisch zu er¬
klären. Die auffälligen Zierden von Tieren wollte Darwin bekanntlich von
der geschlechtlichen Zuchtwahl herleiten, allein die Annahme, daß Hirsch¬
weibchen das Geweih, Pfauhennen das Rad des Gemahls und Schmetterlinge
die regelmüßige und schönfarbige Zeichnung der Flügel im Laufe der Jahr¬
tausende durch beharrliche Auswahl des schönsten unter den Bewerbern hervor¬
gebracht hätten, ist so abgeschmackt, daß es nicht lohnt, noch einmal auf diesen
Unsinn einzugehen. Weismann glaubt durch langjähriges Studium der Raupen
der Sache auf den Grund gekommen zu sein. Bei dieser Tierklasfe konnte die



*) Auch wenn man mit Luell statt der plötzlichen Katastrophen langsam sich vollziehende
Umwandlungen annimmt, ändert das nichts an der Thatsache, daß eS nicht das Unterliegen im
Wettbewerb mit klugem Tieren, sondern die Umgestaltung der Oberfläche der Erde gewesen ist,
was die Ungeheuer der Vorzeit vernichtet hat.
vom Neudarwinismus

oder war es nicht vielmehr eine Reihenfolge von geologischen Katastrophen?*)
Hätten diese nicht die Ungeheuer der Vorwelt vernichtet, so würde den höhern
Tieren ihre Klugheit gar nichts genützt haben, sie wären allesamt von jenen
dummen Scheusalen aufgefressen worden. Ebenso wenig würde den heutigen
Tieren ihre Klugheit wider geologische Katastrophen etwas nützen. Was hilft
denn sogar menschlicher Verstand bei einem kleinen Erdbeben? Wer nicht
wegläuft, der ist verloren; und bräche die ganze Erdrinde zusammen, so ginge
eben die ganze Menschheit zu Grunde. Nicht also in den Keimzellen kann die
Klugheit liegen; sie muß wo anders gesucht werden, bei der den Weltprozeß
leitenden Intelligenz, die sich darin gefallen hat, zuerst mit abenteuerlichen und
ungeheuerlichen Gestalten zu spielen, dann diese zu vernichten und Raum zu
schaffen für den Menschen und für eine Tier- und Pflanzenwelt, die zu seinem
Dienste eingerichtet ist, und die er zu bewältigen und zu beherrschen im¬
stande ist.

In den Aufsätzen über Darwin und Buckle haben wir erwähnt, welche
Verlegenheit dem großen Naturforscher die Fälle bereiteten, wo sehr auffällige
Eigenschaften der Tiere, namentlich schöne Färbung und Zeichnung, sowie
gewisse andre Verzierungen, die auf einen ästhetischen Zweck hinweisen, sich
schlechterdings nicht aus der Zuchtwahl erklären lassen, weil sie zum Fort¬
kommen nichts nützen und unter Umständen sogar schädlich sind, wie der
Hauptschmuck des Hirsches, die prachtvollen langen Schwanzfedern der Pfauen
und Paradiesvögel, die schönen Zeichnungen ans den Flügeln der Schmetter¬
linge; namentlich die höchst merkwürdigen arithmetischen Gesetze, nach denen
die Abstände spiralig angeordneter Stengclblätter bemessen sind, haben ihn rein
zur Verzweiflung gebracht, denn gerade solche arithmetische Eigentümlichkeiten
gehören zum Artcharakter, tragen aber zum bessern Fortkommen der Pflanze
schlechterdings nichts bei. Wir wissen nicht, ob schon jemand versucht hat,
solche biologisch gleichgültige Altersunterschiede der Pflanzen biologisch zu er¬
klären. Die auffälligen Zierden von Tieren wollte Darwin bekanntlich von
der geschlechtlichen Zuchtwahl herleiten, allein die Annahme, daß Hirsch¬
weibchen das Geweih, Pfauhennen das Rad des Gemahls und Schmetterlinge
die regelmüßige und schönfarbige Zeichnung der Flügel im Laufe der Jahr¬
tausende durch beharrliche Auswahl des schönsten unter den Bewerbern hervor¬
gebracht hätten, ist so abgeschmackt, daß es nicht lohnt, noch einmal auf diesen
Unsinn einzugehen. Weismann glaubt durch langjähriges Studium der Raupen
der Sache auf den Grund gekommen zu sein. Bei dieser Tierklasfe konnte die



*) Auch wenn man mit Luell statt der plötzlichen Katastrophen langsam sich vollziehende
Umwandlungen annimmt, ändert das nichts an der Thatsache, daß eS nicht das Unterliegen im
Wettbewerb mit klugem Tieren, sondern die Umgestaltung der Oberfläche der Erde gewesen ist,
was die Ungeheuer der Vorzeit vernichtet hat.
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[0565] vom Neudarwinismus oder war es nicht vielmehr eine Reihenfolge von geologischen Katastrophen?*) Hätten diese nicht die Ungeheuer der Vorwelt vernichtet, so würde den höhern Tieren ihre Klugheit gar nichts genützt haben, sie wären allesamt von jenen dummen Scheusalen aufgefressen worden. Ebenso wenig würde den heutigen Tieren ihre Klugheit wider geologische Katastrophen etwas nützen. Was hilft denn sogar menschlicher Verstand bei einem kleinen Erdbeben? Wer nicht wegläuft, der ist verloren; und bräche die ganze Erdrinde zusammen, so ginge eben die ganze Menschheit zu Grunde. Nicht also in den Keimzellen kann die Klugheit liegen; sie muß wo anders gesucht werden, bei der den Weltprozeß leitenden Intelligenz, die sich darin gefallen hat, zuerst mit abenteuerlichen und ungeheuerlichen Gestalten zu spielen, dann diese zu vernichten und Raum zu schaffen für den Menschen und für eine Tier- und Pflanzenwelt, die zu seinem Dienste eingerichtet ist, und die er zu bewältigen und zu beherrschen im¬ stande ist. In den Aufsätzen über Darwin und Buckle haben wir erwähnt, welche Verlegenheit dem großen Naturforscher die Fälle bereiteten, wo sehr auffällige Eigenschaften der Tiere, namentlich schöne Färbung und Zeichnung, sowie gewisse andre Verzierungen, die auf einen ästhetischen Zweck hinweisen, sich schlechterdings nicht aus der Zuchtwahl erklären lassen, weil sie zum Fort¬ kommen nichts nützen und unter Umständen sogar schädlich sind, wie der Hauptschmuck des Hirsches, die prachtvollen langen Schwanzfedern der Pfauen und Paradiesvögel, die schönen Zeichnungen ans den Flügeln der Schmetter¬ linge; namentlich die höchst merkwürdigen arithmetischen Gesetze, nach denen die Abstände spiralig angeordneter Stengclblätter bemessen sind, haben ihn rein zur Verzweiflung gebracht, denn gerade solche arithmetische Eigentümlichkeiten gehören zum Artcharakter, tragen aber zum bessern Fortkommen der Pflanze schlechterdings nichts bei. Wir wissen nicht, ob schon jemand versucht hat, solche biologisch gleichgültige Altersunterschiede der Pflanzen biologisch zu er¬ klären. Die auffälligen Zierden von Tieren wollte Darwin bekanntlich von der geschlechtlichen Zuchtwahl herleiten, allein die Annahme, daß Hirsch¬ weibchen das Geweih, Pfauhennen das Rad des Gemahls und Schmetterlinge die regelmüßige und schönfarbige Zeichnung der Flügel im Laufe der Jahr¬ tausende durch beharrliche Auswahl des schönsten unter den Bewerbern hervor¬ gebracht hätten, ist so abgeschmackt, daß es nicht lohnt, noch einmal auf diesen Unsinn einzugehen. Weismann glaubt durch langjähriges Studium der Raupen der Sache auf den Grund gekommen zu sein. Bei dieser Tierklasfe konnte die *) Auch wenn man mit Luell statt der plötzlichen Katastrophen langsam sich vollziehende Umwandlungen annimmt, ändert das nichts an der Thatsache, daß eS nicht das Unterliegen im Wettbewerb mit klugem Tieren, sondern die Umgestaltung der Oberfläche der Erde gewesen ist, was die Ungeheuer der Vorzeit vernichtet hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/565>, abgerufen am 23.07.2024.